Sie verliebt sich schnell in Amir - charmant, intelligent, interessiert. Die Unterhaltungen belebend, die Nächte im lebhaften São Paulo berauschend. Dann die Ohrfeige, die Beleidigung. Um so weit weg wie nur möglich von ihm zu sein, nimmt die junge Anwältin eine Stelle im entlegenen Cruzeiro do Sul an. Als Beobachterin nimmt sie an Gerichtsverhandlungen zu brutalen Frauenmorden teil. Immer näher kommt sie dem Leben der Opfer - den Töchtern, den Müttern, den Freundinnen. Und immer eindringlicher verfolgen sie Bilder aus ihrer Kindheit, Bilder ihrer eigenen Mutter.
Um der Wirklichkeit zu entkommen, flüchtet sie sich in eine Traumwelt - in geheimnisumwirkte Wälder und Flüsse, an die Seite von Amazonen, die die Täter verfolgen. In der Realität aber scheint die Gerechtigkeit unerreichbar.
Um der Wirklichkeit zu entkommen, flüchtet sie sich in eine Traumwelt - in geheimnisumwirkte Wälder und Flüsse, an die Seite von Amazonen, die die Täter verfolgen. In der Realität aber scheint die Gerechtigkeit unerreichbar.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude hat diesen Roman über eine junge Anwältin aus São Paulo, die in die brasilianische Provinz Acre geschickt wird, um Daten zu Gewalttaten an Frauen zu sammeln, nur schwer ertragen. Die endlosen Variationen der schrecklichen Taten, die ihre Hauptfigur aufzeichnet, sind in den Augen der Kritikerin viel zu real, um sich von ihnen zu distanzieren. Da die Protagonistin selbst auch von einem Mann bedroht wird und Staude bald nicht mehr unterscheiden konnte, was wirklich passiert und was nur eine Rachefantasie der Anwältin ist, sieht sich die Rezensentin einem berechtigterweise wütenden, aber auch dichten und vor dunklen Emotionen "flimmernden" Text gegenüber, der ihrer Meinung nach ein Plädoyer ist, der Gewalt an Frauen endlich Einhalt zu gebieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2021Was ist ein Frauenleben wert?
Die Ausrede, es handele sich um Fiktion, greift nicht: Patrícia Melo sammelt die Schicksale realer Opfer - und offenbart so den Zustand der brasilianischen Gesellschaft.
Selbst wenn sie zur Psyche eines Mörders vordringen könnte - "ihren wirren oder krankhaften oder vorurteilsbeladenen Geist in einem Reagenzglas isolierte und mit eigenen Augen sähe, wo die Fähigkeit, auf den Abzug zu drücken, den Kopf einer Frau zu zersprengen, einer anderen den Hals umzudrehen ihren Ausgangspunkt hat" -, selbst dann, überlegt die junge Anwältin, wäre der Tod all dieser Frauen sinnlos. Es gibt keine Erklärung, Rechtfertigung, keine Katharsis, keine tröstliche Bedeutung, mit der sich ein gewaltsamer Tod nachträglich abmildern lässt. Diese Erkenntnis ist der vielleicht schwärzeste Moment in Patrícia Melos "Gestapelte Frauen", einem Buch, das immerhin auf gut zweihundertfünfzig Seiten Frauenmorde schildert, einer brutaler als der andere.
Brasilien hat ein Problem mit Femiziden. Oft dauert es Jahre, bis ein Gerichtsprozess eingeleitet wird und noch ein paar Jahre länger, wenn das Opfer arm, schwarz oder eine Indigene war. Melo macht in ihrem jüngsten Roman die Schicksale realer Opfer sichtbar. Das ist tröstlich einerseits und zugleich umso niederschmetternder, denn die Ausrede, das Gelesene sei doch nur Fiktion, gilt eben nicht. Eine Rechtsanwältin, von ihrem Ex aus dem vierten Stock geworfen. Eine Frau, im Streit um ein Videospiel vor den Augen des Sohnes vom Ehemann erschossen. Alles wirklich passiert.
Patrícia Melo und das Krimigenre verbindet eine Art Hassliebe. Sie schreibe über Verbrechen, um den Zustand der brasilianischen Gesellschaft zu erfassen, und nicht, um in eine Genreschublade gesteckt zu werden, betont sie immer wieder und wird doch hartnäckig als Krimiautorin etikettiert. Gleich zweimal erhielt sie den Deutschen Krimipreis, 1998 für "O Matador" und 2014 für "Leichendieb". Ihre Geschichten folgen mäßig sympathischen Tunichtguten mitten hinein in die kriminellen Unterbäuche der brasilianischen Metropolen. Die nunmehr Zwölfte wagt den Schritt in die Provinz - die wiederum empfindlich reagiert, wenn ihr idyllisches Image leidet.
Unsere Junganwältin reist in die von dichtem Wald umgebene Mittelstadt Cruzeiro do Sul, um dort für ihre Kanzlei den Prozess gegen die Mörder einer Indigenen zu beobachten. Der Abstand zu São Paulo kommt ihr gelegen, denn ihr Freund Amir - dieser charmante, intelligente Mann - hat ihr im Eifersuchtsrausch eine Ohrfeige verpasst.
