Mit ihrer klaren Sprache zieht Kerstin Preiwuß Lyrik den Leser in den Bann. Die Innigkeit und hohe Musikalität der Zeilen, das Bestreben, auch im Detail auf das ganze, oftmals als brüchig empfundene Dasein zu verweisen, macht die Gedichte durchlässig und bei aller Rätselhaftigkeit schön. Ihre Verse gehen ineinander über und stehen doch einzeln für sich, sie loten den Raum aus, in dem wir leben. Stets bleiben sie der Welt zugewandt, halten inne und verbinden Zustand und Episode zu einer großen Atem holenden Erzählung. »Selten so einen Frühling erlebt. Im April immer noch null Grad. Der Ostwind fegt vom Ural bis zu den Mittelgebirgen. Krähen brechen ihren Nestbau ab. Zugvögel treibt es zurück. Alles ist durchsichtig weil Laub fehlt. Das ist wie Leben unter dem Röntgengerät«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Das Jahr des Fischweibs
Solche Geburtsanzeigen stehen nicht in der Zeitung: Was Kerstin Preiwuß in ihre neuen Gedichte einwickelt.
Von Patrick Bahners
Was ist der Mensch? Gottfried Benns Antwort in seinem Gedicht "Melancholie" gilt nicht für alle Menschen und auch beim einzelnen Menschen nicht für alle Zeit. Benns Mensch ist erschöpft und isoliert. Auch die Erfindungen der Kommunikationstechnik führen ihm keine neue Energie zu: "noch eh' ihn Post und Telefone trafen, / ist die Substanz schon leer und ausgeglüht". Kerstin Preiwuß scheint die modernen Kommunikationsmittel etwas freundlicher zu bewerten. Halt gewähren sie im sechsten Gedicht ihres Bandes "Gespür für Licht" einer Person, der es Sorge bereitet, dass sie sich "die Zukunft noch nicht genau vorstellen" kann. "Dagegen die Dinge die zuverlässig sind. / Morgens die Zeitung und die Post am Nachmittag."
Die Zuverlässigkeit der Medien findet ihr Bild im Chiasmus, in der spiegelbildlichen Anordnung der Satzglieder. Der Blick in die Zeitung gibt allerdings gar keinen Aufschluss über die Zukunft. Der Posteingang ebenso wenig. Die Funktion der Texte anderer erschöpft sich in der Ablenkung. Wie bei Benn ist der frühe Morgen die Stunde der fragwürdig gewordenen Wahrheit. "Beim Aufstehen schießt das Blut in die Beine zurück."
Dieser Vers, der siebte des Gedichts von Kerstin Preiwuß, erhellt im Nachhinein den zweiten und dritten: "Wird die Kommode jetzt schon verrückt / oder hängt nur das Bild zu weit links an der Wand?" Diese Frage ist vom Bett aus gesprochen, im Moment des Aufwachens. Das Wort "verrückt" hat hier einen Doppelsinn. Es ist typisch für Kerstin Preiwuß, dass sie die durch ständigen Gebrauch unkenntlich gewordenen Metaphern des Alltagsvokabulars wieder mit ihrem Wortsinn verknüpft. Aber warum kann im Übergang vom Träumen zum Wachen der Verdacht aufkommen, dass die Möbel verrücktspielen? Wieso steht ein Umräumen im Schlafzimmer bevor?
Benns Proband ist ein Mann, den schon das Rasieren wieder ermüdet. Preiwuß lässt eine Frau sprechen, denn wie von selbst identifiziert man das Ich dieses Gedichts mit dem Ich der Gedichte, die ihm vorangehen und folgen. Im unmittelbar vorangehenden Gedicht spricht "eine Frau vom Stamm der Frauen". Die Selbstreferenz zeigt an, dass sie gerade durchmacht, was nur Frauen widerfahren kann: eine Schwangerschaft. Sie spricht das Kind an: "Du bist noch ein Fremdwort. / Atmest schwerelos in deinen Miniaturweltraum."
