Ein danteskes Purgatorio
Ein phantastischer Roman? Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern auf Fakten basiert, die allerdings von einer Romanhandlung umhüllt sind. Ja, weil er den LeserInnen eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet, ein Menü, das aus
testerongeschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.
Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige,…mehrEin danteskes Purgatorio
Ein phantastischer Roman? Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern auf Fakten basiert, die allerdings von einer Romanhandlung umhüllt sind. Ja, weil er den LeserInnen eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet, ein Menü, das aus testerongeschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.
Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin. Diese wird von ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt im Südwesten Brasiliens geschickt. Als Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Eines offenbart sich klar und deutlich: die Täter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analpheten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, ausbeuten, aussaugen, überfordern.
Die Leiche eines gefolterten vergewaltigten indigenen Mädchens wird abgelegt im Flussschilf gefunden. Auf dem Rücken im Wasser treibend, geknebelt, mit abgeschnittenen Brustwarzen und Glasscherben in der Vagina. Die drei angeklagten jungen Männer gehören zur Haute volée des Ortes und werden selbstverständlich freigesprochen. Denn Eingeborene sind keine wirklichen Menschen und Frauen noch weniger. Eine Reportage der mutigen Chefredakteurin Rita vom Diario da Estrella über das Leben der drei Playboys kostet sie das Leben. Aber auch die drei jungen Täter ereilt ihr Schicksal. Und die Staatsanwältin Carla findet in dieser Spirale der Gewalt ein ebenfalls ein tragisches Ende.
Eingebettet in diese eindringlichen Mordfälle sind die schamanistischen Reisen der Erzählerin durch Zapira, die sie durch Ayahuasca in Traum- und Wachhalluzinationen das Unsichtbare und das Verborgene in einem Kreis von mit Vogelfedern geschmückten Frauen sehen lässt. Die Frau der Grünen Steine ist ihre Anführerin. Dies sei ein Krieg, ein Gemetzel, eine Epidemie. Und sie stellt die Frage: warum töten wir Frauen nicht? Sind es die anders komponierten Hormone, die gesellschaftlichen Strukturen, die weichere Physis oder weil wir Trägerinnen des Leben sind? Denn die Männer töten nicht nur uns, sie töten die Tiere, die Flüsse, die Wälder und die Meere. Sie töten das Leben.
Die Erzählerin beginnt ein Aufklärungsprojekt: aus gesammelten Fotos und Aufzählungen der Mord- und Folterwerkzeuge, der verunstalteten Körperteile stellt sie eine Website zusammen: gestapeltefrauen.com.
Eine erschreckende Lektüre, bei der die Leserschaft sich schütteln möchte, mit offenem Mund und einem Fragezeichen im Gesicht: ist das möglich? Kann das wahr sein? Femizide sind jedoch kein „exotisches“ Problem. Auch in unseren westlich aufgeklärten Gesellschaften sind Frauen-morde und Gewalt gegen Frauen alltäglich. Sie sind nur subtiler verpackt in den Villen und Reihenhäusern. Geschieht all das im „Hier und Jetzt“, in diesen modernen Zeiten? Oder gerade, weil wir in modernen Zeiten leben?
Frau Melo gebührt großer Dank für ihre augenöffnende Arbeit und ihre intensiven Recherchen,
die uns allen, Frauen wie Männer, zum Nachdenken und Handeln anregen und zwingen sollte.
Sie ist ein Kompass durch den Dschungel, dem männlichen mit seinen „Testosteronalien“ und dem grünwuchernden des Amazonas und der Amazonen, einer bald verlorenen Welt.
Das Buch ist ein Plädoyer für Achtsamkeit im Miteinander der Geschlechter (m/w/d) und für Respekt im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ.
Denn: Die Würde des Men