Familienurlaub auf einer griechischen Insel. Auf der Rückreise wird der Neurologe Gabor Lorenz am Hafen von Patras Zeuge, wie ein junger Mann auf einen Lastwagen springt, um unbemerkt auf die Fähre zu gelangen, mit der auch Lorenz und seine Familie nach Italien übersetzen. Das Bild lässt Lorenz nicht mehr los. Während der Überfahrt sucht er den Mann und wirft eine Tüte mit Lebensmitteln in den Laster, in dem der Fremde sich versteckt. Zu spät fällt ihm ein, dass sich darin auch Postkarten mit seiner Berliner Anschrift befinden.
Es dauert eine Woche, bis die erste dieser Karten bei Familie Lorenz ankommt, abgestempelt in Modena. Kurze Zeit später die zweite - mit Münchner Poststempel. Da weiß Lorenz, dass der Flüchtling näher kommt, dass er auf dem Weg ist zu ihm. Ein diffuses Gefühl von Bedrohung schleicht sich in Lorenz' Alltag, das sich als Misstrauen in alle Lebensbereiche frisst.
'Gesichter' ist ein großer Roman, ein spannendes Seelendrama, das davon erzählt, wie jemand allesaufs Spiel setzt, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu erkennen.
Es dauert eine Woche, bis die erste dieser Karten bei Familie Lorenz ankommt, abgestempelt in Modena. Kurze Zeit später die zweite - mit Münchner Poststempel. Da weiß Lorenz, dass der Flüchtling näher kommt, dass er auf dem Weg ist zu ihm. Ein diffuses Gefühl von Bedrohung schleicht sich in Lorenz' Alltag, das sich als Misstrauen in alle Lebensbereiche frisst.
'Gesichter' ist ein großer Roman, ein spannendes Seelendrama, das davon erzählt, wie jemand allesaufs Spiel setzt, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu erkennen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2013Dies Antlitz ist so sonderbar verschlüsselt
Böse Blicke, blinde Flecken: Andreas Schäfers raffinierter Roman "Gesichter"
Eigentlich eine schöne Idee, der Gattin im Urlaub Postkarten zu schreiben und sie erst nach der Rückkehr in den Arbeits- und Familienalltag abzuschicken, um die Ferienstimmung der griechischen Insel noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Dumm nur, dass Gabor Lorenz auf der Fähre von Patras nach Ancona einen Mann entdeckt, der sich heimlich in einem Laster versteckt. Er wirft ihm eine Tüte Bananen zu, in der sich bedauerlicherweise auch die Postkarten befinden. Als der Flüchtling gefasst wird, offenbar misshandelt von der Polizei, begegnet ihm der an einer Berliner Klinik angestellte Neurologe abermals. Er fürchtet, dass der Mann, der seinen Namen und seine Adresse kennt, ihn für einen Denunzianten hält.
Die Reise wirkt sodann noch lange nach, allerdings anders, als Gabor sich das vorgestellt hat. Die erste Postkarte, die seine Frau Berit erreicht, wurde in Modena abgeschickt, die zweite in München. Der womöglich auf Rache sinnende Absender kommt immer näher, das Gefühl der Bedrohung wächst. Dabei hat Gabor im Grunde andere Sorgen. Immerhin muss er als Leiter einer Forschungsgruppe zur Gesichtsblindheit, der Unfähigkeit also, Gesichter wiederzuerkennen, einen Vortrag für die Berufungskommission vorbereiten und einen alten Studienfreund mit einer bitteren Entscheidung konfrontieren. Noch dazu gibt sich seine vierzehnjährige Tochter Nele in jüngster Zeit auffällig verschlossen, was Gabor einer unglücklichen Urlaubsliebelei zuschreibt.