Hier ist "Fremdwort" ein poetischer Euphemismus, die Übersetzung von Fremdkörper. Was ist der Mensch? In diesem Fall zwei Menschen in einem. Den winzigen Astronauten stellt die All-Mutter sich atmend vor, obwohl sie es ist, die ihn mit Sauerstoff versorgt. Sie trägt ihn im Leib und hält ihn sich durch dichterische Verfremdung vom Leib. In einem späteren Gedicht nennt sie das Kind "eine Halluzination / in einer Blase die nicht platzt". Sie ist in der gleichen Lage: "So muss ich schweben." Mutter und Kind sind im selben Boot, das der Mutterleib ist: "Noch hält die Fracht." Die Ich-Instanz dieser Gedichte, das aus Abituraufsätzen gefürchtete lyrische Ich, hat einen Körper. Eine Leitmotivik des Hohlraums dient der Abgrenzung und Vertauschung der Sphären von Innen und Außen, Subjekt und Welt. Eingangs heißt es: "Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach." Eines der letzten Gedichte beginnt mit der Frage: "Habt ihr meinen Fisch gesehen?" Eine vorgeschlagene Lösung des Suchrätsels: "Vielleicht sitz ich im Bauch des Fischs." Dort aber bewegt sich das Ich wie das Wirtstier in seinem Element. Abschließende Selbsterkenntnis: "Ich bin ein Höhlenfisch."
Das Gedicht schlägt einen Bogen zurück an den Anfang der Sammlung, die sich dadurch als Zyklus erweist. Die Identifikation als Höhlenfisch folgt in der traumweltlichen Szenerie auf die Begegnung mit einem Fisch, der "keine Augen" hat, "aber ein Gespür für Licht". Dieses Empfindungsvermögen, das für ein Sinnesorgan eintritt, nimmt die Dichterin im zweiten Gedicht wie im Titel des Bandes für sich in Anspruch: "Ich habe kein Gespür für mich selbst / aber ein Gespür für Licht." Statt einer Muse ruft sie ein Tier an: "Aalmutter fang an dann rede ich."
Warum soll die Aalmutter anfangen, nicht Sardelle, Forelle oder Silberlachs? Ein Grund springt ins Auge: In der alphabetischen Taxonomie des Tierreichs steht dieser Nordmeeresfisch fast ganz vorne. Seine Beschwörung ist ein Bekenntnis zu den Spielregeln der modernen Poesie. Stéphane Mallarmé, bei dem Kerstin Preiwuß das Motto für ihren 2012 erschienenen zweiten Gedichtband "Rede" fand, soll den Maler Degas darüber aufgeklärt haben, dass man Gedichte nicht aus Ideen mache, sondern aus Wörtern. Kerstin Preiwuß will die Wörter zum Reden bringen. Aber ihr Gespür für Licht geht nicht auf im Geschmack an Klangfarben: keine Brechung ohne Referenz. Die mit dem Namen Aalmutter bezeichnete Idee von Fisch schließt eine im Kontext der Gedichtreihe einschlägige Bestimmung ein: Die Aalmutter ist eine Mutter vom Stamm der Mütter, eine lebendgebärende Art.
Wohin führen solche Parallelen? Der drittletzte Vers des Gedichts über die Unvorstellbarkeit der Zukunft im Morgengrauen stimmt skeptisch: "Alle Vergleiche münden ins Nichts." Als poetologische Aussage entspricht das der Quintessenz von Benns "Melancholie". Eine andere, spezielle Bedeutung des Verses über die nihilistische Bestimmung der Vergleiche stellt sich ein, wenn man die Gebrauchsanweisung befolgt, die Kerstin Preiwuß ihrem Band beigegeben hat, und die Gedichte nacheinander liest: So kann man sie "im Zusammenhang als Teil einer fortlaufenden Erzählung erfahren". Die werdende Mutter kann sich nicht vorstellen, Mutter zu sein. Ihre Vergangenheit enthält nichts, was mit ihrer Zukunft vergleichbar wäre.
Kerstin Preiwuß hat ihren Band als Durchgang durch ein Jahr angelegt und in vier Kapitel gegliedert; jedes der lakonischen Kalenderblätter erzeugt sein eigenes Mikroklima. Ein Gedicht ist kein Ding mehr, das zuverlässig wäre wie die Zeitung; seine Gestalt ist Tagesform. Neues kommt in die Welt, wenn die Dichterin die Aalmutter zitiert: "Die Sprache bekommt dann ein Kind."