Tatsächlich lässt sich "Gestapelte Frauen" nur schwerlich außerhalb des Krimigenres denken. Aber Melos Stilwillen, die Freiheit, mit der sie souverän um generische Versatzstücke herum schreibt, zeigt sich schon auf den ersten Blick in der variablen Struktur ihrer Kapitel. Einige sind mit den Buchstaben des Alphabets überschrieben. Andere sind durchnummeriert, beschreiben kurz und knapp verschiedene Mordfälle. Zuerst erinnert die Aufmachung an nüchternen Aktensprech, doch Melo bringt die Worte in einen singenden Rhythmus, ordnet sie in Versen an, so dass sie Poesie entfalten. Dann die dritte Kapitelform, diesmal nach den Buchstaben des griechischen Alphabets benannt: das sind die Abschnitte, in denen die Anwältin dem Ayahuasca zuspricht, einem Pflanzensud mit psychedelischen Nebenwirkungen.
Die phantasievollen, nicht selten brutal rachelustigen Visionen rücken "Gestapelte Frauen" in die Nähe des magischen Realismus. Aber mit dem Vorwurf des Kulturkolonialismus muss man Patrícia Melo nicht kommen. Sie nutzt die Szenen in den Dörfern der Indigenen auch, um deren schwierigen Stand in der Gesellschaft aufzuzeigen. Die Armut, die Diskriminierung, die ständige Gefahr, dass das verbliebene Land der nächsten Landstraße, der nächsten industriellen Anbaufläche zum Opfer fällt. Die Momente aber, in denen die Anwältin, berauscht von kriegerischen Amazonen, von fliegenden Körperteilen und immer häufiger auch von den verdrängten Traumata ihrer Kindheit phantasiert, bieten eine Möglichkeit, trotz der erklärten Abwesenheit komplexer Figurenpsychologie zu ihrem Kern durchzudringen. Die meiste Zeit über ist sie schwer zu greifen; nicht nur, weil sie namenlos bleibt, sondern auch, weil Melo ihren aufgewühlten Geisteszustand im Whodunit-Part der Geschichte, jenem Teil der Geschichte also, der einem klassischen Krimiplot am nächsten kommt, gekonnt benutzt, um ihre Leserschaft in die Irre zu führen.
Erneut ist es an diesen Stellen in erster Linie der Stil, der die falschen Fährten legt: Ständig erreichen die Anwältin Textnachrichten - manche mit Absender, manche anonym -, die die Autorin kursiv gedruckt und zunächst scheinbar zusammenhanglos in den Text einstreut, wo sie ihren immerzu hochfrequent aus allen Rohren feuernden Rhythmus aus Ellipsen und Aufzählungen für einen Augenblick stocken lassen. Als wäre man es selbst, der diese unheimlichen Nachrichten bekommt, die einen aus dem Tagesablauf herausreißen und jeden konzentrierten Gedanken im Keim zu ersticken drohen.
Wer Patrícia Melo liest, muss sich damit abfinden, dass man sich in ihren Texten kaum an Gewissheiten festhalten kann. Das einzig Faktische sind die Stapel getöteter Frauen.
KATRIN DOERKSEN
Patrícia Melo: "Gestapelte Frauen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita.
Unionsverlag, Zürich 2021.
256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ausrede, es handele sich um Fiktion, greift nicht: Patrícia Melo sammelt die Schicksale realer Opfer - und offenbart so den Zustand der brasilianischen Gesellschaft.
Selbst wenn sie zur Psyche eines Mörders vordringen könnte - "ihren wirren oder krankhaften oder vorurteilsbeladenen Geist in einem Reagenzglas isolierte und mit eigenen Augen sähe, wo die Fähigkeit, auf den Abzug zu drücken, den Kopf einer Frau zu zersprengen, einer anderen den Hals umzudrehen ihren Ausgangspunkt hat" -, selbst dann, überlegt die junge Anwältin, wäre der Tod all dieser Frauen sinnlos. Es gibt keine Erklärung, Rechtfertigung, keine Katharsis, keine tröstliche Bedeutung, mit der sich ein gewaltsamer Tod nachträglich abmildern lässt. Diese Erkenntnis ist der vielleicht schwärzeste Moment in Patrícia Melos "Gestapelte Frauen", einem Buch, das immerhin auf gut zweihundertfünfzig Seiten Frauenmorde schildert, einer brutaler als der andere.
Brasilien hat ein Problem mit Femiziden. Oft dauert es Jahre, bis ein Gerichtsprozess eingeleitet wird und noch ein paar Jahre länger, wenn das Opfer arm, schwarz oder eine Indigene war. Melo macht in ihrem jüngsten Roman die Schicksale realer Opfer sichtbar. Das ist tröstlich einerseits und zugleich umso niederschmetternder, denn die Ausrede, das Gelesene sei doch nur Fiktion, gilt eben nicht. Eine Rechtsanwältin, von ihrem Ex aus dem vierten Stock geworfen. Eine Frau, im Streit um ein Videospiel vor den Augen des Sohnes vom Ehemann erschossen. Alles wirklich passiert.
