Abgeschnitten von der westlichen Moderne, die ihm nur vom Hörensagen bekannt war, hat Andrej Bitow Anfang der sechziger Jahre den stream of consciousness für die russische Literatur neu erfunden. Die unerwartete Frische und Kühnheit dieses Verfahrens bezeugt die jetzt erstmals ins Deutsche übersetzte Novelle Geschmack: ein Eindruck wie beim Hören alter Coltrane-Platten.
Der Bauingenieur Alexej Monachow, ein melancholischer Durchschnittsbürger, sitzt im Zug von Leningrad nach Moskau. Das Pulsieren der Landschaft vor dem Fenster, das Gefühl, daß sein Leben nichts Neues mehr bringen wird, Neues schlechthin niemals sein wird, plötzliche Eingebungen, aufblitzende Ahnungen, gleich wieder fortgerissen wie Treibgut im Bewußtseinsstrom - so jagt der arme Held durch die wenigen Tage, die wir mit ihm erleben: in der Datschengegend Peredelkino, am Grab Pasternaks, bei der Beerdigung einer alten Verwandten.
Monachow ist ein Suchender, ein Mensch, für den die Kluft zwischen Rolle undau-thentischem Sein immer tiefer wird. Der »letzte lebendige Sinn, der ihm noch zur Verfügung steht« ist ein Geschmack im Mund - eklig, aber unabweisbar, die Gewißheit, in der äußersten Selbstentfremdung sich selbst noch nah zu sein. Monachows Pirogge am Bahnhofsbüfett hat nicht weniger metaphysische Würde als die Madeleine, die Marcel Proust eine Menschheitsepoche früher in eine Tasse Lindenblütentee tauchte.
Der Bauingenieur Alexej Monachow, ein melancholischer Durchschnittsbürger, sitzt im Zug von Leningrad nach Moskau. Das Pulsieren der Landschaft vor dem Fenster, das Gefühl, daß sein Leben nichts Neues mehr bringen wird, Neues schlechthin niemals sein wird, plötzliche Eingebungen, aufblitzende Ahnungen, gleich wieder fortgerissen wie Treibgut im Bewußtseinsstrom - so jagt der arme Held durch die wenigen Tage, die wir mit ihm erleben: in der Datschengegend Peredelkino, am Grab Pasternaks, bei der Beerdigung einer alten Verwandten.
Monachow ist ein Suchender, ein Mensch, für den die Kluft zwischen Rolle undau-thentischem Sein immer tiefer wird. Der »letzte lebendige Sinn, der ihm noch zur Verfügung steht« ist ein Geschmack im Mund - eklig, aber unabweisbar, die Gewißheit, in der äußersten Selbstentfremdung sich selbst noch nah zu sein. Monachows Pirogge am Bahnhofsbüfett hat nicht weniger metaphysische Würde als die Madeleine, die Marcel Proust eine Menschheitsepoche früher in eine Tasse Lindenblütentee tauchte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2004Ein russischer Dorian Gray
Sprachmusik: Andrej Bitows Endzeitnovelle "Geschmack"
Der Welt die poetischen Wahrheiten entreißen kann man als Plastiker, indem man die sprachlichen Dinge bis zur Kenntlichkeit deformiert. Oder als Musiker, indem man die Sprache abklopft wie ein Arzt, bis sie ihre Geheimnisse heraushusten muß, wie Elfriede Jelinek ihre schöpferische Methode beschrieben hat. Jede Sprache hat ihre eigene Musikalität. Das Russische liebt drängende Wellenbewegung mehr als feste Strukturen, weshalb der Musiker hier sich dem sprachlichen Strom anvertrauen kann, dessen Gezeiten ihm, wenn man nur aufmerksam zuhört, die Sedimente des Verdrängten selbst herbeitragen.