Kerstin Preiwuß: "Gespür für Licht". Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2016. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Solche Geburtsanzeigen stehen nicht in der Zeitung: Was Kerstin Preiwuß in ihre neuen Gedichte einwickelt.
Von Patrick Bahners
Was ist der Mensch? Gottfried Benns Antwort in seinem Gedicht "Melancholie" gilt nicht für alle Menschen und auch beim einzelnen Menschen nicht für alle Zeit. Benns Mensch ist erschöpft und isoliert. Auch die Erfindungen der Kommunikationstechnik führen ihm keine neue Energie zu: "noch eh' ihn Post und Telefone trafen, / ist die Substanz schon leer und ausgeglüht". Kerstin Preiwuß scheint die modernen Kommunikationsmittel etwas freundlicher zu bewerten. Halt gewähren sie im sechsten Gedicht ihres Bandes "Gespür für Licht" einer Person, der es Sorge bereitet, dass sie sich "die Zukunft noch nicht genau vorstellen" kann. "Dagegen die Dinge die zuverlässig sind. / Morgens die Zeitung und die Post am Nachmittag."
Die Zuverlässigkeit der Medien findet ihr Bild im Chiasmus, in der spiegelbildlichen Anordnung der Satzglieder. Der Blick in die Zeitung gibt allerdings gar keinen Aufschluss über die Zukunft. Der Posteingang ebenso wenig. Die Funktion der Texte anderer erschöpft sich in der Ablenkung. Wie bei Benn ist der frühe Morgen die Stunde der fragwürdig gewordenen Wahrheit. "Beim Aufstehen schießt das Blut in die Beine zurück."
Dieser Vers, der siebte des Gedichts von Kerstin Preiwuß, erhellt im Nachhinein den zweiten und dritten: "Wird die Kommode jetzt schon verrückt / oder hängt nur das Bild zu weit links an der Wand?" Diese Frage ist vom Bett aus gesprochen, im Moment des Aufwachens. Das Wort "verrückt" hat hier einen Doppelsinn. Es ist typisch für Kerstin Preiwuß, dass sie die durch ständigen Gebrauch unkenntlich gewordenen Metaphern des Alltagsvokabulars wieder mit ihrem Wortsinn verknüpft. Aber warum kann im Übergang vom Träumen zum Wachen der Verdacht aufkommen, dass die Möbel verrücktspielen? Wieso steht ein Umräumen im Schlafzimmer bevor?
Benns Proband ist ein Mann, den schon das Rasieren wieder ermüdet. Preiwuß lässt eine Frau sprechen, denn wie von selbst identifiziert man das Ich dieses Gedichts mit dem Ich der Gedichte, die ihm vorangehen und folgen. Im unmittelbar vorangehenden Gedicht spricht "eine Frau vom Stamm der Frauen". Die Selbstreferenz zeigt an, dass sie gerade durchmacht, was nur Frauen widerfahren kann: eine Schwangerschaft. Sie spricht das Kind an: "Du bist noch ein Fremdwort. / Atmest schwerelos in deinen Miniaturweltraum."
Hier ist "Fremdwort" ein poetischer Euphemismus, die Übersetzung von Fremdkörper. Was ist der Mensch? In diesem Fall zwei Menschen in einem. Den winzigen Astronauten stellt die All-Mutter sich atmend vor, obwohl sie es ist, die ihn mit Sauerstoff versorgt. Sie trägt ihn im Leib und hält ihn sich durch dichterische Verfremdung vom Leib. In einem späteren Gedicht nennt sie das Kind "eine Halluzination / in einer Blase die nicht platzt". Sie ist in der gleichen Lage: "So muss ich schweben." Mutter und Kind sind im selben Boot, das der Mutterleib ist: "Noch hält die Fracht." Die Ich-Instanz dieser Gedichte, das aus Abituraufsätzen gefürchtete lyrische Ich, hat einen Körper. Eine Leitmotivik des Hohlraums dient der Abgrenzung und Vertauschung der Sphären von Innen und Außen, Subjekt und Welt. Eingangs heißt es: "Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach." Eines der letzten Gedichte beginnt mit der Frage: "Habt ihr meinen Fisch gesehen?" Eine vorgeschlagene Lösung des Suchrätsels: "Vielleicht sitz ich im Bauch des Fischs." Dort aber bewegt sich das Ich wie das Wirtstier in seinem Element. Abschließende Selbsterkenntnis: "Ich bin ein Höhlenfisch."
