Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • ISBN-13: 9783518076118
  • Artikelnr.: 24445015
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2010

Nachdenken über das vergangene Leben

Ein Außenseiter von Anfang an, mit dem die akademische Welt ihre Schwierigkeiten hat: Siegfried Kracauers unvollendet gebliebenes Buch über die Geschichte in einer neuen kommentierten Ausgabe.

Ein Außenseiter macht sich bemerkbar", so lautete der Titel jener Rezension, mit der Walter Benjamin 1930 "Die Angestellten" präsentierte, das Buch seines Kollegen und guten Bekannten Siegfried Kracauer. Seither wird Kracauer im Umkreis der zur "Frankfurter Schule" geadelten "Kritischen Theorie" gesehen, zu Nutz und Schaden gleichermaßen. Nach Krieg und Emigration war es Adorno, der die Schriften des Emigranten Kracauer zurück nach Deutschland brachte, doch zugleich prägte er eine - von Benjamin begonnene - Lesart, die dem eigentümlichen Denken und Schreiben seines Jugendfreundes in Teilen sehr kritisch gegenüberstand, in anderen sie im Sinne eigener Intentionen interpretierte.

Gerecht wurde die Frankfurter Lesart dem ganzen Kracauer nie. Benjamin nannte Kracauer einen "Lumpensammler, frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages", und es ist so bezeichnend wie eigentümlich, dass die erste große Monographie, die der französische Germanist Olivier Agard unter dem Titel "Kracauer, le chiffonnier mélancolique" jetzt vorlegt, die Benjaminsche Formel, wenn auch unter Verlust der zeittypischen Revolutionsromantik, umstandslos wiederaufnimmt. Agards ansonsten ausgezeichnete Studie stellt Kracauer damit im Sinne des modernen Mythos als den "melancholischen Lumpensammler" dar, als den vielleicht Benjamin sich selbst sah, der aber gewiss nicht Kracauers Selbstverständnis entsprach.

Das seltsamste Schicksal war Kracauers letztem Buch beschieden, der unvollendeten, englisch geschriebenen Untersuchung "Geschichte - Vor den letzten Dingen", die 1969 im Original und 1971 auf Deutsch erschien, postum und nahezu ohne Wirkung. Wohl kaum kann man sich auch einen schlechteren Zeitpunkt vorstellen. In den späten sechziger und siebziger Jahren feierte das geschichtsphilosophische Denken seine größten post-hegelianischen Triumphe, wofür die intensiven Debatten über Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" nur ein Beispiel sind. Das Vertrauen in die analytischen und politischen Kräfte der Geschichtsphilosophie war gerade in jenem Milieu noch fast ungebrochen, in dem nun der "frankfurterisch" gelesene Kracauer mit seiner ersten, ungeheuer verdienstvollen Werkausgabe im Suhrkamp Verlag erschien - in unmittelbarer Nachbarschaft von Adorno, Benjamin, Bloch und ihren Freunden.

Aber welches Buch hätte konträrer zu diesen Nachbarn stehen können als Kracauers skeptische Befragung von Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie? In einer Zeit, da die politisch verstandene Geschichtlichkeit als utopische Zukunftskraft zu gelten hatte, konnte die Frage, ob und wie Geschichte überhaupt beschreibbar, erzählbar, verstehbar sei, nur als antiquierte Scholastik gelten. So ist bis heute nicht klar geworden, was Kracauers Buch eigentlich ist: eine überaus geistreiche und intellektuell vollkommen unabhängige Reflexion zum geschichtlichen Bewusstsein.

