Die neunjährige Freda hatte vergessen bei Family Value nach einem Sticker für ihre Sammlung zu fragen. Sie rennt noch einmal zurück. In diesen wenigen Minuten bringt ein Fanatiker das Fast-Food-Restaurant in seine Gewalt. Zehn Jahre später bittet sie ein Journalist um ein Interview und löst in der jungen Frau einen Erinnerungsprozess aus, der verdrängte Wahrheiten aufdeckt. Freda bricht ihr Schweigen und stellt sich der Vergangenheit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.04.2004Notizen aus der Hölle
Erinnerungen an eine Geiselnahme
An einem späten Julinachmittag. Im neu eröffneten Kellerrestaurant der Fast-Food-Kette Family Value steigt ein Mann auf einen Tisch. Aus seiner schwarzen Sporttasche fummelt er eine Selbstladeflinte Marke Barrett. Es ist eine Geiselnahme, der Beginn eines Alptraums. 36 Stunden wird er dauern und 13 Menschen – so oder so – das ganze Leben kosten. Eine davon ist Freda Oppermann. Zum Zeitpunkt der Tat ist sie gerade mal neun und überhaupt nur da, weil sie allein in das Lokal zurückging, um ein paar Wild-West-Sticker für ihre Sammlung zu len
Durch dieses Ereignis wird Freda Oppermann ihr Vertrauen in in sich selbst und die Welt verlieren. In der Nacht wird sie von jetzt an schreiend aufwachen, sich niemals mehr, nicht einmal in ihrem Haus, das mit Schloss und Riegel zur Festung umfunktioniert ist, sicher fühlen. Ihr Leben funktioniert irgendwie. Es scheint ein gutes Leben zu sein, im Kampf für Gerechtigkeit. In der von ihrer Mutter Nancy initiierten Organisation „Guardian Angel” spielt sie die Rolle der jungen Überlebenden, die Show vom Mädchen, das Glück hatte und wird so eine Ikone der Nation stilisiert.
Als die Erzählung beginnt, sind zehn Jahre vergangen. William, ein junger Journalist, bittet Freda um ein Interview. Mit aller Wucht kommt Verdrängtes hoch. Zum Beispiel die Erinnerung an den Geiselnehmer, der sich John Wayne O’Grady nennt und für einen revolutionären Gesellschaftsverbesserer hält, an seine stundenlangen Hasstiraden und Umerziehungsmonologe. Oder an Theo Constantine, den Restaurantmanager, der getötet wird, an die Mitgefangenen und an die Erfahrung panische Angst zu haben. Und immer wieder kommen die Erinnerungen an das Kind, das Freda damals war und das in seiner großen Not ausgerechnet bei dem Mann Schutz sucht, der es zur Soldatin seines irren Rachefeldzugs trimmt. Denn die Fragen, die William (selbst Überlebender des Verbrechens) stellt, hinterfragen nicht nur Fredas fraglose Unschuld – wer unschuldig ist, hat nichts zu gestehen – , sie zwingen die 19-Jährige zurück in eine Vergangenheit, deren Geisel sie bis jetzt ist.
Ian Bone schreibt davon im Wechsel, aus verschiedenen Instanzen heraus. Die Kapitel heißen u.a. Freda Oppermann (heute), John Wayne O’Grady (damals). Das gute Leben der Freda O. (danach) und Papierserviette (Theos Notizen aus der Hölle). Dieser Erinnerungsprozess verläuft wie eine Gerichtsverhandlung, zwischen Zeugenaussage, Beweisaufnahme, Spurensuche, bei dem es auch um Schuld und Unschuld geht, um Manipulation, Scham, Verantwortung, Schicksal. Er wird zu Vergangenheitsbewältigung ohne Freispruch, aber auch ohne Verurteilung.
„Ich will dich dazu bringen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen”, schleudert William Freda entgegen. Jetzt erst kann sie weiterleben; nicht mehr die junge – die erwachsene Überlebende. In einem Adoleszenzroman unter Extrembedingungen. Der liest sich spannend wie ein Thriller, psychologisch genau, schonungslos aufrichtig. (ab 14 Jahre)
CHRISTINE KNÖDLER
IAN BONE: Geständnis einer Unschuldigen. Aus dem australischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann. Ravensburger Buchverlag 2004. 330 Seiten,14,95 Euro .
