Das Gefängnis ist eine Institution, die unsere Gesellschaft herausfordert: Die Haft beschneidet die persönliche Freiheit, das höchste Gut in der Demokratie. Die Historikerin Annelie Ramsbrock erzählt, wie der westdeutsche Staat nach 1945 das Dilemma zu lösen versuchte: Das Gefängnis sollte künftig nicht nur Strafe sein. Es sollte die Straftäter resozialisieren.
Wie in einem Labor versuchte man, die Ideale der sich demokratisierenden Bundesrepublik auch im Gefängnis zu vermitteln. Der Strafvollzug sollte liberalisiert werden, mit Arbeit und Ausbildung, Kunstaktionen und Sportveranstaltungen, Gruppentherapien und Wohngemeinschaften. Das Leben in Freiheit so weit wie möglich zu imitieren gelang aber nicht. Und so verläuft die Geschichte des Gefängnisses und des reformierten Strafvollzugs zwar parallel mit der Geschichte der Demokratisierung nach 1945 bis in die 1980er Jahre - und ist dennoch eine andere.
Das Gefängnis blieb ein ganz eigener Ort, in dem Menschen aufengstem Raum streng reguliert zusammenleben - eine geschlossene Gesellschaft. Annelie Ramsbrock beschreibt diese Gesellschaft aus der Nahsicht und fragt am Ende, warum eine Resozialisierung im Sozialversuch Gefängnis nicht gelingen kann.
Ausgezeichnet mit dem Richard-Schmid-Preis des Forums Justizgeschichte 2022.
Wie in einem Labor versuchte man, die Ideale der sich demokratisierenden Bundesrepublik auch im Gefängnis zu vermitteln. Der Strafvollzug sollte liberalisiert werden, mit Arbeit und Ausbildung, Kunstaktionen und Sportveranstaltungen, Gruppentherapien und Wohngemeinschaften. Das Leben in Freiheit so weit wie möglich zu imitieren gelang aber nicht. Und so verläuft die Geschichte des Gefängnisses und des reformierten Strafvollzugs zwar parallel mit der Geschichte der Demokratisierung nach 1945 bis in die 1980er Jahre - und ist dennoch eine andere.
Das Gefängnis blieb ein ganz eigener Ort, in dem Menschen aufengstem Raum streng reguliert zusammenleben - eine geschlossene Gesellschaft. Annelie Ramsbrock beschreibt diese Gesellschaft aus der Nahsicht und fragt am Ende, warum eine Resozialisierung im Sozialversuch Gefängnis nicht gelingen kann.
Ausgezeichnet mit dem Richard-Schmid-Preis des Forums Justizgeschichte 2022.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Wenig Helles aber viel Erhellendes hat Rezensent Kevin Hanschke hier gefunden in der "akribischen Rekonstruktion" jener Zeit, da auch der bundesrepublikanische Knast vom gesellschaftlichen Aufbruch der 1968er erfasst wurde. Ist es überhaupt möglich, den Anspruch des Grundgesetzes auf Menschenwürde mit dem Strafvollzug zu vereinbaren? Das sei die Ausgangsfrage dieser Arbeit. Es hat den Kritiker erschreckt zu lesen, wie autoritär und gewalttätig es in der 1950er Jahren in den Gefängnissen noch zuging, und es hat ihn entmutigt zu erfahren, wie wenig daran mit einer gewissen naiven Reform-Pädagogik in jenen Jahren geändert wurde. Dies mit "aller Schärfe" vor Augen gebracht zu haben, ist das Verdienst dieses Buches, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2020Grundgesetz im Knast
Das Gefängnis ist ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändert: Die Historikerin Annelie Ramsbrock erzählt die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik
Im "Lichtblick", der Gefängniszeitschrift der größten deutschen Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, erscheint 1972 ein Artikel, der sich kritisch mit der Situation der Häftlinge auseinandersetzt und dabei die Systemfrage stellt: Ist der deutsche Strafvollzug überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar? "Der Einschluss in die Strafanstalt", heißt es dort, "annulliert die menschliche Existenz des Gefangenen und verleiht ihm eine befristete Scheinexistenz in einer Scheinwelt."
