Nach den Gedichten, der Prosa, den Stücken, Schriften und der Autobiographie - basierend auf intensiven Gesprächen im Jahre 1991 - erscheinen zum Abschluß der Ausgabe Heiner Müllers in drei Bänden insgesamt 175 Interviews / Gespräche aus drei Jahrzehnten.Der zweite Band der Abteilung Gespräche (Heiner Müller, Werke 11: Gespräche 2) beinhaltet die Jahre 1987 bis 1991. Das Gespräch mit Müller gesucht haben in dieser Zeit u.a. Ruth Berghaus, Erich Fried, Alexander Kluge oder Alexander Weigel, aber auch Theaterensembles und Zeitungsredaktionen. Ereignisse und Einschätzungen rund um die "Wende" gehören neben vielem anderen zu den Themen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2009Verkünder der Untergänge
Wer den vielen Leben Heiner Müllers auf die Spur kommen will, kann sich jetzt auf die Suche machen: Die drei letzten Bände der Werkausgabe versammeln Gespräche mit dem Dramatiker aus dreißig Jahren.
Unsere Zeit hätte ihm reichlich Stoff geboten: In Pappkartons tragen entlassene Banker ihre Habseligkeiten aus New Yorker Wolkenkratzern. Übernächtigte Staatsfrauen und -männer stemmen sich graugesichtig mit Verstaatlichungen gegen drohende Staatskrisen. Von der Wolokolamsker Chaussee kommt kein Gas mehr für das frierende Europa. Und ein deutscher Milliardär, der sich verspekuliert hat, wirft sich vor den Zug. Dem 1995 verstorbenen Heiner Müller wäre zu den realen Dramen der Gegenwart einiges eingefallen, vielleicht aber nicht gerade dem Dramatiker Müller. Denn "in der großen Aktualität sieht man nichts mehr", begründete er gelegentlich seine ästhetische Zurückhaltung. Dem intellektuellen Chefkommentator Müller jedoch hätte man derzeit in den Medien kaum entkommen können. Angesichts des momentanen Schweigens all jener Autoren, die ansonsten um keine laute Meinung verlegen sind, müssten aber selbst die größten Müller-Skeptiker seine bedeutungsschwanger vernuschelten Deutungen der Lage vermissen. Durs Grünbein hatte seinem Entdecker einst in dieser Zeitung nachgerufen: "Sein Zynismus war Güte / Weil er die Untergänge bekanntgab, die Katastrophen / Von denen der Hausfrieden schwieg." Heiner Müller wäre heute achtzig Jahre alt geworden.
Wer seinen verschiedenen Leben auf die Spur kommen will, kann sich jetzt in einem gigantischen Steinbruch auf die Suche machen. Die drei letzten Bände der bei Suhrkamp erscheinenden Werkausgabe präsentieren auf dreitausend Seiten 175 Gespräche mit dem Dramatiker aus den Jahren 1965 bis 1995, darunter siebzehn unveröffentlichte aus dem Nachlass, allesamt leider zu spärlich kommentiert. Bekannte Gespräche sind abermals abgedruckt, so mit Alexander Kluge, André Müller oder Sylvère Lotringer, aber man findet auch Werkstattgespräche mit Regisseuren oder Deutschlehrern. In den drei Jahrzehnten geht Müller den Weg vom in der DDR verbotenen Dramatiker, der allmählich in der Bundesrepublik entdeckt wird, zum weltweit gespielten Autor, der den Büchnerpreis (West) und den Nationalpreis (Ost) erhält, als Regisseur reüssiert und schließlich 1990 Präsident der Ostberliner Akademie der Künste wird. Da ist er längst zur einzigen gesamtdeutschen Kunstikone geworden, bis hin zur Selbstparodie mit notorischer Zigarre und Whiskyglas ausstaffiert.
In den Gesprächen trifft man auf unendlich viel Theaterhistorie und auf Müller als guten Bekannten: den Aphoristiker, den Geschichtsmystiker, den Intellektuellen mit Lust an Paradoxien, Gegensätzen, Anekdoten und Sottisen. Er lästert mit Frank Castorf über Peter Zadek. Er ist der Seher, der schon 1991 weiß: "Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass der Krieg vorbei ist. Vielleicht ist die Nachkriegsperiode vorbei, aber jetzt beginnt wieder mindestens eine Vorkriegsperiode." Und der unorthodoxe Linke, der 1983 die Angst vor dem dritten Weltkrieg nicht versteht und als Künstler sein "Einverständnis mit der Welt" zu Protokoll gibt.
Müllers Helden tauchen häufig auf: natürlich Shakespeare und Brecht, Marx, Stalin und Hitler; schließlich auch Tacitus und Ovid, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Und selten auch sein großer Gegner: Peter Hacks, der sich bei Müllers Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband 1961 als einziger der Stimme enthalten hatte. Hacks, "der Monarchist", baue sich "sein privates Weimar auf und erkläre das dann für allgemeinverbindlich", moniert Müller 1974, als die persönlichen und ästhetischen Gegensätze bereits unüberbrückbar waren. "Wir verabscheuen uns mit Respekt", bekennt er noch 1990. Das Jahrhundert der Extreme hat ihn nicht losgelassen, so wenig wie seine Jahrgangsgenossen Jürgen Habermas, Walter Kempowski, Christa Wolf oder Werner Tübke. Alles drehte sich sich bei Müller um die deutsche Vergangenheit, mit Schlachten, Blut und Ideologien. Das Jahr 1945 war daher "ein großes Erlebnis für mich": "Das war die schönste Zeit."