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Erinnerungen an eine Geiselnahme
An einem späten Julinachmittag. Im neu eröffneten Kellerrestaurant der Fast-Food-Kette Family Value steigt ein Mann auf einen Tisch. Aus seiner schwarzen Sporttasche fummelt er eine Selbstladeflinte Marke Barrett. Es ist eine Geiselnahme, der Beginn eines Alptraums. 36 Stunden wird er dauern und 13 Menschen – so oder so – das ganze Leben kosten. Eine davon ist Freda Oppermann. Zum Zeitpunkt der Tat ist sie gerade mal neun und überhaupt nur da, weil sie allein in das Lokal zurückging, um ein paar Wild-West-Sticker für ihre Sammlung zu len
Durch dieses Ereignis wird Freda Oppermann ihr Vertrauen in in sich selbst und die Welt verlieren. In der Nacht wird sie von jetzt an schreiend aufwachen, sich niemals mehr, nicht einmal in ihrem Haus, das mit Schloss und Riegel zur Festung umfunktioniert ist, sicher fühlen. Ihr Leben funktioniert irgendwie. Es scheint ein gutes Leben zu sein, im Kampf für Gerechtigkeit. In der von ihrer Mutter Nancy initiierten Organisation „Guardian Angel” spielt sie die Rolle der jungen Überlebenden, die Show vom Mädchen, das Glück hatte und wird so eine Ikone der Nation stilisiert.
Als die Erzählung beginnt, sind zehn Jahre vergangen. William, ein junger Journalist, bittet Freda um ein Interview. Mit aller Wucht kommt Verdrängtes hoch. Zum Beispiel die Erinnerung an den Geiselnehmer, der sich John Wayne O’Grady nennt und für einen revolutionären Gesellschaftsverbesserer hält, an seine stundenlangen Hasstiraden und Umerziehungsmonologe. Oder an Theo Constantine, den Restaurantmanager, der getötet wird, an die Mitgefangenen und an die Erfahrung panische Angst zu haben. Und immer wieder kommen die Erinnerungen an das Kind, das Freda damals war und das in seiner großen Not ausgerechnet bei dem Mann Schutz sucht, der es zur Soldatin seines irren Rachefeldzugs trimmt. Denn die Fragen, die William (selbst Überlebender des Verbrechens) stellt, hinterfragen nicht nur Fredas fraglose Unschuld – wer unschuldig ist, hat nichts zu gestehen – , sie zwingen die 19-Jährige zurück in eine Vergangenheit, deren Geisel sie bis jetzt ist.
Ian Bone schreibt davon im Wechsel, aus verschiedenen Instanzen heraus. Die Kapitel heißen u.a. Freda Oppermann (heute), John Wayne O’Grady (damals). Das gute Leben der Freda O. (danach) und Papierserviette (Theos Notizen aus der Hölle). Dieser Erinnerungsprozess verläuft wie eine Gerichtsverhandlung, zwischen Zeugenaussage, Beweisaufnahme, Spurensuche, bei dem es auch um Schuld und Unschuld geht, um Manipulation, Scham, Verantwortung, Schicksal. Er wird zu Vergangenheitsbewältigung ohne Freispruch, aber auch ohne Verurteilung.
„Ich will dich dazu bringen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen”, schleudert William Freda entgegen. Jetzt erst kann sie weiterleben; nicht mehr die junge – die erwachsene Überlebende. In einem Adoleszenzroman unter Extrembedingungen. Der liest sich spannend wie ein Thriller, psychologisch genau, schonungslos aufrichtig. (ab 14 Jahre)
CHRISTINE KNÖDLER
IAN BONE: Geständnis einer Unschuldigen. Aus dem australischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann. Ravensburger Buchverlag 2004. 330 Seiten,14,95 Euro .
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als spannend, "psychologisch genau" und "schonungslos aufrichtig" empfiehlt Rezensentin Christine Knödler diesen Jugendroman des australischen Autors Ian Bone. Es geht um eine junge Frau, die als Kind Opfer einer Geiselnahme wurde und nun, zehn Jahre später, gegenüber einem Journalisten dieses traumatisches Ereignis noch einmal durchlebt und verarbeitet. Und somit geht es auch, wie die beeindruckte Rezensentin festhält, um Schuld und Unschuld, Scham und Verantwortung, Manipulation und Schicksal.
© Perlentaucher Medien GmbH
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