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Wird hierzulande öffentlich über den politischen Islam debattiert, dann geht es zumeist um Kopftücher, Moscheen oder islamistische Anschläge in Europa. Selten geht es darum, wie jener den Alltag eines Großteils der Weltbevölkerung prägt, wie durch ihn das Leben der Menschen insbesondere in der sogenannten islamischen Welt regelmäßig ein beengtes und gefährliches ist. Während der politische Islam im Nahen und Mittleren Osten, seinem historischen Zentrum, trotz anhaltender Herrschaft und Gewalt an Rückhalt zu verlieren droht, was sich in stets wiederkehrenden oppositionellen Protesten zeigt,…mehr

Produktbeschreibung
Wird hierzulande öffentlich über den politischen Islam debattiert, dann geht es zumeist um Kopftücher, Moscheen oder islamistische Anschläge in Europa. Selten geht es darum, wie jener den Alltag eines Großteils der Weltbevölkerung prägt, wie durch ihn das Leben der Menschen insbesondere in der sogenannten islamischen Welt regelmäßig ein beengtes und gefährliches ist. Während der politische Islam im Nahen und Mittleren Osten, seinem historischen Zentrum, trotz anhaltender Herrschaft und Gewalt an Rückhalt zu verlieren droht, was sich in stets wiederkehrenden oppositionellen Protesten zeigt, scheint er seinen gesellschaftlichen und politischen Einfluss in Afrika, Europa und Südostasien auszuweiten. Der Band beleuchtet die Entwicklung des politischen Islam in verschiedenen Regionen der Welt, fragt nach dessen Verschiebung vom »Zentrum« an die »Peripherie« und thematisiert das patriarchale Geschlechterverhältnis sowie den Antisemitismus als tragende Säulen der zugrunde liegenden Ideologie.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die in dem Sammelband von Fatma Keser, David Schmidt und Andreas Stahl vertretene Kernthese, die Zentren des politischen Islams könnten sich von seinen Kernländern Iran und Saudi-Arabien nach Südostasien und Afrika verschieben, überzeugt Rezensent Thomas Thiel nicht. Viel eher sei es so, dass diese Staaten solange an der Spitze stehen werden, wie das Öl aus dem Boden fließe und so die wirtschaftliche Grundlage für ihre Ideologie bereite, lesen wir. Auch die These von einer aufbegehrenden Jugend verwirft der Kritiker: Im Iran sei zwar die Hälfte der Jugendlichen areligiös, das Regime hielte sich aber beständig. Trotzdem enthält der Band, so Thiel schließlich, "erhellende Beiträge" zum Thema Geschlechterfrage und Antisemitismus - das trägt dazu bei, dass sich, trotz der nicht so gut belegten Kernthese, ein "dichtes und facettenreiches Gesamtbild" erschließe.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2024

Und was passiert, wenn die Ölquellen einmal versiegen?
Auch in Europa ist die Grenze zur Militanz nicht klar zu ziehen: Ein Sammelband widmet sich der Zukunft des politischen Islams

Die Zäsur, die das Jahr 1979 bedeutete, ist erst in den vergangenen Jahren klar ins Bewusstsein getreten, als sich die Folgen immer stärker bemerkbar machten. Die Welt wurde damals durch den faktischen Machtantritt des politischen Islams in Ungläubige und Gläubige gespalten. In Iran verhalf die islamische Revolution einem Fundamentalisten ins höchste Staatsamt. In Afghanistan brachte der Widerstand gegen die sowjetische Besetzung fast zeitgleich den Mudschahed als Prototyp des Glaubenskriegers hervor. Kurz zuvor hatten religiöse Fundamentalisten die große Moschee von Mekka besetzt, woraus der Pakt zwischen dem saudischen Königshaus und dem wahhabitischen Steinzeitislam entstand, der nun mit Petrodollars in alle Welt exportiert wurde.

Seither verfügt der politische Islam über ein klares Bewegungsprinzip: Aus seinen Stammgebieten im mittleren und nahen Osten dringt er wellenförmig in Regionen vor, in denen bis dahin gemäßigte Deutungen vorherrschten. Teils verbindet er sich mit dschihadistischen Strömungen, die sich besonders in der Sahelzone ausbreiten. Stark ist auch sein Einfluss auf Südostasien, wo seit der Jahrtausendwende fundamentalistische Gruppen in manchen Ländern die Oberhand gewinnen.

Vor diesem Hintergrund wirft ein von Fatma Keser, David Schmidt und Andreas Stahl herausgegebener Sammelband die Frage auf, ob sich das Machtzentrum des politischen Islams von den Kernländern in der Golfregion nach Afrika und Südostasien verschiebe. Oliver Piecha führt dafür ein Generationenargument an: Sei der politische Islam einstmals als Protestbewegung entstanden, die den Despoten des arabischen Nationalismus die Stirn geboten und besonders junge Menschen angesprochen habe, so werde er heute von vergreisten Gelehrten und Staatsmännern repräsentiert, die selbst mit brutaler Härte gegen Kritiker vorgehen. Schlussfolgerung: Die Jugend von heute zeige dem Islamismus in seinen Stammländern zunehmend die kalte Schulter. Umfragen signalisierten dort eine leicht säkulare Tendenz.