Ein Meister der sprachmusikalisch-psychologischen Diagnose ist Andrej Bitow, dessen Prosa scheinbar widerstandslos über die Untiefen normaler Lebenslügen hinwegrinnt und mit ihrem Wellenmuster zugleich das Bodenrelief nachzeichnet, weshalb man ihn als russischen James Joyce bezeichnet hat. Bitows Lebensthema ist der russische Mann ohne Eigenschaften, jener Meister der klugen Anpassung, der mit zunehmendem Lebenserfolg immer leerer wird. Der Autor widmete der Figur einen "Roman mit Auslassungen", der als "Die Rolle" vor einem Vierteljahrhundert auf deutsch erschien - allerdings ohne das Finalstück, das etwa gleichzeitig entstand. Es wird nun vom Suhrkamp Verlag nachgereicht, als eigenständiges Büchlein mit dem beziehungsreichen Titel "Geschmack".
Der Text wirkt ebenso zeitlos frisch wie sein Ich-Held, der sich aus Liebesverwicklungen unbeschädigt erhebt, als sei er Dorian Gray. Der Leser taucht ein in eine Abschiedsszene mit der alternden Geliebten. Der wogende Puls seiner inneren Rede- und Widerredefetzen, den Rosemarie Tietze kongenial in ein deutsches Sprachkunstwerk verwandelt hat, vergegenwärtigt, wie ein verfeinerter Geist über die schnöde Welt samt einer qualvoll vergehenden Liebe hingleiten kann wie auf einem Wasserfilm. Der von monach, dem russischen Wort für Mönch, abgeleitete Name der Figur, Monachow, deutet an, daß ihre Bindungsflucht und ihr Freiheitsstreben eine abgesunkene Form des mönchischen Reinheitsideals enthalten. Aber wer dem Gärungskessel derart elegant entkommt, bezahlt dafür mit Realitätsverlust.
Auf seiner Lebensweiterreise mit der Eisenbahn, beim Arbeitsurlaub im Schriftstellerdorf Peredelkino, begegnen dem Helden Personen, Szenen, Gedanken, die sich verdoppeln und vervielfachen. In dem Mädchen, das er noch im Zug kennenlernt, erblickt er seine jung gewordene Ex-Frau, deren Biographie er ohne alle Entdeckerfreude errät. An diesem "Reim" des Lebens, der den Dingen zugleich ihre Detailschärfe nimmt, erkennt Bitows Geschöpf, daß sein eigenes Verfallsdatum überschritten sein muß. Allein der urig distanzlose Geschmackssinn kettet das Bewußtsein an die physische Gegenwart durch den zähen Nachgeschmack einer ordinären Fleischtasche. Für Bitows schicksalslose Intellektuellenexistenz zerreißt nicht der Majaschleier der Erscheinungen, sondern er leiert aus wie ein alterndes Stück Stoff. Der Tod verschmäht den Helden und holt statt seiner weibliche Angehörige. Beim Begräbnis der Großmutter erlebt Monachow, dessen letzte Kommunion mit der Welt der Geschmacksnerv herstellt, wie alte Frauen zu Engeln werden, während im eigenen Inneren Höllendämpfe aufsteigen. Das Ewigweibliche läßt ihn zurück. Schade, daß die meisten deutschen Leser die Prosa-Symphonie nicht kennen können, die in dieser Schlußcoda ausläuft.
Andrej Bitow: "Geschmack". Novelle. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 84 S., br., 14,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachmusik: Andrej Bitows Endzeitnovelle "Geschmack"
Der Welt die poetischen Wahrheiten entreißen kann man als Plastiker, indem man die sprachlichen Dinge bis zur Kenntlichkeit deformiert. Oder als Musiker, indem man die Sprache abklopft wie ein Arzt, bis sie ihre Geheimnisse heraushusten muß, wie Elfriede Jelinek ihre schöpferische Methode beschrieben hat. Jede Sprache hat ihre eigene Musikalität. Das Russische liebt drängende Wellenbewegung mehr als feste Strukturen, weshalb der Musiker hier sich dem sprachlichen Strom anvertrauen kann, dessen Gezeiten ihm, wenn man nur aufmerksam zuhört, die Sedimente des Verdrängten selbst herbeitragen.