Der Satz taucht jetzt in einem Buch wieder auf, das die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik erzählt und dabei die Frage nach dem Verhältnis des Strafvollzugs zur Demokratie weiter zuspitzt. Die Göttinger Historikerin Annelie Ramsbrock hat Akten aus den Archiven der Gefängnisse studiert, Häftlingszeitungen gelesen und Zeitzeugen getroffen, um vor allem die Jahre 1960 bis 1985 zu rekonstruieren. In dieser Zeit hielt der Resozialisierungsbegriff Einzug in die deutsche Debatte; nach dem Vorbild der Kriminalsoziologie in den Vereinigten Staaten beschäftigte man sich vermehrt mit den Möglichkeiten, Straftäter wieder in die demokratische Gesellschaft einzugliedern. Doch das Resümee von Ramsbrocks Buch "Geschlossene Gesellschaft" ist ernüchternd: Der Versuch, das Grundgesetz in der Eigenwelt der Justizvollzugsanstalten zur Geltung zu bringen, sei in vielerlei Hinsicht gescheitert.
Warum ist das so? Eines der Kernprobleme sieht Ramsbrock darin, dass das Gefängnis eine "totale Institution" sei. Mit dem von dem Soziologen Erving Goffman entwickelten Begriff stellt sie das Gefängnis als ein geschlossenes System dar, in dem die Insassen sich an Normen und Autoritäten (dem Aufsichtspersonal) orientieren, die von denen der Gesellschaft draußen sehr abweichen. Ramsbrocks Zeugenberichte machen den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einer Erziehung der Gefangenen zu Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft und der autoritären Übermacht des Gefängnisses als Institution deutlich. So beklagten Berliner Häftlinge 1968 gegenüber dem "Lichtblick" nicht nur die triste Atmosphäre und die Monotonie der Tagesabläufe; sie beschrieben vor allem die schleichende Gewöhnung an das Gefängnismilieu, die das Bild von der Außenwelt immer abstrakter werden lässt: "Die administrative Struktur ist so ausgeklügelt bürokratisiert, dass sich der Gefangene wie ein schmutziges Wäschestück in der Mangel vorkommen muss."
Die Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt, der Verlust von Gewohnheiten, die Rollenmuster und die Anpassung an die Regeln der Gefängnisgesellschaft macht Ramsbrock mit dafür verantwortlich, dass in deutschen Gefängnissen bis heute Gewalt, kriminelles Verhalten und Rückfälle weit verbreitet sind. Das Gefängnis sei ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändere.
Dies liege auch am oft problematischen Verhältnis zwischen Aufsichtspersonal und Gefangenen. Besonders in der Anfangsphase des bundesdeutschen Justizvollzugs seien häufig gewalttätige Exzesse gegenüber Gefangenen vorgekommen. Im Kölner Gefängnis Klingelpütz wurden in den Sechzigern Häftlinge gefoltert und missbraucht; zwei von ihnen starben an den Folgen. Erst ein Artikel im Kölner "Express" machte die Fälle 1965 publik.
Auch bei der "freiheitsähnlichen Ausgestaltung der Gefangenenarbeit" gab es Versäumnisse. Ramsbrock zeigt, wie bis in die Achtziger Arrest und verschlechterte Haftbedingungen folgten, wenn sich Gefangene der Arbeit verweigerten. Der Übergang vom Be- zum Entlohnungssystem, die Einführung tatsächlicher Gehälter für die Arbeit im Gefängnis, ist in Deutschland bis heute nicht vollständig vollzogen.
