Dieses Buch tritt all denen entgegen, die den Europadiskursauf ein finanzpolitisches Problem reduzieren wollen. OskarNegt gibt sich nicht mit dem Blick auf Währungskurse zufrieden.Er blickt auf Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschenin Europa. Was er da sieht, ist weit beunruhigender alsBörsenentwicklungen es je sein könnten. Er sieht eine Kluftzwischen Reichen und Armen, zwischen politisch Mächtigenund politisch Ruhiggestellten. Er sieht Menschen, die vom Arbeitsmarktzur Flexibilität gezwungen werden und, aus ihrenBindungen gerissen, von allen solidarischen Zusammenhängenabgekoppelt leben. Und er sieht eine Bildungspolitik, diesich nur noch um die Qualifikation für den Arbeitsmarkt kümmert,nicht jedoch um politische Urteilskraft.Kinderarmut, Bildungsnotstand, Entdemokratisierung - überall dies ist bereits geschrieben und gesprochen worden. Wiejedoch Oskar Negt diese einzelnen politischen Handlungsfelderauf europäischer Ebene zusammendenkt, das machtneues Verständnis möglich, darin liegt eine Lernprovokation.Und um das Lernen geht es Oskar Negt immer. Ob Politiker,alleinerziehende Mutter oder Protestierer in Gorleben - fürjeden verständlich, macht er deutlich, worum es in Europageht: um den Erhalt eines friedensfähigen und solidarischenGemeinwesens.Oskar Negt, geboren 1934, ist einer der bedeutendsten SozialwissenschaftlerDeutschlands. Er studierte bei Max Horkheimerund Theodor W. Adorno und war von 1970 bis 2002Professor für Soziologie in Hannover. 2011 wurde Oskar Negtfür sein politisches Engagement mit dem August-Bebel-Preisgeehrt. Sein Werk erscheint im Steidl Verlag, darunter Arbeitund menschliche Würde, Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche und Der politische Mensch.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Oskar Negt bezeichnet sein Buch "Gesellschaftsentwurf Europa" selbst als Streitschrift, berichtet Christian Thomas. Es geht ihm darin um das Ende der nationalstaatlichen Souveränität, wie sie seit dem Westfälischen Frieden festgeschrieben steht und um eine soziale Basis für Europa, fasst der Rezensent zusammen. Die EU sei nur zukunftsfähig denkbar, wenn es einen europäischen Sozialstaat gäbe, der die jeweiligen Eigeninteressen untergräbt. Thomas meint, dass man falsch daran täte, Negts Gedanken leichtfertig wegzulächeln - ohne eine Massenbasis von Bürgern kann es keine Stabilität geben, ohne Würde und Anerkennung wiederum keine Bürger, erklärt der Rezensent. Negts Ausführungen kommen Thomas allerdings etwas zu leninistisch daher: "kollektive Lernprozesse" und genossenschaftlicher Gemeinschaftssinn sollen den "Bannkreis des Geldes" brechen. Dafür entschädige Negt wiederum mit schönen Formulierungen wie "Bildung ist Anlegen von Vorräten". Es ist auch eine Abrechnung mit dem Kapitalismus, in dem Arbeitsplätze zu Produktionsstätten der "Unsicherheit und Ungewissheit" geworden sind, verrät der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2012Europas
kluger Maulwurf
Wie Oskar Negt beim Graben
die Zukunft der EU findet
Der Sozialwissenschaftler Oskar Negt hat, wie er einmal bekannt hat, ein ungewöhnliches Lieblingstier. Es ist der Maulwurf – ein allgemein unterschätztes Tier mit phänomenalen Fähigkeiten: Es gräbt sein Leben lang und mischt das Erdreich fleißig durcheinander. Die Maulwurfshügel sind die Heldentaten dieses Tieres, sie sind eine gute Basis für neue Pflanzen; darauf können selbst Gewächse Fuß fassen, die sonst keine Chance hätten.