Andreas Schäfer, der für sein letztes Werk "Wir vier" mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, hat mit seinem neuen Roman eine glückliche Hand bewiesen, was Stoff, Motive und Dramaturgie betrifft. "Gesichter" ist nicht nur spannend und subtil aufgebaut, sondern auch gehaltvoll. Der 1969 in Hamburg geborene Journalist und Schriftsteller erzählt, wie jemandem, dem alles, was er sich wünscht, greifbar zu sein scheint, plötzlich das ganze Leben entgleitet. Gabor weiß, dass wir mittels einer kombinierten Wahrnehmungs- und Abgleichleistung das Gesicht eines Bekannten, den wir ewig nicht mehr gesehen haben, innerhalb von dreihundert Millisekunden identifizieren. Doch von einem Moment zum anderen erkennt er sich selbst kaum wieder; während ihm das hasserfüllte Antlitz des Flüchtlings einmal plötzlich klar vor Augen steht, gerät es ein andermal vollkommen in Vergessenheit. Dass die Gefahr für den Zusammenhalt der Familie, die Schäfer um des schärferen Kontrasts willen anfangs nahezu als Idylle zeichnet, von ganz anderer Seite droht, muss sein Protagonist im Laufe des Geschehens schmerzhaft erfahren. Als Gabor schließlich unter einen schrecklichen Verdacht gerät, sind alle Gewissheiten der bürgerlichen Existenz dahin.
Schäfer geht es nicht darum, das Ideal einer konventionellen Familie und Ehe zu dekonstruieren - das wäre zu einfach. Sein Roman handelt vielmehr davon, wie rasch man in den Augen eines geliebten Menschen zu einem Fremden werden kann, der unvermutet sein vermeintlich wahres Gesicht zeigt; er handelt vom Verrat unter Freunden, vom allzu jähen Erwachsenwerden und nicht zuletzt vom abgebrühten touristischen Blick auf Flüchtlingsschicksal. Diese Handlungselemente motivisch mit dem Thema der Gesichtsblindheit zu verknüpfen, erweist sich als äußerst fruchtbar und vieldeutig.
Dass Schäfer die sich bietenden Parallelen und Vergleichsmöglichkeiten nicht überstrapaziert, spricht für die Disziplin des Autors. Abgesehen von einigen wenigen Marotten wie etwa jener, leicht ungelenk und geheimniskrämerisch - selbst in der Figurenrede - stets nur von "der Insel" zu sprechen, statt sie einfach beim Namen zu nennen, ist der Stil des Romanciers deutsch-griechischer Herkunft luzide, akkurat und unaufdringlich. Ihm gelingt es, die Entwicklung eines individuellen psychischen Konflikts vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Problematik zu schildern, ohne je in einen küchenpsychologischen oder plakativ sozialkritischen Jargon zu verfallen. Stattdessen werden die einzelnen Bedeutungsebenen unterschwellig und elegant miteinander verbunden. Entsprechend angenehm ist die Lektüre, obwohl Gabors Welt zunehmend unbehaglicher wird. Das familienfreundliche Ferienparadies und die Hölle der persönlichen Hirngespinste und schuldhaften Verstrickungen liegen so weit nicht voneinander entfernt. "Gesichter" kartographiert die Reiseroute im richtigen Maßstab. Wer sich daran orientiert, ist literarisch an der richtigen Adresse.
ALEXANDER MÜLLER
Andreas Schäfer: "Gesichter". Roman.
Dumont Verlag, Köln 2013. 253 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Böse Blicke, blinde Flecken: Andreas Schäfers raffinierter Roman "Gesichter"
Eigentlich eine schöne Idee, der Gattin im Urlaub Postkarten zu schreiben und sie erst nach der Rückkehr in den Arbeits- und Familienalltag abzuschicken, um die Ferienstimmung der griechischen Insel noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Dumm nur, dass Gabor Lorenz auf der Fähre von Patras nach Ancona einen Mann entdeckt, der sich heimlich in einem Laster versteckt. Er wirft ihm eine Tüte Bananen zu, in der sich bedauerlicherweise auch die Postkarten befinden. Als der Flüchtling gefasst wird, offenbar misshandelt von der Polizei, begegnet ihm der an einer Berliner Klinik angestellte Neurologe abermals. Er fürchtet, dass der Mann, der seinen Namen und seine Adresse kennt, ihn für einen Denunzianten hält.