Skeptisch beurteilt Ramsbrock auch die Freizeit- und Kulturprogramme. Eine soziologische Abhandlung aus den späten Fünfzigern, die als Reformgrundlage der Innenministerien genutzt wurde, gab das Leitbild aus, dass der Insasse zu einem "echten, eigengesetzlichen Freizeitverhalten" erzogen werden soll. Doch viele Maßnahmen provozierten eher Gegenwehr, wie eine Reaktion auf die Musiktherapie in einer süddeutschen JVA in den Siebzigern zeigt: "Es wurde uns nun erklärt, dass dies eigentlich gar kein Musikunterricht sein soll, sondern Musiktherapie, Händchen anfassen, Kreis bilden, Reigen machen; lachhaft und unter jeder Manneswürde." Ein düsteres Kapitel stellen die fehlende psychologische Betreuung von Gefangenen und der problematische Umgang mit Pädophilen dar; selbst in der Reformperiode wurden sie noch zur chemischen Kastration gedrängt.
Der Berichtszeitraum ihrer Untersuchung, schreibt Ramsbrock, sei der Höhepunkt des reformerischen Aufbruchs im Strafvollzug gewesen. Seither sei auf diesem Gebiet erst recht nicht mehr viel passiert. Jeder zweite ehemalige Gefängnisinsasse wird während der ersten neun Jahren in Freiheit rückfällig. Eine einfache Lösung, auch das macht das Buch deutlich, ist nicht in Sicht. Die akribische Rekonstruktion dieses Teils der bundesrepublikanischen Geschichte bringt das unaufgelöste Paradox des Gefängnisses im demokratischen Staat aber wieder in aller Schärfe ins Bewusstsein.
KEVIN HANSCHKE
Annelie Ramsbrock: "Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch - eine bundesdeutsche Geschichte". Verlag S. Fischer, 416 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Gefängnis ist ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändert: Die Historikerin Annelie Ramsbrock erzählt die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik
Im "Lichtblick", der Gefängniszeitschrift der größten deutschen Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, erscheint 1972 ein Artikel, der sich kritisch mit der Situation der Häftlinge auseinandersetzt und dabei die Systemfrage stellt: Ist der deutsche Strafvollzug überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar? "Der Einschluss in die Strafanstalt", heißt es dort, "annulliert die menschliche Existenz des Gefangenen und verleiht ihm eine befristete Scheinexistenz in einer Scheinwelt."
Der Satz taucht jetzt in einem Buch wieder auf, das die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik erzählt und dabei die Frage nach dem Verhältnis des Strafvollzugs zur Demokratie weiter zuspitzt. Die Göttinger Historikerin Annelie Ramsbrock hat Akten aus den Archiven der Gefängnisse studiert, Häftlingszeitungen gelesen und Zeitzeugen getroffen, um vor allem die Jahre 1960 bis 1985 zu rekonstruieren. In dieser Zeit hielt der Resozialisierungsbegriff Einzug in die deutsche Debatte; nach dem Vorbild der Kriminalsoziologie in den Vereinigten Staaten beschäftigte man sich vermehrt mit den Möglichkeiten, Straftäter wieder in die demokratische Gesellschaft einzugliedern. Doch das Resümee von Ramsbrocks Buch "Geschlossene Gesellschaft" ist ernüchternd: Der Versuch, das Grundgesetz in der Eigenwelt der Justizvollzugsanstalten zur Geltung zu bringen, sei in vielerlei Hinsicht gescheitert.
Warum ist das so? Eines der Kernprobleme sieht Ramsbrock darin, dass das Gefängnis eine "totale Institution" sei. Mit dem von dem Soziologen Erving Goffman entwickelten Begriff stellt sie das Gefängnis als ein geschlossenes System dar, in dem die Insassen sich an Normen und Autoritäten (dem Aufsichtspersonal) orientieren, die von denen der Gesellschaft draußen sehr abweichen. Ramsbrocks Zeugenberichte machen den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einer Erziehung der Gefangenen zu Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft und der autoritären Übermacht des Gefängnisses als Institution deutlich. So beklagten Berliner Häftlinge 1968 gegenüber dem "Lichtblick" nicht nur die triste Atmosphäre und die Monotonie der Tagesabläufe; sie beschrieben vor allem die schleichende Gewöhnung an das Gefängnismilieu, die das Bild von der Außenwelt immer abstrakter werden lässt: "Die administrative Struktur ist so ausgeklügelt bürokratisiert, dass sich der Gefangene wie ein schmutziges Wäschestück in der Mangel vorkommen muss."