Das Gedicht schlägt einen Bogen zurück an den Anfang der Sammlung, die sich dadurch als Zyklus erweist. Die Identifikation als Höhlenfisch folgt in der traumweltlichen Szenerie auf die Begegnung mit einem Fisch, der "keine Augen" hat, "aber ein Gespür für Licht". Dieses Empfindungsvermögen, das für ein Sinnesorgan eintritt, nimmt die Dichterin im zweiten Gedicht wie im Titel des Bandes für sich in Anspruch: "Ich habe kein Gespür für mich selbst / aber ein Gespür für Licht." Statt einer Muse ruft sie ein Tier an: "Aalmutter fang an dann rede ich."
Warum soll die Aalmutter anfangen, nicht Sardelle, Forelle oder Silberlachs? Ein Grund springt ins Auge: In der alphabetischen Taxonomie des Tierreichs steht dieser Nordmeeresfisch fast ganz vorne. Seine Beschwörung ist ein Bekenntnis zu den Spielregeln der modernen Poesie. Stéphane Mallarmé, bei dem Kerstin Preiwuß das Motto für ihren 2012 erschienenen zweiten Gedichtband "Rede" fand, soll den Maler Degas darüber aufgeklärt haben, dass man Gedichte nicht aus Ideen mache, sondern aus Wörtern. Kerstin Preiwuß will die Wörter zum Reden bringen. Aber ihr Gespür für Licht geht nicht auf im Geschmack an Klangfarben: keine Brechung ohne Referenz. Die mit dem Namen Aalmutter bezeichnete Idee von Fisch schließt eine im Kontext der Gedichtreihe einschlägige Bestimmung ein: Die Aalmutter ist eine Mutter vom Stamm der Mütter, eine lebendgebärende Art.
Wohin führen solche Parallelen? Der drittletzte Vers des Gedichts über die Unvorstellbarkeit der Zukunft im Morgengrauen stimmt skeptisch: "Alle Vergleiche münden ins Nichts." Als poetologische Aussage entspricht das der Quintessenz von Benns "Melancholie". Eine andere, spezielle Bedeutung des Verses über die nihilistische Bestimmung der Vergleiche stellt sich ein, wenn man die Gebrauchsanweisung befolgt, die Kerstin Preiwuß ihrem Band beigegeben hat, und die Gedichte nacheinander liest: So kann man sie "im Zusammenhang als Teil einer fortlaufenden Erzählung erfahren". Die werdende Mutter kann sich nicht vorstellen, Mutter zu sein. Ihre Vergangenheit enthält nichts, was mit ihrer Zukunft vergleichbar wäre.
Kerstin Preiwuß hat ihren Band als Durchgang durch ein Jahr angelegt und in vier Kapitel gegliedert; jedes der lakonischen Kalenderblätter erzeugt sein eigenes Mikroklima. Ein Gedicht ist kein Ding mehr, das zuverlässig wäre wie die Zeitung; seine Gestalt ist Tagesform. Neues kommt in die Welt, wenn die Dichterin die Aalmutter zitiert: "Die Sprache bekommt dann ein Kind."
Kerstin Preiwuß: "Gespür für Licht". Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2016. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016Flimmerhärchen
überall
Kerstin Preiwuß’ neuer
Gedichtband „Gespür für Licht“
In einem kleinen Essay hat Kerstin Preiwuß ihre Idee vom Gedicht einmal mit einem Bild von Matisse verglichen: „Ich stand vor diesem Scherenschnitt, der ein großes Bild war, aber aus gefärbter Luft, und fühlte mich beruhigt. Als wäre ich der Notwendigkeit enthoben, am großen Denkgeräusch mitzuarbeiten, als könne ich Pause machen und einfach nur schauen und verharren. Das war das Meer, was ich da sah, das war das Meer und zugleich der Himmel, das war das Meer, das in den Himmel gewendet war.“
So ähnlich wie diese Meereslandschaft kann man sich die Gedichte von Kerstin Preiwuß vorstellen. Nur, dass die Fische hier manchmal Käfer sind und die Farben Wörter. Oft beginnen die Gedichte mit einer unscheinbaren Wahrnehmung: Eine Amsel badet im Staub, ein Finger zeichnet etwas auf den Körper – oder ein Käfer liegt rücklings im Garten. Doch so unscheinbar die Dinge auch sein mögen, sie bleiben nicht für sich: „Mittags lagen alle Käfer auf dem Rücken. / Als ich den ersten umdrehen wollte sah ich / dass er der Anfang einer Kette von vielen war“. Und so werden die Käfer zu Schwalben und Tauben, verbinden sich mit Erinnerungen und Gedanken, machen nach und nach die unsichtbaren Elemente sichtbar.