Über zwei Drittel der Gespräche stammen aus Müllers letzten acht Lebensjahren. Auch wenn es sich dabei um eine "Form von Literatur" handelt, wie Alexander Kluge jüngst meinte, ist diese Ballung auch Ausdruck einer Schaffenskrise. Ämter werden Fluch und Fluchtort zugleich: "Ich komme gar nicht zum Schreiben. Vor lauter Interviews und der Scheiße mit der Berliner Akademie der Künste, die ich am Hals habe", klagt er 1990. Die Verfertigung der Gedanken beim Reden ist für Müller Therapie und Materialsammlung. Mehr und mehr wird er zur Projektionsfläche, "weil ich jedem etwas anderes sage". Ihm gelingt das Kunststück, immer dabei zu sein und doch irgendwie dagegen.
Die öffentliche Popularität des Intellektuellen geht einher mit Müllers Verstummen als Dramatiker. Sein Poem "Mommsens Block" von 1993 kann auch als Selbstauskunft gelesen werden: "Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde / aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt." Und noch einmal Grünbein: "Über ihm hat sich die Welle geschlossen, das Wasser / Fließt ohne ihn weiter. Sein steinernes Werk / Sinkt langsam zum Grund." Unterwasserarchäologen müssen nunmehr die dramatischen Schätze bergen.
ALEXANDER CAMMANN
Heiner Müller: "Gespräche". Bd. 1-3, hrsg. von Frank Hörnigk (Werke Band 10-12). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 863, 1001 u. 957 S., je Band geb. 38,- [Euro], br. 28,- [Euro].
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Wer den vielen Leben Heiner Müllers auf die Spur kommen will, kann sich jetzt auf die Suche machen: Die drei letzten Bände der Werkausgabe versammeln Gespräche mit dem Dramatiker aus dreißig Jahren.
Unsere Zeit hätte ihm reichlich Stoff geboten: In Pappkartons tragen entlassene Banker ihre Habseligkeiten aus New Yorker Wolkenkratzern. Übernächtigte Staatsfrauen und -männer stemmen sich graugesichtig mit Verstaatlichungen gegen drohende Staatskrisen. Von der Wolokolamsker Chaussee kommt kein Gas mehr für das frierende Europa. Und ein deutscher Milliardär, der sich verspekuliert hat, wirft sich vor den Zug. Dem 1995 verstorbenen Heiner Müller wäre zu den realen Dramen der Gegenwart einiges eingefallen, vielleicht aber nicht gerade dem Dramatiker Müller. Denn "in der großen Aktualität sieht man nichts mehr", begründete er gelegentlich seine ästhetische Zurückhaltung. Dem intellektuellen Chefkommentator Müller jedoch hätte man derzeit in den Medien kaum entkommen können. Angesichts des momentanen Schweigens all jener Autoren, die ansonsten um keine laute Meinung verlegen sind, müssten aber selbst die größten Müller-Skeptiker seine bedeutungsschwanger vernuschelten Deutungen der Lage vermissen. Durs Grünbein hatte seinem Entdecker einst in dieser Zeitung nachgerufen: "Sein Zynismus war Güte / Weil er die Untergänge bekanntgab, die Katastrophen / Von denen der Hausfrieden schwieg." Heiner Müller wäre heute achtzig Jahre alt geworden.
Wer seinen verschiedenen Leben auf die Spur kommen will, kann sich jetzt in einem gigantischen Steinbruch auf die Suche machen. Die drei letzten Bände der bei Suhrkamp erscheinenden Werkausgabe präsentieren auf dreitausend Seiten 175 Gespräche mit dem Dramatiker aus den Jahren 1965 bis 1995, darunter siebzehn unveröffentlichte aus dem Nachlass, allesamt leider zu spärlich kommentiert. Bekannte Gespräche sind abermals abgedruckt, so mit Alexander Kluge, André Müller oder Sylvère Lotringer, aber man findet auch Werkstattgespräche mit Regisseuren oder Deutschlehrern. In den drei Jahrzehnten geht Müller den Weg vom in der DDR verbotenen Dramatiker, der allmählich in der Bundesrepublik entdeckt wird, zum weltweit gespielten Autor, der den Büchnerpreis (West) und den Nationalpreis (Ost) erhält, als Regisseur reüssiert und schließlich 1990 Präsident der Ostberliner Akademie der Künste wird. Da ist er längst zur einzigen gesamtdeutschen Kunstikone geworden, bis hin zur Selbstparodie mit notorischer Zigarre und Whiskyglas ausstaffiert.
