Das vorliegende Buch deckt den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Kultur auf. Es setzt Deutschlands Russlandpolitik und russische Außenpolitik in Beziehung zur politischen Kultur beider Staaten. Welche Außenpolitik erscheint gegenüber Russland geboten, wenn man die komplizierten und oft widersprüchlichen sozioökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse in Russland berücksichtigt? Wie kann es gelingen, die historisch bedingten, unterschiedlichen Horizonte der Gesellschaften beider Staaten miteinander zu verschmelzen? Ilja Kalinin plädiert für eine verantwortungsethisch-konservative Betrachtungsweise Russlands, die das historisch Gewachsene anerkennt und sich die vielfältigen Voraussetzungen des Werdens einer liberaldemokratischen politischen Ordnung bewusst macht, um den russischen Wandlungsprozessen adäquat zu begegnen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lesenswert findet Rezensentin Kerstin Holm die Analyse der deutsch-russischen Beziehungen durch Ilja Kalinin. Der Göttinger Politologe sieht darin den alten Gegensatz von Gesinnung und Verantwortung am Werke, erklärt sie: Der moralischen Außenpolitik von Kanzlerin Merkel stellt er das "um Stabilität ringende" Russland Wladimir Putin gegenüber, den wir uns in dieser Konstellation als den Verantwortungsethiker vorstellen sollen. Beide radikalisieren sich gegenseitig, und weil Berlin - zusammen mit Warschau - Moskau in "pastoraler Machtvergessenheit" gegenüber trete, sehe dieses sich gezwungen, seine einzige Trumpfkarte auszuspielen: die Gewaltbereitschaft. Dass der Autor viel Völkerpsychologie bemüht, um seinen Gegensatz zu bekräftigen, stellt die Rezensentin fest, stört sich aber nicht daran. Holm findet in dem Buch eher eine Bestätigung für ihre These, dass sich Merkel und Putin gleich weit von realistischer Realpolitik entfernt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2016Mit Talent zum Kaputtmachen
Ilja Kalinin analysiert die deutsche Russland-Politik
Eine russische Weisheit aus dem Knast- und Ganovenmilieu besagt, dass man für sein "Geschwätz" auch geradestehen können sollte. Während wir in Europa stolz darauf sind, andere Meinungen zu tolerieren und die eigene auch mal zu ändern, kommt es im rauhen Osten vor allem darauf an, die Folgen von Äußerungen zu bedenken.
Das Scheitern der noch vor gar nicht langer Zeit partnerschaftlichen Beziehung der EU und zumal Deutschlands zu Russland, dessen Führung Ganovenmethoden nicht verschmäht, führt exemplarisch vor, wie eine hochmoralische Politik, die insbesondere Angela Merkel verkörpert, in eine gefährliche Konfrontation führen kann. Davon ist der Göttinger Politologe Ilja Kalinin überzeugt, der in seinem lesenswerten Buch "Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik" nachzeichnet, wie der realpolitische Zugang zu Moskau immer mehr vor einer wertepolitischen Mission zurücktrat - auch wegen der Enttäuschung der Europäer über das autoritäre System Putins -, so aber eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang setzte, bei der beide Seiten ihre Positionen, die postnational-postmaterielle hier, die auf staatliche Souveränität erpichte dort, Schritt für Schritt radikalisierten und verhärteten.
Der aus Petersburg gebürtige Kalinin betont, Russland strebe grundsätzlich Richtung Westen, das heißt nach Wirtschaftswachstum und mehr Freiheit und Demokratie; das sei aber nur in dieser Reihenfolge möglich, nicht umgekehrt. Außerdem könne es nur langsam gehen und mit Rückschlägen. Denn die russische Gesellschaft sei rückständig, insgesamt undynamisch, fürchte Veränderungen. Im Unterschied zu den entwickelten Ländern könne sie die Globalisierung kaum mitgestalten, sondern werde in sie geworfen.
Der Autor verzichtet darauf, die politischen Akteure zu psychologisieren, stattdessen rückt er die Kulturen in den Fokus. Er leugnet nicht den "Zynismus" der russischen Führung, die aus dem Westen vor allem Technologie importieren will, während der Westen selbst vor allem seine demokratischen Spielregeln und Institutionen exportieren möchte. Kalinin erinnert aber daran, dass Russland und die westlichen Länder ganz unterschiedliche Phasen in ihrer historischen Entwicklung durchmachen. Außerdem spiele der Westen gegenüber dem um Stabilität ringenden Russland heute die Rolle des "linken" Revolutionsexporteurs - in ironischer Umkehrung der Konstellation während der Sowjetherrschaft.
Die Implosion des Sowjetstaats 1991 wurde im Westen als Triumph des eigenen Systems wahrgenommen. Doch die in den neunziger Jahren imitierten Institutionen, Parteien, Gerichte funktionierten nicht, der russische Staat wurde von Oligarchen privatisiert - was Putin umkehrte, indem er Unternehmen durch Staatsfunktionäre kapern ließ. Putin sei ein ausgesprochen "russischer" Politiker, räumt der Autor ein, was viele Europäer verständlicherweise schlimm fänden. Doch er entspreche der Mehrheitsgesellschaft, die Kalinin als "delegative" Demokratie bezeichnet. Er habe ihr auch eine gewisse Stabilität beschert, freilich nicht von der Art eines entwickelten Landes. Der Politologe ist voller Respekt für die couragierten russischen Oppositionellen. Er bemängelt nur, dass viele von ihnen Utopisten seien und die real existierende Gesellschaft oft geringschätzten.
Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden sich darin, dass Erstere das "richtige" Wertebekenntnis formuliert, während Letztere die Folgen des Handelns ermisst. Wertepolitik sei wichtig, findet Kalinin, zumal sie in Krisenzeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärke. Doch die einseitig moralische Politik Berlins, zumal im Rahmen der von Polen orchestrierten "Östlichen Partnerschaft", die von Russland Vorleistungen verlangt, bevor es als Partner gelten kann, zeuge von pastoraler Machtvergessenheit. Als Antwort spielt Russland, das sich aus Europa herausgedrängt sieht, seine einzige Trumpfkarte, die Gewaltbereitschaft. Gemäß dem Sprichwort, womit Russen sich selbst bescheinigen, sie könnten viel besser kaputtmachen als aufbauen. Putin lebe in einer virtuellen Welt, soll Angela Merkel während der Krim-Krise gesagt haben. Dort ist er, muss man hinzufügen, keineswegs allein.
KERSTIN HOLM
Ilja Kalinin: Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik? Deutsche Außenpolitik angesichts der politischen Kultur Russlands. Springer VS Fachmedien, Wiesbaden 2016. 239 S., 39,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilja Kalinin analysiert die deutsche Russland-Politik
Eine russische Weisheit aus dem Knast- und Ganovenmilieu besagt, dass man für sein "Geschwätz" auch geradestehen können sollte. Während wir in Europa stolz darauf sind, andere Meinungen zu tolerieren und die eigene auch mal zu ändern, kommt es im rauhen Osten vor allem darauf an, die Folgen von Äußerungen zu bedenken.
Das Scheitern der noch vor gar nicht langer Zeit partnerschaftlichen Beziehung der EU und zumal Deutschlands zu Russland, dessen Führung Ganovenmethoden nicht verschmäht, führt exemplarisch vor, wie eine hochmoralische Politik, die insbesondere Angela Merkel verkörpert, in eine gefährliche Konfrontation führen kann. Davon ist der Göttinger Politologe Ilja Kalinin überzeugt, der in seinem lesenswerten Buch "Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik" nachzeichnet, wie der realpolitische Zugang zu Moskau immer mehr vor einer wertepolitischen Mission zurücktrat - auch wegen der Enttäuschung der Europäer über das autoritäre System Putins -, so aber eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang setzte, bei der beide Seiten ihre Positionen, die postnational-postmaterielle hier, die auf staatliche Souveränität erpichte dort, Schritt für Schritt radikalisierten und verhärteten.
Der aus Petersburg gebürtige Kalinin betont, Russland strebe grundsätzlich Richtung Westen, das heißt nach Wirtschaftswachstum und mehr Freiheit und Demokratie; das sei aber nur in dieser Reihenfolge möglich, nicht umgekehrt. Außerdem könne es nur langsam gehen und mit Rückschlägen. Denn die russische Gesellschaft sei rückständig, insgesamt undynamisch, fürchte Veränderungen. Im Unterschied zu den entwickelten Ländern könne sie die Globalisierung kaum mitgestalten, sondern werde in sie geworfen.
Der Autor verzichtet darauf, die politischen Akteure zu psychologisieren, stattdessen rückt er die Kulturen in den Fokus. Er leugnet nicht den "Zynismus" der russischen Führung, die aus dem Westen vor allem Technologie importieren will, während der Westen selbst vor allem seine demokratischen Spielregeln und Institutionen exportieren möchte. Kalinin erinnert aber daran, dass Russland und die westlichen Länder ganz unterschiedliche Phasen in ihrer historischen Entwicklung durchmachen. Außerdem spiele der Westen gegenüber dem um Stabilität ringenden Russland heute die Rolle des "linken" Revolutionsexporteurs - in ironischer Umkehrung der Konstellation während der Sowjetherrschaft.
Die Implosion des Sowjetstaats 1991 wurde im Westen als Triumph des eigenen Systems wahrgenommen. Doch die in den neunziger Jahren imitierten Institutionen, Parteien, Gerichte funktionierten nicht, der russische Staat wurde von Oligarchen privatisiert - was Putin umkehrte, indem er Unternehmen durch Staatsfunktionäre kapern ließ. Putin sei ein ausgesprochen "russischer" Politiker, räumt der Autor ein, was viele Europäer verständlicherweise schlimm fänden. Doch er entspreche der Mehrheitsgesellschaft, die Kalinin als "delegative" Demokratie bezeichnet. Er habe ihr auch eine gewisse Stabilität beschert, freilich nicht von der Art eines entwickelten Landes. Der Politologe ist voller Respekt für die couragierten russischen Oppositionellen. Er bemängelt nur, dass viele von ihnen Utopisten seien und die real existierende Gesellschaft oft geringschätzten.
Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden sich darin, dass Erstere das "richtige" Wertebekenntnis formuliert, während Letztere die Folgen des Handelns ermisst. Wertepolitik sei wichtig, findet Kalinin, zumal sie in Krisenzeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärke. Doch die einseitig moralische Politik Berlins, zumal im Rahmen der von Polen orchestrierten "Östlichen Partnerschaft", die von Russland Vorleistungen verlangt, bevor es als Partner gelten kann, zeuge von pastoraler Machtvergessenheit. Als Antwort spielt Russland, das sich aus Europa herausgedrängt sieht, seine einzige Trumpfkarte, die Gewaltbereitschaft. Gemäß dem Sprichwort, womit Russen sich selbst bescheinigen, sie könnten viel besser kaputtmachen als aufbauen. Putin lebe in einer virtuellen Welt, soll Angela Merkel während der Krim-Krise gesagt haben. Dort ist er, muss man hinzufügen, keineswegs allein.
KERSTIN HOLM
Ilja Kalinin: Gesinnung oder Verantwortung in der Russlandpolitik? Deutsche Außenpolitik angesichts der politischen Kultur Russlands. Springer VS Fachmedien, Wiesbaden 2016. 239 S., 39,99 [Euro].
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