Die Reise wirkt sodann noch lange nach, allerdings anders, als Gabor sich das vorgestellt hat. Die erste Postkarte, die seine Frau Berit erreicht, wurde in Modena abgeschickt, die zweite in München. Der womöglich auf Rache sinnende Absender kommt immer näher, das Gefühl der Bedrohung wächst. Dabei hat Gabor im Grunde andere Sorgen. Immerhin muss er als Leiter einer Forschungsgruppe zur Gesichtsblindheit, der Unfähigkeit also, Gesichter wiederzuerkennen, einen Vortrag für die Berufungskommission vorbereiten und einen alten Studienfreund mit einer bitteren Entscheidung konfrontieren. Noch dazu gibt sich seine vierzehnjährige Tochter Nele in jüngster Zeit auffällig verschlossen, was Gabor einer unglücklichen Urlaubsliebelei zuschreibt.
Andreas Schäfer, der für sein letztes Werk "Wir vier" mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, hat mit seinem neuen Roman eine glückliche Hand bewiesen, was Stoff, Motive und Dramaturgie betrifft. "Gesichter" ist nicht nur spannend und subtil aufgebaut, sondern auch gehaltvoll. Der 1969 in Hamburg geborene Journalist und Schriftsteller erzählt, wie jemandem, dem alles, was er sich wünscht, greifbar zu sein scheint, plötzlich das ganze Leben entgleitet. Gabor weiß, dass wir mittels einer kombinierten Wahrnehmungs- und Abgleichleistung das Gesicht eines Bekannten, den wir ewig nicht mehr gesehen haben, innerhalb von dreihundert Millisekunden identifizieren. Doch von einem Moment zum anderen erkennt er sich selbst kaum wieder; während ihm das hasserfüllte Antlitz des Flüchtlings einmal plötzlich klar vor Augen steht, gerät es ein andermal vollkommen in Vergessenheit. Dass die Gefahr für den Zusammenhalt der Familie, die Schäfer um des schärferen Kontrasts willen anfangs nahezu als Idylle zeichnet, von ganz anderer Seite droht, muss sein Protagonist im Laufe des Geschehens schmerzhaft erfahren. Als Gabor schließlich unter einen schrecklichen Verdacht gerät, sind alle Gewissheiten der bürgerlichen Existenz dahin.
Schäfer geht es nicht darum, das Ideal einer konventionellen Familie und Ehe zu dekonstruieren - das wäre zu einfach. Sein Roman handelt vielmehr davon, wie rasch man in den Augen eines geliebten Menschen zu einem Fremden werden kann, der unvermutet sein vermeintlich wahres Gesicht zeigt; er handelt vom Verrat unter Freunden, vom allzu jähen Erwachsenwerden und nicht zuletzt vom abgebrühten touristischen Blick auf Flüchtlingsschicksal. Diese Handlungselemente motivisch mit dem Thema der Gesichtsblindheit zu verknüpfen, erweist sich als äußerst fruchtbar und vieldeutig.
