Produktdetails
  • Verlag: Gerstenberg
  • ISBN-13: 9783806750805
  • ISBN-10: 3806750807
  • Artikelnr.: 13677551
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2005

Punkt, Punkt, Komma, Strich oder Der Marmorkuchen schaut zurück

Es zählt zu den großen Mißverständnissen der Fotografie, daß sie durch die exakte Wiedergabe ihrer Motive die Welt erklären könne. Das Gegenteil ist der Fall: Die Fotografie verrätselt die Welt. Weil sie nur Einzelheiten zeigen kann und keine Zusammenhänge darstellen, lenkt sie den Blick stets auf Details. Nirgends wird das deutlicher als in jenen Rätselbildern, die durch extreme Ausschnitte und die Umkehrung von Größenverhältnissen Gegenstände des Alltags in bizarre Skulpturen verwandeln. In diesem Genre ist die Fotografie dem Surrealismus um etliches näher als der Realität. Wie in einem Traum entwickelt die Dingwelt mit einem Mal ihr eigenes, verrücktes Leben.

Die Brüder François und Jean Robert, beide Grafik-Designer, nutzen diesen Effekt seit gut dreißig Jahren für ihre Fotoserie "Gesichter". Sie versammelt Hunderte vermeintlicher Porträts, die die beiden Schweizer ebenso Hausfassaden wie Küchengeräten, Werkzeugen oder Zufällen der Natur entlockt haben - geradeso, als schaute jedes Objekt zurück, wenn man selbst nur lang genug hinschaut.

Daß es nicht mehr bedarf als zwei Punkte und zwei Striche, um eine Sache zu beseelen: Das bringt man natürlich schon Kindern bei. Eine solche Vielfalt von Beispielen allerdings, wie François und Jean Robert sie nun in ihrem wunderbaren Bilderbuch "Gesichter" vorlegen, macht einen mehr als nur staunen. Mit jeder Seite wird die Welt um eine Spur gespenstischer. Zumal die je eigene und stets eigenwillige Mimik jeden Artikel zu einem Individuum macht.

Das Konterfei aus Scheinwerfern und Kühlergrill an der Front eines Autos ist dabei noch das banalste Motiv. Es kommt auch nur einmal vor. Das erschreckte Gesicht der Steckdose aber hat man in der Wirklichkeit nie zuvor wahrgenommen; ebensowenig das Zwergengesicht mit Zipfelmütze, daß sich in der Gartenschere verbirgt. Der Henkel einer Einkaufstüte grinst, als mache er sich lustig über den Käufer. Steine schreien, als gehe es um Leben und Tod. Und ein Kopfhörer reißt den Mund so weit auf, als kämen die Töne aus seinem Bügel - und nicht aus den Ohrmuscheln. Messer, Wecker, Aschenbecher: Alles schaut. So konditioniert ist der Betrachter am Ende, daß er gewillt ist, sogar den Schokoladenstreifen im Marmorkuchen als Nase zu akzeptieren. Es wäre nicht der schlechteste Effekt, wenn die konzentrierte Lektüre des Buchs dazu führte, die Dinge künftig besser zu behandeln. Im schlimmsten Fall aber könnte sie auch damit enden, daß man nie wieder in ein Stück Kuchen beißt.

FREDDY LANGER.

François und Jean Robert: "Gesichter". Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2005. 272 S., Abb., geb., 15,90 [Euro]. Ab 4 J.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2005

Schau dich um
Ein Bilderbuch, das mit der Vorstellungskraft spielt
Punkt, Punkt, Komma, Strich - fertig ist das Mondgesicht!” Das zeichnerische Einüben von einfachen Schemata gehört zu den frühen Erfahrungen jedes Kindes; Gesichter lassen sich auf wenige Merkmale reduzieren, und die Bereitschaft, Augen, Mund und Nase in der rauen Rinde eines Baumstammes oder in den vorbeiziehenden Wolken zu entdecken, führt zu immer neuen Suchspielen. Auf diesen physiologischen Erfahrungen basiert das kleine, kompakte Fotobuch der Schweizer Grafikdesigner und Fotografen Francois und Jean Robert. Auf 272 Seiten haben sie „Gesichter” fotografiert, die sich in der Dingwelt, der gebauten Umwelt oder der Natur entdecken lassen, wenn man seine Wahrnehmung darauf ausrichtet. Schuhe, Lautsprecher, technische Präzisionsgeräte, ein Spachtel, ein Haus, ein Pappkarton, eine Blume oder ein Stein können uns anlächeln oder anstarren, können griesgrämig dreinschauen oder einfach nur komisch blicken. Der erste groß herangezoomte Gegenstand in diesem Buch ist ein Amperemeter, ein altes Strommessgerät, das, nun auf den Kopf gestellt, ein freundlich lächelndes Gesicht assoziieren lässt.
Die fotografische Schärfe, der schwarze Hintergrund und die Ausleuchtung mit leichtem Schattenwurf lassen die technische Konstruktion vergessen und bringen uns in eine emotionale Nähe zu dem fremden Wesen, das so vertrauenerweckend dreinschaut. Blättert man ein wenig weiter, erblickt man das markante Profil eines exotischen Vogels mit mächtigem Schnabel und wachem Blick. Dass es sich hier um ein Schneidegerät aus dem Baumarkt handelt, ist nun schon fast unwichtig. Verblüffend, wie groß unsere Bereitschaft ist, der Grundidee der beiden Fotokünstler zu folgen und selbst dort ein Gesicht hinein zu deuten, wo wir es üblicherweise nicht suchen. Ein wenig werden wir beim Blättern in diesem Buch wieder zu kleinen Kindern, deren animistische Weltsicht ohnehin noch nicht trennscharf zwischen leblos und lebendig unterscheidet. Überall grinst oder glotzt uns ein Gesicht entgegen. Selbst ein Stück Marmorkuchen, in dem die dunkelbraune Schokoladenfüllung wie eine mimische Zeichnung verläuft, scheint uns mit leicht verhangenem Blick zuzublinzeln.
Aber das Spiel der Deutungen dreht sich auch um: wir erkennen in vielen Fotografien wohl Gesichter, aber wir können den Gegenstand, der uns solche menschlichen (oder tierischen) Assoziationen liefert, nicht auf Anhieb identifizieren und einem neugierigen Kind schon gar nicht erklären. Hier helfen nur Ratespiele und freie Assoziationen, denn Erklärungen und Auflösungen liefert das Buch nicht. Das „Gesichter”-Buch bietet Spaß und Unterhaltung für alle Generationen, da sich offensichtlich jeder auf das Erkennen und Ausdeuten mimischer Schemata mit einer diebischen Freude einlässt. (ab 4 Jahre)
JENS THIELE
FRANCOIS UND JEAN ROBERT: Gesichter.Gerstenberg Verlag 2005. 272 Seiten., 15,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Einfach wunderbar findet Rezensent Freddy Langer dieses Bilderbuch der Fotografen Francois und Jean Robert, das Hunderte "vermeintlicher Porträts" enthält, die das Schweizer Duo unter anderem Hausfassaden, Küchengeräten, Werkzeugen oder Zufällen der Natur entlockt hätte. Jede Seite habe ihn staunen lassen, mit jeder Seite sei die Welt für ihn eine Spur gespenstischer geworden: das erschreckte Gesicht der Steckdose trug dazu ebenso bei wie der grinsende Henkel einer Einkaufstüte oder der weit aufgerissene Mund eines Kopfhörers.

© Perlentaucher Medien GmbH"