Aber das ist nur die eine Seite der Gedichte. Zugleich lockern sie die kausalen Bänder, kehren die vertraute Logik um – auf dass nur das Gefühl bleibe, „wie alles mal zusammenhing“. Wie ein großes Selbstgespräch folgen die Gedichte dem Lauf der Jahreszeiten, holen Bilder einer Schwangerschaft und ihres Abbruchs in die Zeilen. „Kaum zu fassen Flimmerhärchen überall auch innen“, heißt es zu Beginn, und mit einem gekonnten lautlichen Schlenker: „Atme ich atmet es mir nach“. Doch das Atmen ändert sich wie der Rhythmus. Die Luft wird dünn, und „das Auge dreht sich wie irre“. Bis der Atem des „Walnusskinds“ reißt.
Wie in ihrem Gedichtband „Rede“ (2012) tastet Kerstin Preiwuß, die 1980 im mecklenburgischen Lübz geboren wurde, nicht nur emphatischen Momenten nach, sondern auch den Lücken im Gefüge der Dinge – und jener fragwürdigen Instanz, die sich „Ich“ nennt. Und wie dort schleust sie die Sprache und Motive aus Märchen in ihre Verse. Dabei können die Figuren auch reale Lebewesen sein wie die „Aalmutter“, ein kleiner nordatlantischer Fisch, oder die Wölfin, die eine Spur im Schnee hinterlässt.
Über verschleppte Reime oder metrische Anleihen nähert Preiwuß die Gedichte bisweilen dem Gesang an – doch bleiben sie stets nur „fast ein Lied“. Eine kunstvolle Einfachheit bestimmt den Ton. Nur dort, wo sie die Sprache selbst zum Thema machen („Alle Vergleiche münden ins Nichts“) oder allzu deutlich mit Redewendungen spielen, verlieren die Gedichte für Momente ihr Gleichgewicht. „es ist eine steppe in meinen mund gekommen / es ist der wind in meinem mund zum erliegen gekommen“, heißt es in „Rede“. Doch zum Erliegen kommen die Dinge wundersamerweise nie. In wechselnden Rhythmen kann jedes Ding seinen Namen gegen einen anderen tauschen, immer ganz nah am Körper und seinen Regungen und doch hoch bewusst für die Abstraktionen der Sprache – auf dass sie dauernd neue Möglichkeiten zeige und das Meer zugleich der Himmel sei.
NICO BLEUTGE
Kerstin Preiwuß: Gespür für Licht. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2016. 128 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Immer wieder schleust
Preiwuß Sprache und Motive
des Märchens ein
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
überall
Kerstin Preiwuß’ neuer
Gedichtband „Gespür für Licht“
In einem kleinen Essay hat Kerstin Preiwuß ihre Idee vom Gedicht einmal mit einem Bild von Matisse verglichen: „Ich stand vor diesem Scherenschnitt, der ein großes Bild war, aber aus gefärbter Luft, und fühlte mich beruhigt. Als wäre ich der Notwendigkeit enthoben, am großen Denkgeräusch mitzuarbeiten, als könne ich Pause machen und einfach nur schauen und verharren. Das war das Meer, was ich da sah, das war das Meer und zugleich der Himmel, das war das Meer, das in den Himmel gewendet war.“
So ähnlich wie diese Meereslandschaft kann man sich die Gedichte von Kerstin Preiwuß vorstellen. Nur, dass die Fische hier manchmal Käfer sind und die Farben Wörter. Oft beginnen die Gedichte mit einer unscheinbaren Wahrnehmung: Eine Amsel badet im Staub, ein Finger zeichnet etwas auf den Körper – oder ein Käfer liegt rücklings im Garten. Doch so unscheinbar die Dinge auch sein mögen, sie bleiben nicht für sich: „Mittags lagen alle Käfer auf dem Rücken. / Als ich den ersten umdrehen wollte sah ich / dass er der Anfang einer Kette von vielen war“. Und so werden die Käfer zu Schwalben und Tauben, verbinden sich mit Erinnerungen und Gedanken, machen nach und nach die unsichtbaren Elemente sichtbar.