Die Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt, der Verlust von Gewohnheiten, die Rollenmuster und die Anpassung an die Regeln der Gefängnisgesellschaft macht Ramsbrock mit dafür verantwortlich, dass in deutschen Gefängnissen bis heute Gewalt, kriminelles Verhalten und Rückfälle weit verbreitet sind. Das Gefängnis sei ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändere.
Dies liege auch am oft problematischen Verhältnis zwischen Aufsichtspersonal und Gefangenen. Besonders in der Anfangsphase des bundesdeutschen Justizvollzugs seien häufig gewalttätige Exzesse gegenüber Gefangenen vorgekommen. Im Kölner Gefängnis Klingelpütz wurden in den Sechzigern Häftlinge gefoltert und missbraucht; zwei von ihnen starben an den Folgen. Erst ein Artikel im Kölner "Express" machte die Fälle 1965 publik.
Auch bei der "freiheitsähnlichen Ausgestaltung der Gefangenenarbeit" gab es Versäumnisse. Ramsbrock zeigt, wie bis in die Achtziger Arrest und verschlechterte Haftbedingungen folgten, wenn sich Gefangene der Arbeit verweigerten. Der Übergang vom Be- zum Entlohnungssystem, die Einführung tatsächlicher Gehälter für die Arbeit im Gefängnis, ist in Deutschland bis heute nicht vollständig vollzogen.
Skeptisch beurteilt Ramsbrock auch die Freizeit- und Kulturprogramme. Eine soziologische Abhandlung aus den späten Fünfzigern, die als Reformgrundlage der Innenministerien genutzt wurde, gab das Leitbild aus, dass der Insasse zu einem "echten, eigengesetzlichen Freizeitverhalten" erzogen werden soll. Doch viele Maßnahmen provozierten eher Gegenwehr, wie eine Reaktion auf die Musiktherapie in einer süddeutschen JVA in den Siebzigern zeigt: "Es wurde uns nun erklärt, dass dies eigentlich gar kein Musikunterricht sein soll, sondern Musiktherapie, Händchen anfassen, Kreis bilden, Reigen machen; lachhaft und unter jeder Manneswürde." Ein düsteres Kapitel stellen die fehlende psychologische Betreuung von Gefangenen und der problematische Umgang mit Pädophilen dar; selbst in der Reformperiode wurden sie noch zur chemischen Kastration gedrängt.
Der Berichtszeitraum ihrer Untersuchung, schreibt Ramsbrock, sei der Höhepunkt des reformerischen Aufbruchs im Strafvollzug gewesen. Seither sei auf diesem Gebiet erst recht nicht mehr viel passiert. Jeder zweite ehemalige Gefängnisinsasse wird während der ersten neun Jahren in Freiheit rückfällig. Eine einfache Lösung, auch das macht das Buch deutlich, ist nicht in Sicht. Die akribische Rekonstruktion dieses Teils der bundesrepublikanischen Geschichte bringt das unaufgelöste Paradox des Gefängnisses im demokratischen Staat aber wieder in aller Schärfe ins Bewusstsein.
KEVIN HANSCHKE
Annelie Ramsbrock: "Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch - eine bundesdeutsche Geschichte". Verlag S. Fischer, 416 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
eine sehr gut lesbare, akribisch recherchierte, detail- und quellenreiche Habilitationsschrift zur Geschichte des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und zum Resozialisierungsparadigma im Besonderen. Soziopolis.de 20210201