Das ist auch eine Beschreibung für das, was Negt, der engagierte Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule, leisten will: umgraben und Neues wachsen lassen. Negt hat sich diesmal durch die Milliardenbürgschaften für den Euro gegraben, er hat die Hässlichkeiten weggeschaufelt, mit denen sich die europäischen Nationen nun wieder bewerfen; er hat den Grund Europas gesucht – und ihn gefunden: Es ist die soziale Gerechtigkeit. Negt wirbt für ein europäisches Sozialmodell, er wirbt für eine soziale Europäische Union. Die sozialstaatlichen Errungenschaften haben, so ist seine Analyse, den europäischen Demokratien ihre Stabilität verliehen. Diese Erfolgsgeschichte müsse nun fortgeschrieben werden. Sozialpolitik ist für Negt die Politik, die aus der Union eine Gemeinschaft für die Menschen macht – eine Heimat.
Negt beginnt seine Schrift zornig; er klagt darüber, wie Griechenland „nach den Regeln betriebswirtschaftlicher Buchführung und für Gewinnzwecke maroder Banken Schritt für Schritt aus dem europäischen Kontext ausgegliedert, vom Produktions- und Lebenszusammenhang Europas abgekoppelt“ wird; er nennt das einen folgenreichen Fehler, „unmoralisch, skandalös“. Negt endet mit einer Beschwörung der Würde des Einzelnen und der Würde des Gemeinwesens, die „untrennbar zusammen“ gehören. Es ist dies eine wunderbar anachronistische Beschwörung, aber dieser nur vermeintliche Anachronismus ist die Zukunft Europas.
Wenn in europaweiten Protesten Demonstranten von ihren Regierungen fordern, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen, dann ist das nicht unbillig. Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften gehören zum inneren Frieden. Der Sorge um diesen inneren Frieden Rechnung zu tragen: Das gehört zu den Grundaufgaben der Europäischen Union. Solange die Menschen die EU aber vor allem als Nutzgemeinschaft für Banken und Finanzwirtschaft, aber nicht als Schutzgemeinschaft für die Menschen erleben, bleibt jedes Werben für Europa vergeblich.
Dass man sich den Sozialstaat nicht mehr leisten könne – dies gehört für Negt zu den unsinnigsten Parolen, die in der jüngeren Vergangenheit in Umlauf gesetzt worden sind. Negt stellt mit Verblüffung fest, wie viel intellektuelle Energie auf Europadiskurse gelenkt wird, „die selbst in ihrer radikalsten und kritischsten Positionen dem Bannkreis des Geldes verhaftet bleiben“. Er wirbt eindringlich für den Ausbau des Sozialstaates, für den Schutz der lebendigen Arbeit gegen die Übergriffe der toten Arbeit. Negts „Gesellschaftsentwurf Europa“ ist ein soziales Europa.
Europäisches Sozialmodell: Das ist guter Schutz und kluge Hilfe bei den großen Lebensrisiken, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit. Wer Rechtsstaat und Demokratie bewahren will, sagt Negt, muss den Sozialstaat pflegen. Von seinem Maulwurfshügel aus sieht er weiter und klarer als die großen Tiere: Europa braucht ein Koordinatensystem, bei dem die Achsen Solidarität und Gerechtigkeit heißen.
HERIBERT PRANTL
Oskar Negt: Gesellschaftsentwurf Europa. Steidl Verlag, Göttingen (mit ifa, Stuttgart) 2012. 120 Seiten, 14 Euro.
Wer Rechtsstaat und Demokratie
bewahren will,
muss den Sozialstaat pflegen
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kluger Maulwurf
Wie Oskar Negt beim Graben
die Zukunft der EU findet
Der Sozialwissenschaftler Oskar Negt hat, wie er einmal bekannt hat, ein ungewöhnliches Lieblingstier. Es ist der Maulwurf – ein allgemein unterschätztes Tier mit phänomenalen Fähigkeiten: Es gräbt sein Leben lang und mischt das Erdreich fleißig durcheinander. Die Maulwurfshügel sind die Heldentaten dieses Tieres, sie sind eine gute Basis für neue Pflanzen; darauf können selbst Gewächse Fuß fassen, die sonst keine Chance hätten.