Sie dürfte kaum stark genug sein, um die etablierten Mächte erzittern zu lassen. Wie so viele Generationenthesen steht auch diese auf wackligen Füßen. In Qatar oder der Türkei sitzt der politische Islam einigermaßen fest im Sattel. Afghanistan hat er zurückerobert. Das Beispiel Irans, wo sich fast jeder Zweite laut einer niederländischen Studie als areligiös bezeichnet, zeigt, wie lange sich ein überlebtes Regime gegen den Mehrheitswillen behaupten kann. Und an Ägypten lässt sich sehen, dass die Alternative zum Islamismus nicht die Demokratie sein muss. Außerdem müssen Islamismus und Nationalismus keine Antipoden sein. In der Türkei bildet beides eine Einheit.

Angesichts der Wendigkeit und Dynamik, mit der sich der politische Islam entwickelt, sind Prognosen riskant. Fraglich ist, ob er seinen Siegeszug fortsetzt, wenn das Geld aus den Ölquellen einmal versiegt. Dass sich in der Zwischenzeit wie von selbst Gegenkräfte bilden, die ihn zurückdrängen, ist nach der Erfahrung des arabischen Frühlings wohl zu idealistisch gedacht. Ein Schlüssel wird sein, ob Saudi-Arabien seinen Säkularisierungskurs fortsetzt und die enge Verbindung zum Wahhabismus kappt. Darauf deutet manches hin.

Insgesamt liefert der Band aber zu wenig Material, um die These vom Verfall in den Kernländern zu belegen. Thomas von der Osten-Sacken geht zwar davon aus, dass sich die dynamischeren und radikaleren Formen an die Ränder der islamischen Welt verschieben. Solange am Golf die Ölgelder sprudeln, dürfte der ideologische Motor aber dort zu finden sein. Ruud Koopmans führt dies am Beispiel der Malediven aus, die heute eines der autoritärsten islamistischen Länder sind. Maumoon Abdul Gayoom, der das Land in den Neunzigerjahren ideologisch auf Kurs brachte, hat in Kairo an der Azhar-Universität studiert. Dasselbe Verhältnis von Zentrum und Peripherie findet sich bei dem geistigen Mentor von Boko Haram, der die Universität von Medina besuchte.

Die von politischem Zerfall geprägte Subsahara ist für den Islamismus ein idealer Nährboden. Der Klimawandel mit all seinen Verheerungen wird ihm weiteren Zulauf bescheren. Demographisch ist die Region ein Pulverfass. Die höheren Fertilitätsraten unter Muslimen in Ländern wie Nigeria dürften den Druck auf Christen und andere Religionen nochmals erhöhen. Die Zahl der Todesopfer und Vertriebenen, die der Beitrag von Felix Riedel benennt, ist schon heute bestürzend hoch.

Günstige Bedingungen findet der politische Islam auch in Europa, wo islamistische Vereine unter dem Schutzmantel des Antirassismus Unterschlupf finden. Obwohl der politische Islam in Europa auf eine Strategie der gewaltfreien Unterwanderung setzt, ist auch hier die Grenze zur Militanz nicht klar zu ziehen. Heiko Heinisch zeigt dies am Attentat auf Samuel Paty, gegen den islamistische Verbände aus dem Umkreis der Muslimbruderschaft agitiert hatten, bevor ein Dschihadist den Hinweis aufnahm und den Lehrer enthauptete. Der politische Islam braucht den Dschihadismus als ideologische Krücke, weil er durch militärische Scheinsiege darüber hinwegtäuscht, dass die Anhänger einer sich überlegen wähnenden und die Weltherrschaft anstrebenden Religion ihren Widersachern hoffnungslos unterlegen sind.

Über die etwas bemühte, aber nicht zu hartnäckig verfolgte Kernthese hinaus enthält der Band erhellende Beiträge zu weiteren Aspekten des politischen Islams wie der Geschlechterfrage und dem Antisemitismus. In der Summe ergibt sich ein dichtes und facettenreiches Gesamtbild. Thomas von der Osten-Sacken weist auf die oft übersehenen Menschen in der arabischen Welt hin, die sich weder vom Nationalismus noch vom Islamismus beglücken lassen wollen, sondern sich eine ideologiefreie Politik wünschen. Auf ihnen ruhen die Hoffnungen, bislang vergeblich. THOMAS THIEL

Fatma Keser, David Schmidt und Andreas Stahl (Hrsg.): "Gesichter des politischen Islam".

Edition Tiamat, Berlin 2023. 480 S., br., 30,- Euro.

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