Aber das ist nur die eine Seite der Gedichte. Zugleich lockern sie die kausalen Bänder, kehren die vertraute Logik um – auf dass nur das Gefühl bleibe, „wie alles mal zusammenhing“. Wie ein großes Selbstgespräch folgen die Gedichte dem Lauf der Jahreszeiten, holen Bilder einer Schwangerschaft und ihres Abbruchs in die Zeilen. „Kaum zu fassen Flimmerhärchen überall auch innen“, heißt es zu Beginn, und mit einem gekonnten lautlichen Schlenker: „Atme ich atmet es mir nach“. Doch das Atmen ändert sich wie der Rhythmus. Die Luft wird dünn, und „das Auge dreht sich wie irre“. Bis der Atem des „Walnusskinds“ reißt.
Wie in ihrem Gedichtband „Rede“ (2012) tastet Kerstin Preiwuß, die 1980 im mecklenburgischen Lübz geboren wurde, nicht nur emphatischen Momenten nach, sondern auch den Lücken im Gefüge der Dinge – und jener fragwürdigen Instanz, die sich „Ich“ nennt. Und wie dort schleust sie die Sprache und Motive aus Märchen in ihre Verse. Dabei können die Figuren auch reale Lebewesen sein wie die „Aalmutter“, ein kleiner nordatlantischer Fisch, oder die Wölfin, die eine Spur im Schnee hinterlässt.
Über verschleppte Reime oder metrische Anleihen nähert Preiwuß die Gedichte bisweilen dem Gesang an – doch bleiben sie stets nur „fast ein Lied“. Eine kunstvolle Einfachheit bestimmt den Ton. Nur dort, wo sie die Sprache selbst zum Thema machen („Alle Vergleiche münden ins Nichts“) oder allzu deutlich mit Redewendungen spielen, verlieren die Gedichte für Momente ihr Gleichgewicht. „es ist eine steppe in meinen mund gekommen / es ist der wind in meinem mund zum erliegen gekommen“, heißt es in „Rede“. Doch zum Erliegen kommen die Dinge wundersamerweise nie. In wechselnden Rhythmen kann jedes Ding seinen Namen gegen einen anderen tauschen, immer ganz nah am Körper und seinen Regungen und doch hoch bewusst für die Abstraktionen der Sprache – auf dass sie dauernd neue Möglichkeiten zeige und das Meer zugleich der Himmel sei.
NICO BLEUTGE
Kerstin Preiwuß: Gespür für Licht. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2016. 128 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Immer wieder schleust
Preiwuß Sprache und Motive
des Märchens ein
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kerstin Preiwuß' neuer Gedichtband "Gespür für Licht" hat Rezensent Nico Bleutge ausgesprochen gut gefallen. Die lyrischen Stücke der Dichterin erscheinen dem Kritiker bisweilen wie eine Meereslandschaft, in der er immer mehr unsichtbare Elemente entdeckt. Darüber hinaus bewundert er Preiwuß' Spiel mit der vertrauten Logik, der Fragwürdigkeit der Identität und ihr Gespür für emphatische Momente. Ab und an wirken die mit Märchenmotiven durchsetzten Verse auf Bleutge beinahe wie Gesang. Insbesondere aber lobt der Rezensent ihre "kunstvolle Einfachheit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie die Gedichte Kontakt mit der Welt aufnehmen, zaghaft zunächst bis das lyrische Ich schließlich fast so weit ist, den Kontakt verweigern zu wollen, wie der Wechsel der Gefühlslagen korrespondiert mit den sich ändernden Jahreszeiten, wenn eins zum anderen kommt und eins ins andere dringt, bringen diese beeindruckenden Gedichte auf eine ganz unverwechselbare Weise zum Ausdruck.« Michael Opitz Deutschlandradio Kultur "Lesart" 20160523