»Der Kopf eines Trauernden ist nicht viel klarer als der Kopf eines Verliebten und jedem Quatsch ausgeliefert.«
Wer die Trauer nicht überwinden kann oder will, hat eine andere Option: mit ihr leben zu lernen. Olga Martynova hat nach dem Tod ihres Mannes, des russischen Dichters Oleg Jurjew, vier Jahre lang an diesem großen Essay geschrieben. Wie, will sie wissen, gehen andere Menschen mit etwas um, mit dem man eigentlich nicht umgehen kann und das zugleich so unumgänglich ist. Olga Martynova sucht nicht nach Ratschlag oder Trost, sondern gerät in ihrer Trauer in ein ebenso intimes wie reflektiertes, ein ebenso schamloses wie kluges »Gespräch« - nicht zuletzt mit berühmten Texten über Trauer und Tod von Roland Barthes bis Joan Didion, von Elias Canetti bis Emmanuel Lévinas. - Begreife mich, sagt das Unbegreifliche. Darauf zu antworten, versucht dieses erschütternde Buch.
Wer die Trauer nicht überwinden kann oder will, hat eine andere Option: mit ihr leben zu lernen. Olga Martynova hat nach dem Tod ihres Mannes, des russischen Dichters Oleg Jurjew, vier Jahre lang an diesem großen Essay geschrieben. Wie, will sie wissen, gehen andere Menschen mit etwas um, mit dem man eigentlich nicht umgehen kann und das zugleich so unumgänglich ist. Olga Martynova sucht nicht nach Ratschlag oder Trost, sondern gerät in ihrer Trauer in ein ebenso intimes wie reflektiertes, ein ebenso schamloses wie kluges »Gespräch« - nicht zuletzt mit berühmten Texten über Trauer und Tod von Roland Barthes bis Joan Didion, von Elias Canetti bis Emmanuel Lévinas. - Begreife mich, sagt das Unbegreifliche. Darauf zu antworten, versucht dieses erschütternde Buch.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Lehmuhl liest Olga Martynovas Aufzeichnungen zum Verlust ihres 2018 verstorbenen Mannes Oleg Jurjew im Kontext von Trauerbüchern Roland Barthes' und Joan Didions. Auf diese nimmt die russische Dichterin Bezug und steht ihnen auch in nichts nach, versichert der Kritiker. In "lakonisch-elegantem" Ton, ohne Abschweifungen, dafür umso intensiver zeichnet Martynova den über Jahre unveränderten Zustand der Trauer nach, dringt dabei zum Wesentlichen vor und hinterlässt dabei laut Rezensent ein Gefühl der Unmittelbarkeit. Nicht zuletzt bewundert er, wie die Lyrikerin Exkurse etwa zu Levinas, Barnes oder Montaigne einflicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2023Im anderen Aggregatzustand
Olga Martynovas "Gespräch über die Trauer" stellt sich in eine große literarische Tradition
Olga Martynova hat ein Tagebuch über die Trauer geschrieben, der Titel "Tagebuch der Trauer" allerdings ist schon, wenn auch nur im Deutschen, vergeben. Dabei müsste man Roland Barthes' "Journal de deuil", merkt Martynova an, richtigerweise mit "Tagebuch des Kummers" übersetzen, zumal Barthes in seinen Notizen den Begriff der Trauer ("chagrin") deutlich von sich weist.
Martynova dagegen hat ein explizites Trauerbuch geschrieben, und obwohl es in Tagebuchform verfasst ist, trifft der Titel "Gespräch über die Trauer" es gut: Die Aufzeichnungen dienen nicht allein der Selbstreflexion, sie treten darüber hinaus in den Dialog mit dem Leser. Martynova geht es nicht darum, ihr eigenes Leid auszustellen, sie will vielmehr ganz unprätentiös und pathosfrei die Beobachtungen, die sie an sich und ihrer Umwelt nach dem Tod ihres Mannes macht, der Welt mitteilen. Ihr Text steht dabei nicht zuletzt im Dialog mit anderen Trauerbüchern, wie eben dem von Roland Barthes oder auch Joan Didions "Das Jahr magischen Denkens".
Wie Didion hat Martynova ihren Mann und Schreibpartner verloren, den Dichter Oleg Jurjew. Anfang der Achtzigerjahre hatten sich die beiden in Leningrad kennengelernt, Anfang der Neunziger zogen sie gemeinsam nach Frankfurt am Main und waren bis zu Jurjews Tod 37 Jahre lang aufs Engste miteinander verbunden, geradezu symbiotisch, wie aus Martynovas Tagebuch hervorgeht. Sie hätten, schreibt sie, im Grunde keine engeren Freunde gehabt, weil sie sich selbst genügten - mit Ausnahme der Leningrader Dichterin Jelena Schwarz (eine Auswahl von deren Gedichten hat Martynovas und Jurjews Sohn Daniel jüngst übersetzt; F.A.Z. vom 8. Juni 2022).