Kracauer wendet sich sowohl gegen die Naivität des Historiographen, der glaubt, umstandslos erzählen zu können, "wie es denn gewesen sei", wie auch gegen die nicht kleinere des Philosophen, der die "Gesetze" des Weltlaufs herauspräparieren will. Dagegen versucht Kracauer, Geschichte - und das heißt: vergangene Welt, vergangene Zeit, vergangenes Leben, vergangenes Geschehen - als einen jener Bereiche zu fassen, "die noch eines Namens ermangeln und folglich übersehen und falsch beurteilt werden". Geschichte ist ein "Zwischenbereich", denn schon was ihr Gegenstand eigentlich sei, all das Vergangene, entzieht sich vollkommen einer wissenschaftlich präzisen Definition. Es passt zu Kracauers unorthodoxem Denken, dass er - neben Klassikern wie Hegel, Burckhardt, Croce, aber auch bereits Blumenberg und Koselleck - vor allem literarische Autoren zu Rate zieht, die sich dem Phänomen und Problem des Zeitvergehens gewidmet haben: Proust und Joyce und vielen anderen. Und gewiss ist Kracauer einer der ganz wenigen Historiker, denen die Reflexionen des Historikers Tolstoi in seinem Epos "Krieg und Frieden" eine ernsthafte Überlegung wert sind.

Kracauers Geschichtsbuch liegt jetzt endlich in der zweiten, kommentierten Werkausgabe vor; Karsten Wittes sehr haltbare Übersetzung von 1971 wurde noch einmal durchgesehen und hier und da präzisiert; das überaus umfangreiche Nachwort enthält fast alles (und auch einiges mehr), was man zu Entstehungsgeschichte und Hintergründen des Werkes wissen muss. Ein heiteres Gegengewicht bieten dazu die Stellenkommentare der Herausgeberinnen, da sie offenbar unter der neuzeitlichen Arbeitshypothese eines Lesers verfasst wurden, der zwar eine hochgelehrte Studie zur Historiographie erwirbt, aber ansonsten mit seinen Kenntnissen kaum Volkshochschulniveau erreicht.

Es ist hübsch, wenn in einem solchen Buch Begriffe wie "Historismus" oder "Marx' Basis-Überbau-Theorie" oder "Pariser Commune" als erklärungsbedürftig gelten; ins Surreale führen dann aber Schnellsteinführungen à la "Pascal trug in seinem Leben und in seinen Schriften den Konflikt zwischen Politik und Wissenschaft einerseits und religiöser Hingabe und Weltflucht andererseits aus". Oder weltliterarische Kurse in Pillenform. Sterne: "Vorläufer des modernen epischen Romans (J. Joyce, V. Woolfe)"; Joyce: "wendet die Technik des sogenannten ,inneren Monologs' an"; Woolfe: "arbeitete ähnlich wie Joyce mit der Technik des ,inneren Monologs'"; Proust: "entwickelt die zukunftweisende Technik des inneren Monologs". Nun, wenn's der akademischen Wahrheitsfindung dient . . .

Schwierigkeiten hatte die akademische Welt mit Kracauer allemal. Es ist hochinteressant, noch einmal das im Anhang abgedruckte Protokoll einer der legendären Sitzungen der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" nachzulesen, auf der Kracauer 1966 das Kapitel "Time and History" vorstellte. Nicht nur rechtfertigt mancher Diskussionsbeitrag das Adjektiv "legendär" in durchaus doppeldeutigem Sinne; vor allem zeigen auch die hochklassigen Stellungnahmen deutlich, in welch seltsame Konstellation Kracauer im Deutschland der sechziger Jahre geraten war: Er stieß wohl auf große Sympathie, auf wirkliches Verständnis aber nicht und blieb auch bei seiner Wiederentdeckung nach dem Krieg der wissenschaftliche und intellektuelle Außenseiter, der er bereits in der Weimarer Republik gewesen war.

Man könnte hoffen, dass nach dem Ende des posthegelianischen und postmarxistischen Geschichtsglaubens Kracauers skeptische, nüchterne, aber eben auch so realistische Reflexionen über Geschichte in der Neuausgabe nun endlich zum richtigen Zeitpunkt kommen. Dann hätte sich der Außenseiter im dritten Anlauf endlich doch bemerkbar gemacht. Aber wahrscheinlich ist auch das schon wieder allzu viel an Geschichtsoptimismus.

WOLFGANG MATZ

Siegfried Kracauer: "Geschichte - Vor den letzten Dingen". Werke in neun Bänden, Bd. 4. Hrsg. von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2009. 654 S., geb., 78,- [Euro].

Olivier Agard: "Kracauer, le chiffonnier mélancolique". CNRS Éditions, Paris 2010. 391 S., geb., 28,- [Euro].

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