Dass Schäfer die sich bietenden Parallelen und Vergleichsmöglichkeiten nicht überstrapaziert, spricht für die Disziplin des Autors. Abgesehen von einigen wenigen Marotten wie etwa jener, leicht ungelenk und geheimniskrämerisch - selbst in der Figurenrede - stets nur von "der Insel" zu sprechen, statt sie einfach beim Namen zu nennen, ist der Stil des Romanciers deutsch-griechischer Herkunft luzide, akkurat und unaufdringlich. Ihm gelingt es, die Entwicklung eines individuellen psychischen Konflikts vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Problematik zu schildern, ohne je in einen küchenpsychologischen oder plakativ sozialkritischen Jargon zu verfallen. Stattdessen werden die einzelnen Bedeutungsebenen unterschwellig und elegant miteinander verbunden. Entsprechend angenehm ist die Lektüre, obwohl Gabors Welt zunehmend unbehaglicher wird. Das familienfreundliche Ferienparadies und die Hölle der persönlichen Hirngespinste und schuldhaften Verstrickungen liegen so weit nicht voneinander entfernt. "Gesichter" kartographiert die Reiseroute im richtigen Maßstab. Wer sich daran orientiert, ist literarisch an der richtigen Adresse.
ALEXANDER MÜLLER
Andreas Schäfer: "Gesichter". Roman.
Dumont Verlag, Köln 2013. 253 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Spannend, atmospärisch, klug und facettenreich in der Komposition findet Meike Fessmann den neuen Roman von Andreas Schäfer. Die Geschichte einer zunehmenden Verunsicherung erzählt der Autor laut Rezensentin zügig und klar und mit der nötigen Umsicht, sodass der Plot nicht zum Tatort-Script verarmt. Wie ein Familienvater und Neurologe durch eine Reihe von Zufällen, das Aufbrechen alter Wunden und eine Menge Vorstellungskraft langsam den Boden unter den Füßen verliert und von Panik erfasst wird, bis nichts als Vorwürfe, Unterstellungen und Argwohn übrig bleiben, vermag der Autor Fessmann überzeugend zu vermitteln.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Spannend, subtil und gehaltvoll." Alexander Müller, F.A.Z. "Es sind die genauen Zeichnungen von Orten und Situationen, in die die Personen eingebettet sind, mit denen Schäfer eine dichte Beziehung zwischen innen- und Außenwelt herstellt." Marianne Kolarik, KÖLNER STADTANZEIGER "Eine psychologisch sorgsam entfaltete Familiengeschichte, die sich langsam zum Krimi, dann zum Psychothriller erweitert, ohne den plausiblen Alltagsrahmen je ganz zu verlassen. Ein Glücksfall, ein Pfund, mit dem ein geschickter Erzähler wuchern kann. Andreas Schäfer tut das, behutsam, ruhig und genau (...) well made." Hubert Winkels, DIE ZEIT "Ein fein beobachtetes und glänzend beschriebenes Psychogramm." WELT AM SONNTAG "Stück für Stück legt Schäfer in diesem psychologisch großartig ausgeführten Roman den mürben Kern der bürgerlichen Selbstgewissheit frei. Der Fremde gerät zur subtilen Bedrohung, die bis in den Berliner Vorgarten reicht." Katharina Schmitz, FREITAG "Ein psychologisch fein gearbeiteter Roman über Selbst-, und Fremdwahrnehmung." Tobias Becker, KULTURSPIEGEL "Eine kluge, fesselnde Mischung aus Krimi, Thriller und Gesellschaftsroman." RADIOEINS "Ein packender Roman. Irritierend, lesenswert [...] Andreas Schäfer ist der Meister des Subtilen [...] Er variiert, bis wir merken, dass wir uns längst mit etwas beschäftigen, das über den Raum des Romans hinausweist: mitten hinein ins Leben. Was will man mehr." WDR 5 "Es ist das Kunststück seiner Prosa, ebenso nüchtern wie atmosphärenstark zu sein, eine Ästhetik der verwischten Ränder, die sich in beiden Sphären des Romans bewährt [...] spannend, klug komponiert und facettenreich." Meike Fessmann, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG "Ungemein gut gemacht, spannend, intelligent, nicht ganz ein Thriller, keine Kolportage, aber hoch spannend." MAIN ECHO "Ein kluger, dichter Roman." ISERLOHNER ZEITUNG "Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte." AIDA DAS MAGAZIN