Jurjew starb ebenso wie Jelena Schwarz vorzeitig, mit 58 Jahren im Juli 2018. Einen Monat danach setzt das Tagebuch ein, und gleich im ersten Eintrag markiert Martynova eine der Grunderfahrungen der Trauer: "Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor."
Dass die Zeit anders verläuft im Zustand der Trauer, dass man eigentlich außerhalb der Zeit steht, die Erfahrung von Zeit aussetzt und jede Bedeutung verliert, auf diese "erstarrte Zeit" kommt die Autorin immer wieder zu sprechen. Der Chronologie des Tagebuchs entspricht daher auch keine Entwicklung der Trauererfahrung. Die Trauer ist am 3. August 2018 keine andere als am 3. Februar 2021, dem Datum des letzten Eintrags. Zwar sagt Martynova, wenn sie einige Zeit nach Jurjews Tod nach ihrem Befinden gefragt wird, es ginge ihr gut. Aber das geschieht nur, um Erwartungen zu erfüllen, als wäre Trauer etwas, das man abarbeiten und irgendwann abhaken könnte.
Für Martynova jedoch wird die Trauer Teil des Lebens, eine existenzielle Erfahrung, die sie, wäre sie vor ihrem Mann gestorben, nie gemacht hätte: "Das gehört nicht zwangsläufig zu jedem Leben. Interessanterweise", stellt sie lakonisch fest. Wie ihr Ton überhaupt lakonisch, klar und elegant ist, dabei aber eine große emotionale Intensität transportiert, ganz so als würde die Erfahrung der Trauer keinen Raum lassen für sprachliches oder gedankliches Beiwerk, für Nebensächlichkeiten und Abschweifungen. Der Bedeutungsfilter verengt sich: Stirbt der nächste Angehörige, stellt sich mehr denn je die Frage, was wirklich wichtig ist, was übrig bleibt.
Für Martynova ist es zweifellos die Literatur, das eigene Werk, das Werk ihres Mannes, das zu pflegen sie sich zur Aufgabe gemacht hat, die Werke der Schriftsteller, die ihr, wie Novalis oder Jelena Schwarz, besonders am Herzen liegen. Wichtig sind ihr auch jene Dichter und Denker, die ihr Begleiter in der Trauer sind, C. S. Lewis und Julian Barnes, Emmanuel Lévinas und Michel de Montaigne.
Montaigne hatte früh seinen Freund Etienne de la Boëtie verloren, ein ähnlich existenzieller Verlust wie der Jurjews für Martynova, der Verlust eines innigst geliebten Menschen, der paradoxer- oder auch konsequenterweise in einen Zustand der Trauer führt, der, wie Martynova feststellt, der Verliebtheit nahe verwandt ist: "Der Mensch wird von Trauer ebenso ergriffen wie von Verliebtheit. Die Trauer ist ein Aggregatzustand des Menschen."
Jeder hat seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Martynova erzählt von einem Dichterkollegen, der auf einem Literaturfestival die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhält und gleich am nächsten Tag Gedichte auf dessen Tod vor Publikum vorträgt. Sie selbst notiert am Ende ihres Tagebuchs, sie werde den Text nun kürzen und Wörter wie "Schmerz" streichen, alles, was unbeholfen und peinlich wirkt, vor allem pathetische Ausrufe der Sorte "Leben und Glück sind vorbei".
So haben wir es mit einem durch und durch komponierten und arrangierten Trauerbuch zu tun, einem durchgearbeiteten Werk, das aber, auch wenn es nicht rein aus dem Affekt heraus geschrieben wurde, ganz und gar authentisch ist und unmittelbar wirkt. Es zeigt, dass die Erfahrung von Trauer und Verlust der Verbindung von Emotionalität, Beobachtungsgabe und philosophischer Einsicht nicht im Weg steht; im Gegenteil scheint sie diese noch zu befördern. TOBIAS LEHMKUHL
Olga Martynova: "Gespräch über die Trauer".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 304 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olga Martynovas "Gespräch über die Trauer" stellt sich in eine große literarische Tradition
Olga Martynova hat ein Tagebuch über die Trauer geschrieben, der Titel "Tagebuch der Trauer" allerdings ist schon, wenn auch nur im Deutschen, vergeben. Dabei müsste man Roland Barthes' "Journal de deuil", merkt Martynova an, richtigerweise mit "Tagebuch des Kummers" übersetzen, zumal Barthes in seinen Notizen den Begriff der Trauer ("chagrin") deutlich von sich weist.
Martynova dagegen hat ein explizites Trauerbuch geschrieben, und obwohl es in Tagebuchform verfasst ist, trifft der Titel "Gespräch über die Trauer" es gut: Die Aufzeichnungen dienen nicht allein der Selbstreflexion, sie treten darüber hinaus in den Dialog mit dem Leser. Martynova geht es nicht darum, ihr eigenes Leid auszustellen, sie will vielmehr ganz unprätentiös und pathosfrei die Beobachtungen, die sie an sich und ihrer Umwelt nach dem Tod ihres Mannes macht, der Welt mitteilen. Ihr Text steht dabei nicht zuletzt im Dialog mit anderen Trauerbüchern, wie eben dem von Roland Barthes oder auch Joan Didions "Das Jahr magischen Denkens".