In den Gesprächen trifft man auf unendlich viel Theaterhistorie und auf Müller als guten Bekannten: den Aphoristiker, den Geschichtsmystiker, den Intellektuellen mit Lust an Paradoxien, Gegensätzen, Anekdoten und Sottisen. Er lästert mit Frank Castorf über Peter Zadek. Er ist der Seher, der schon 1991 weiß: "Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass der Krieg vorbei ist. Vielleicht ist die Nachkriegsperiode vorbei, aber jetzt beginnt wieder mindestens eine Vorkriegsperiode." Und der unorthodoxe Linke, der 1983 die Angst vor dem dritten Weltkrieg nicht versteht und als Künstler sein "Einverständnis mit der Welt" zu Protokoll gibt.
Müllers Helden tauchen häufig auf: natürlich Shakespeare und Brecht, Marx, Stalin und Hitler; schließlich auch Tacitus und Ovid, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Und selten auch sein großer Gegner: Peter Hacks, der sich bei Müllers Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband 1961 als einziger der Stimme enthalten hatte. Hacks, "der Monarchist", baue sich "sein privates Weimar auf und erkläre das dann für allgemeinverbindlich", moniert Müller 1974, als die persönlichen und ästhetischen Gegensätze bereits unüberbrückbar waren. "Wir verabscheuen uns mit Respekt", bekennt er noch 1990. Das Jahrhundert der Extreme hat ihn nicht losgelassen, so wenig wie seine Jahrgangsgenossen Jürgen Habermas, Walter Kempowski, Christa Wolf oder Werner Tübke. Alles drehte sich sich bei Müller um die deutsche Vergangenheit, mit Schlachten, Blut und Ideologien. Das Jahr 1945 war daher "ein großes Erlebnis für mich": "Das war die schönste Zeit."
Über zwei Drittel der Gespräche stammen aus Müllers letzten acht Lebensjahren. Auch wenn es sich dabei um eine "Form von Literatur" handelt, wie Alexander Kluge jüngst meinte, ist diese Ballung auch Ausdruck einer Schaffenskrise. Ämter werden Fluch und Fluchtort zugleich: "Ich komme gar nicht zum Schreiben. Vor lauter Interviews und der Scheiße mit der Berliner Akademie der Künste, die ich am Hals habe", klagt er 1990. Die Verfertigung der Gedanken beim Reden ist für Müller Therapie und Materialsammlung. Mehr und mehr wird er zur Projektionsfläche, "weil ich jedem etwas anderes sage". Ihm gelingt das Kunststück, immer dabei zu sein und doch irgendwie dagegen.
Die öffentliche Popularität des Intellektuellen geht einher mit Müllers Verstummen als Dramatiker. Sein Poem "Mommsens Block" von 1993 kann auch als Selbstauskunft gelesen werden: "Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde / aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt." Und noch einmal Grünbein: "Über ihm hat sich die Welle geschlossen, das Wasser / Fließt ohne ihn weiter. Sein steinernes Werk / Sinkt langsam zum Grund." Unterwasserarchäologen müssen nunmehr die dramatischen Schätze bergen.
ALEXANDER CAMMANN
Heiner Müller: "Gespräche". Bd. 1-3, hrsg. von Frank Hörnigk (Werke Band 10-12). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 863, 1001 u. 957 S., je Band geb. 38,- [Euro], br. 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In einer sehr ausführlichen Besprechung stellt Stephan Schlak drei jeweils fast tausend Seiten umfassende Bände mit Gesprächen Heiner Müllers vor, die den Abschluss seiner Werkausgabe bilden. Schalk betont die Bedeutung des Gesprächs als eigene Kunstform bei Müller, die in ihrer "epischen" Ausführlichkeit beinahe ein ästhetisches Gegen- oder Ergänzungsprogramm zur "kristallinen Erzählstruktur" seiner Stücke böten. Er verweist auch auf unterschiedliche Funktionen, die die Gespräche im Lauf der Zeit für Müller hatten: Erfüllten sie anfangs eine Kommentarfunktion zu seinen Stücken, die sie auch gegen Angriffe der Kulturfunktionäre verteidigen sollten und zu einem Ort des Taktierens und der Masken in einer Verhörsituation werden konnten, so gerieten sie seit den 80er Jahren immer mehr ins eigentliche Zentrum seiner Produktivität und schienen schließlich in ihrer Bezogenheit auf die Ruinen Europas und die Schrecken des 20. Jahrhunderts seine Ratlosigkeit zu "überdröhnen", insofern Müller zur friedlichen Revolution und der Gegenwart der 90er Jahre wenig Neues zu sagen gewusst habe. Inhaltlich zeichne sich Müller vor allem in den 80er Jahren durch große "historische Unbefangenheit" und "innere Freiheit" aus, als er nicht nur einen Abgesang auf den sozialistischen Block geschaffen habe, sondern mit Lektüren von Carl Schmitt und Ernst Jünger auch noch die westlich-linke Diskurspolizei provozieren konnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Beinahe 3000 Seiten Gespräche, von denen man, einmal vertieft, nicht mehr lassen kann.« Adam Soboczynski DIE ZEIT