Ein Meister der sprachmusikalisch-psychologischen Diagnose ist Andrej Bitow, dessen Prosa scheinbar widerstandslos über die Untiefen normaler Lebenslügen hinwegrinnt und mit ihrem Wellenmuster zugleich das Bodenrelief nachzeichnet, weshalb man ihn als russischen James Joyce bezeichnet hat. Bitows Lebensthema ist der russische Mann ohne Eigenschaften, jener Meister der klugen Anpassung, der mit zunehmendem Lebenserfolg immer leerer wird. Der Autor widmete der Figur einen "Roman mit Auslassungen", der als "Die Rolle" vor einem Vierteljahrhundert auf deutsch erschien - allerdings ohne das Finalstück, das etwa gleichzeitig entstand. Es wird nun vom Suhrkamp Verlag nachgereicht, als eigenständiges Büchlein mit dem beziehungsreichen Titel "Geschmack".
Der Text wirkt ebenso zeitlos frisch wie sein Ich-Held, der sich aus Liebesverwicklungen unbeschädigt erhebt, als sei er Dorian Gray. Der Leser taucht ein in eine Abschiedsszene mit der alternden Geliebten. Der wogende Puls seiner inneren Rede- und Widerredefetzen, den Rosemarie Tietze kongenial in ein deutsches Sprachkunstwerk verwandelt hat, vergegenwärtigt, wie ein verfeinerter Geist über die schnöde Welt samt einer qualvoll vergehenden Liebe hingleiten kann wie auf einem Wasserfilm. Der von monach, dem russischen Wort für Mönch, abgeleitete Name der Figur, Monachow, deutet an, daß ihre Bindungsflucht und ihr Freiheitsstreben eine abgesunkene Form des mönchischen Reinheitsideals enthalten. Aber wer dem Gärungskessel derart elegant entkommt, bezahlt dafür mit Realitätsverlust.
Auf seiner Lebensweiterreise mit der Eisenbahn, beim Arbeitsurlaub im Schriftstellerdorf Peredelkino, begegnen dem Helden Personen, Szenen, Gedanken, die sich verdoppeln und vervielfachen. In dem Mädchen, das er noch im Zug kennenlernt, erblickt er seine jung gewordene Ex-Frau, deren Biographie er ohne alle Entdeckerfreude errät. An diesem "Reim" des Lebens, der den Dingen zugleich ihre Detailschärfe nimmt, erkennt Bitows Geschöpf, daß sein eigenes Verfallsdatum überschritten sein muß. Allein der urig distanzlose Geschmackssinn kettet das Bewußtsein an die physische Gegenwart durch den zähen Nachgeschmack einer ordinären Fleischtasche. Für Bitows schicksalslose Intellektuellenexistenz zerreißt nicht der Majaschleier der Erscheinungen, sondern er leiert aus wie ein alterndes Stück Stoff. Der Tod verschmäht den Helden und holt statt seiner weibliche Angehörige. Beim Begräbnis der Großmutter erlebt Monachow, dessen letzte Kommunion mit der Welt der Geschmacksnerv herstellt, wie alte Frauen zu Engeln werden, während im eigenen Inneren Höllendämpfe aufsteigen. Das Ewigweibliche läßt ihn zurück. Schade, daß die meisten deutschen Leser die Prosa-Symphonie nicht kennen können, die in dieser Schlußcoda ausläuft.
Andrej Bitow: "Geschmack". Novelle. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 84 S., br., 14,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Über die Bedeutung Andrej Bitows lässt sich nach Ansicht Christoph Kellers nicht groß diskutieren: Für ihn ist der Autor schlicht "Russlands bester Stilist". Dies bestätigt sich für ihn auch in der Novelle "Geschmack", der letzten von vier Episoden um den Bauingenieur Monachow, die auf Russisch schon 1976 als Roman erschienen sind. In dieser letzten Episode gehe es "handfest um den Tod" und um die Vergänglichkeit des Menschen. Das Buch wurde "kongenial" ins Deutsche übertragen, lobt Keller die Übersetzerin Rosemarie Tietze. Bedauerlich sei allein, dass man darauf verzichtet habe, den Roman im Ganzen auf Deutsch herauszubringen, wie dies in Russland geschehen sei. Das Fazit des Rezensenten zum Werk Bitows selbst fällt dementsprechend überschwänglich aus: "Prosa vom Feinsten, leise Einsichten, die wir benötigen, Bücher eines raren Meisters."
© Perlentaucher Medien GmbH
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