Das ist auch eine Beschreibung für das, was Negt, der engagierte Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule, leisten will: umgraben und Neues wachsen lassen. Negt hat sich diesmal durch die Milliardenbürgschaften für den Euro gegraben, er hat die Hässlichkeiten weggeschaufelt, mit denen sich die europäischen Nationen nun wieder bewerfen; er hat den Grund Europas gesucht – und ihn gefunden: Es ist die soziale Gerechtigkeit. Negt wirbt für ein europäisches Sozialmodell, er wirbt für eine soziale Europäische Union. Die sozialstaatlichen Errungenschaften haben, so ist seine Analyse, den europäischen Demokratien ihre Stabilität verliehen. Diese Erfolgsgeschichte müsse nun fortgeschrieben werden. Sozialpolitik ist für Negt die Politik, die aus der Union eine Gemeinschaft für die Menschen macht – eine Heimat.
Negt beginnt seine Schrift zornig; er klagt darüber, wie Griechenland „nach den Regeln betriebswirtschaftlicher Buchführung und für Gewinnzwecke maroder Banken Schritt für Schritt aus dem europäischen Kontext ausgegliedert, vom Produktions- und Lebenszusammenhang Europas abgekoppelt“ wird; er nennt das einen folgenreichen Fehler, „unmoralisch, skandalös“. Negt endet mit einer Beschwörung der Würde des Einzelnen und der Würde des Gemeinwesens, die „untrennbar zusammen“ gehören. Es ist dies eine wunderbar anachronistische Beschwörung, aber dieser nur vermeintliche Anachronismus ist die Zukunft Europas.
Wenn in europaweiten Protesten Demonstranten von ihren Regierungen fordern, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen, dann ist das nicht unbillig. Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften gehören zum inneren Frieden. Der Sorge um diesen inneren Frieden Rechnung zu tragen: Das gehört zu den Grundaufgaben der Europäischen Union. Solange die Menschen die EU aber vor allem als Nutzgemeinschaft für Banken und Finanzwirtschaft, aber nicht als Schutzgemeinschaft für die Menschen erleben, bleibt jedes Werben für Europa vergeblich.
Dass man sich den Sozialstaat nicht mehr leisten könne – dies gehört für Negt zu den unsinnigsten Parolen, die in der jüngeren Vergangenheit in Umlauf gesetzt worden sind. Negt stellt mit Verblüffung fest, wie viel intellektuelle Energie auf Europadiskurse gelenkt wird, „die selbst in ihrer radikalsten und kritischsten Positionen dem Bannkreis des Geldes verhaftet bleiben“. Er wirbt eindringlich für den Ausbau des Sozialstaates, für den Schutz der lebendigen Arbeit gegen die Übergriffe der toten Arbeit. Negts „Gesellschaftsentwurf Europa“ ist ein soziales Europa.
Europäisches Sozialmodell: Das ist guter Schutz und kluge Hilfe bei den großen Lebensrisiken, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit. Wer Rechtsstaat und Demokratie bewahren will, sagt Negt, muss den Sozialstaat pflegen. Von seinem Maulwurfshügel aus sieht er weiter und klarer als die großen Tiere: Europa braucht ein Koordinatensystem, bei dem die Achsen Solidarität und Gerechtigkeit heißen.
HERIBERT PRANTL
Oskar Negt: Gesellschaftsentwurf Europa. Steidl Verlag, Göttingen (mit ifa, Stuttgart) 2012. 120 Seiten, 14 Euro.
Wer Rechtsstaat und Demokratie
bewahren will,
muss den Sozialstaat pflegen
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