Wie Didion hat Martynova ihren Mann und Schreibpartner verloren, den Dichter Oleg Jurjew. Anfang der Achtzigerjahre hatten sich die beiden in Leningrad kennengelernt, Anfang der Neunziger zogen sie gemeinsam nach Frankfurt am Main und waren bis zu Jurjews Tod 37 Jahre lang aufs Engste miteinander verbunden, geradezu symbiotisch, wie aus Martynovas Tagebuch hervorgeht. Sie hätten, schreibt sie, im Grunde keine engeren Freunde gehabt, weil sie sich selbst genügten - mit Ausnahme der Leningrader Dichterin Jelena Schwarz (eine Auswahl von deren Gedichten hat Martynovas und Jurjews Sohn Daniel jüngst übersetzt; F.A.Z. vom 8. Juni 2022).
Jurjew starb ebenso wie Jelena Schwarz vorzeitig, mit 58 Jahren im Juli 2018. Einen Monat danach setzt das Tagebuch ein, und gleich im ersten Eintrag markiert Martynova eine der Grunderfahrungen der Trauer: "Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor."
Dass die Zeit anders verläuft im Zustand der Trauer, dass man eigentlich außerhalb der Zeit steht, die Erfahrung von Zeit aussetzt und jede Bedeutung verliert, auf diese "erstarrte Zeit" kommt die Autorin immer wieder zu sprechen. Der Chronologie des Tagebuchs entspricht daher auch keine Entwicklung der Trauererfahrung. Die Trauer ist am 3. August 2018 keine andere als am 3. Februar 2021, dem Datum des letzten Eintrags. Zwar sagt Martynova, wenn sie einige Zeit nach Jurjews Tod nach ihrem Befinden gefragt wird, es ginge ihr gut. Aber das geschieht nur, um Erwartungen zu erfüllen, als wäre Trauer etwas, das man abarbeiten und irgendwann abhaken könnte.
Für Martynova jedoch wird die Trauer Teil des Lebens, eine existenzielle Erfahrung, die sie, wäre sie vor ihrem Mann gestorben, nie gemacht hätte: "Das gehört nicht zwangsläufig zu jedem Leben. Interessanterweise", stellt sie lakonisch fest. Wie ihr Ton überhaupt lakonisch, klar und elegant ist, dabei aber eine große emotionale Intensität transportiert, ganz so als würde die Erfahrung der Trauer keinen Raum lassen für sprachliches oder gedankliches Beiwerk, für Nebensächlichkeiten und Abschweifungen. Der Bedeutungsfilter verengt sich: Stirbt der nächste Angehörige, stellt sich mehr denn je die Frage, was wirklich wichtig ist, was übrig bleibt.
Für Martynova ist es zweifellos die Literatur, das eigene Werk, das Werk ihres Mannes, das zu pflegen sie sich zur Aufgabe gemacht hat, die Werke der Schriftsteller, die ihr, wie Novalis oder Jelena Schwarz, besonders am Herzen liegen. Wichtig sind ihr auch jene Dichter und Denker, die ihr Begleiter in der Trauer sind, C. S. Lewis und Julian Barnes, Emmanuel Lévinas und Michel de Montaigne.
Montaigne hatte früh seinen Freund Etienne de la Boëtie verloren, ein ähnlich existenzieller Verlust wie der Jurjews für Martynova, der Verlust eines innigst geliebten Menschen, der paradoxer- oder auch konsequenterweise in einen Zustand der Trauer führt, der, wie Martynova feststellt, der Verliebtheit nahe verwandt ist: "Der Mensch wird von Trauer ebenso ergriffen wie von Verliebtheit. Die Trauer ist ein Aggregatzustand des Menschen."
Jeder hat seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Martynova erzählt von einem Dichterkollegen, der auf einem Literaturfestival die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhält und gleich am nächsten Tag Gedichte auf dessen Tod vor Publikum vorträgt. Sie selbst notiert am Ende ihres Tagebuchs, sie werde den Text nun kürzen und Wörter wie "Schmerz" streichen, alles, was unbeholfen und peinlich wirkt, vor allem pathetische Ausrufe der Sorte "Leben und Glück sind vorbei".
So haben wir es mit einem durch und durch komponierten und arrangierten Trauerbuch zu tun, einem durchgearbeiteten Werk, das aber, auch wenn es nicht rein aus dem Affekt heraus geschrieben wurde, ganz und gar authentisch ist und unmittelbar wirkt. Es zeigt, dass die Erfahrung von Trauer und Verlust der Verbindung von Emotionalität, Beobachtungsgabe und philosophischer Einsicht nicht im Weg steht; im Gegenteil scheint sie diese noch zu befördern. TOBIAS LEHMKUHL
Olga Martynova: "Gespräch über die Trauer".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 304 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
[...] wirken Martynovas Gedichte leicht, spielerisch und elegant. SWR Kultur 20240830