Patrícia Melo und das Krimigenre verbindet eine Art Hassliebe. Sie schreibe über Verbrechen, um den Zustand der brasilianischen Gesellschaft zu erfassen, und nicht, um in eine Genreschublade gesteckt zu werden, betont sie immer wieder und wird doch hartnäckig als Krimiautorin etikettiert. Gleich zweimal erhielt sie den Deutschen Krimipreis, 1998 für "O Matador" und 2014 für "Leichendieb". Ihre Geschichten folgen mäßig sympathischen Tunichtguten mitten hinein in die kriminellen Unterbäuche der brasilianischen Metropolen. Die nunmehr Zwölfte wagt den Schritt in die Provinz - die wiederum empfindlich reagiert, wenn ihr idyllisches Image leidet.
Unsere Junganwältin reist in die von dichtem Wald umgebene Mittelstadt Cruzeiro do Sul, um dort für ihre Kanzlei den Prozess gegen die Mörder einer Indigenen zu beobachten. Der Abstand zu São Paulo kommt ihr gelegen, denn ihr Freund Amir - dieser charmante, intelligente Mann - hat ihr im Eifersuchtsrausch eine Ohrfeige verpasst.
Tatsächlich lässt sich "Gestapelte Frauen" nur schwerlich außerhalb des Krimigenres denken. Aber Melos Stilwillen, die Freiheit, mit der sie souverän um generische Versatzstücke herum schreibt, zeigt sich schon auf den ersten Blick in der variablen Struktur ihrer Kapitel. Einige sind mit den Buchstaben des Alphabets überschrieben. Andere sind durchnummeriert, beschreiben kurz und knapp verschiedene Mordfälle. Zuerst erinnert die Aufmachung an nüchternen Aktensprech, doch Melo bringt die Worte in einen singenden Rhythmus, ordnet sie in Versen an, so dass sie Poesie entfalten. Dann die dritte Kapitelform, diesmal nach den Buchstaben des griechischen Alphabets benannt: das sind die Abschnitte, in denen die Anwältin dem Ayahuasca zuspricht, einem Pflanzensud mit psychedelischen Nebenwirkungen.
Die phantasievollen, nicht selten brutal rachelustigen Visionen rücken "Gestapelte Frauen" in die Nähe des magischen Realismus. Aber mit dem Vorwurf des Kulturkolonialismus muss man Patrícia Melo nicht kommen. Sie nutzt die Szenen in den Dörfern der Indigenen auch, um deren schwierigen Stand in der Gesellschaft aufzuzeigen. Die Armut, die Diskriminierung, die ständige Gefahr, dass das verbliebene Land der nächsten Landstraße, der nächsten industriellen Anbaufläche zum Opfer fällt. Die Momente aber, in denen die Anwältin, berauscht von kriegerischen Amazonen, von fliegenden Körperteilen und immer häufiger auch von den verdrängten Traumata ihrer Kindheit phantasiert, bieten eine Möglichkeit, trotz der erklärten Abwesenheit komplexer Figurenpsychologie zu ihrem Kern durchzudringen. Die meiste Zeit über ist sie schwer zu greifen; nicht nur, weil sie namenlos bleibt, sondern auch, weil Melo ihren aufgewühlten Geisteszustand im Whodunit-Part der Geschichte, jenem Teil der Geschichte also, der einem klassischen Krimiplot am nächsten kommt, gekonnt benutzt, um ihre Leserschaft in die Irre zu führen.
Erneut ist es an diesen Stellen in erster Linie der Stil, der die falschen Fährten legt: Ständig erreichen die Anwältin Textnachrichten - manche mit Absender, manche anonym -, die die Autorin kursiv gedruckt und zunächst scheinbar zusammenhanglos in den Text einstreut, wo sie ihren immerzu hochfrequent aus allen Rohren feuernden Rhythmus aus Ellipsen und Aufzählungen für einen Augenblick stocken lassen. Als wäre man es selbst, der diese unheimlichen Nachrichten bekommt, die einen aus dem Tagesablauf herausreißen und jeden konzentrierten Gedanken im Keim zu ersticken drohen.
Wer Patrícia Melo liest, muss sich damit abfinden, dass man sich in ihren Texten kaum an Gewissheiten festhalten kann. Das einzig Faktische sind die Stapel getöteter Frauen.
KATRIN DOERKSEN
Patrícia Melo: "Gestapelte Frauen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita.
Unionsverlag, Zürich 2021.
256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Patrícia Melo sprengt mit Energie und Farbe die Grenzen zwischen zwei Welten. Gestapelte Frauen vibriert vor Wut über die Femizide und leuchtet in halluzinatorischen Bildern von Jaguaren und Amazonen.« Martina Läubli NZZ - Bücher am Sonntag