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Dieser Band enthält die Aufsätze, die Alberto Giacometti zu Lebzeiten in Zeitschriften veröffentlichte, Auszüge aus seinen bisher unveröffentlichten 'carnets', sowie Gespräche und Interviews. Jeder einzelne Text legt Zeugnis ab über das Leben, Denken und Schaffen dieses vielseitig begabten Künstlers.

Produktbeschreibung
Dieser Band enthält die Aufsätze, die Alberto Giacometti zu Lebzeiten in Zeitschriften veröffentlichte, Auszüge aus seinen bisher unveröffentlichten 'carnets', sowie Gespräche und Interviews. Jeder einzelne Text legt Zeugnis ab über das Leben, Denken und Schaffen dieses vielseitig begabten Künstlers.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2000

Eine Nase nach der Natur kopieren
Der Bildhauer als Literat: Giacometti in seinen Schriften · Von Günter Metken

Henri Cartier-Bressons berühmtes Foto zeigt ihn bei strömendem Regen, die Rue d'Alésia überquerend, den Mantel über den Kopf gezogen, die Zigarette in der Hand. Die Aufnahme ist trotz aller Valeurs grau in grau wie dieser Clochard selber, der einer der exemplarischen Bildhauer der Moderne war, aber obschon längst wohlhabend, den Lebensstil des Anachoreten in seiner Atelierhöhle beibehielt, das Pendeln zwischen Sisyphusarbeit und Café.

Alberto Giacometti - ein amerikanischer Kritiker hat ihn als Mischung aus Michelangelo und den Marx Brothers bezeichnet, zugleich Tragiker und Clown also. Wo immer man ihn zu fassen sucht, stößt man auf Literatur. Auch beim Künstler selbst, dessen Traumprotokolle und Texte über Callot, Falconet, Braque, Derain und Henri Laurens Schlüssel zum eigenen Werk sind. Ein Werk, das die eigennützigen Aussagen anderer eher vernebelt haben. Giacomettis Bemühung um das plastisch-malerische Erfassen der sich ihm entziehenden Wirklichkeit hat nach dem Zweiten Weltkrieg Furore gemacht. Die ausgemergelten, gelängten Gestalten, ihre Einsamkeit miteinander, der starrende, durch kein Gegenüber abgelenkte Blick: alles schien Ausdruck ständigen Scheiterns. Entsprechend sahen Sartre, Genet, Francis Ponge und der Philosoph Merleau-Pont in ihm eine Verkörperung des Existenzialismus; der absurde Freiheitsbegriff eines Albert Camus schien hier vergegenwärtigt. Die Analogie dieser geschundenen, im Unterwegssein erstarrten Restmenschen zu den Figuren Samuel Becketts fiel auf. Und bei großen Anlässen war man mit Heideggers Geworfensein rasch zur Hand.

Giacometti war der metaphysische Künstler im Nihilismus des Aprèsguerre, ein rauer Monolith in der ästhetischen Perfektion von Paris, Eremit in seiner verstaubten Werkstatt am Montparnasse, wo er seit vierzig Jahren, hauste, modellierte, ins Café ging und fasziniert die Prostituierten betrachtete. Dieser Anachoret im Dienst einer verlorenen Sache verschaffte vielen Oberflächlichen in der Stadt ein Alibi und gutes Gewissen. Er trug die Qual des Schöpferischen aus, stellvertretend für alle, die ihn hymnisch hochlobten.

Und ihn gleich einem Orakel befragten, über Malerei und Maler, das Auto, Paris und kein Ende, das Kopieren als kreatives Tun und, immer wieder, über das eigene, stockende, letztlich unvollendbare Werk. Giacomettis Antworten, besessen und abwesend, naiv und raffiniert zugleich, waren in jedem Fall fragmentarisch, so dass die Neugier bei Umfragen und Gesprächen nicht Halt machte und schließlich auch persönliche Notizen erfasste, so als sei hier eine große Konfession in Bruchstücken zu erwarten, wo doch diese Fetzen und hingeworfenen Bemerkungen eines Debattierfreudigen und Querdenkers den anfangs genannten Aufsätzen über Künstler, der Prosadichtung "Gestern, Flugsand" und jenen zwei langen Briefen nicht stand hielten, die er 1950 und 1952 an den Kunsthändler Pierre Matisse in New York richtete; mit ihren gezeichneten und kommentierten Skulpturen sind sie OEuvrekatalog und autobiografischer Schelmenroman zugleich.

Alle Äußerungen Giacomettis scheinen auf einige Grundtatsachen bezogen. Da ist seine Introvertiertheit. Beim Bildhauer-Kollegen Henri Laurens hat er das völlige Überführen von Empfindung in Form bewundert. Er selber rang zeitlebens um die Realisierung psychischer Betroffenheiten; der bei der Ausführung erreichte Grad von Evidenz bezeichnet den Rang des Werkes. Eine zweite Konstante dürfte die Polarisierung gewesen sein. Wie das künstlerische Schaffen, werden auch die Schriften von Antagonismen durchzogen: Mann und Frau, Ruhe und Bewegung, Vorbild und Abbild, Aggression und Verletzlichkeit. Eine Art Flucht nach vorn scheint im Gang zu sein, wie bei den Stehenden und Schreitenden des plastischen OEuvre, welche die fliehende Perspektive à la de Chirico hinwegrafft. Sie sind in theatralisch verkürzter Tiefe angeordnet wie auf einer barocken Raumbühne, in die man hinten zur Verlängerung Zwerge stellte. Als sein Vorbild hat Giacometti einmal in einem schönen Text das grafische Welttheater des Jacques Callot bezeichnet.

Ein weiteres Kennzeichen ist die Hieratik; Giacometti weist auf seine Zeichnungen nach ägyptischer und romanischer Plastik hin. Alles läuft auf die Dehnung und Frontalität des eindimensionalen Menschen hinaus. Mehrfach betont er, wie sehr ihn die in Italien gesehenen altchristlichen Mosaiken, die in frühen Wanderjahren wahrgenommenen Malereien von Giotto und Cimabue zu einem Einfrieren der Emotion in beständigen Schemata angeregt haben; auch der aufgerissene Blick spätrömischer Büsten bestärkte ihn in dieser Richtung.

"Ich stolpere über den Unterschied zwischen Reden und Schreiben", notiert er am 18. Oktober 1965, aus Amerika zurückkehrend, für einen Katalog seiner Zeichnungen nach alter Kunst. "Hab keine Lust zu schreiben: ,Seit meiner Kindheit . . . etc. . . . ' Lieber Stampa, Bank, Tisch, Buch, Bilder, Kopien, Villa Borghese, Atelier, Paris, Abend, Sofa, Bücher, Ägypten, karolingische Miniaturen, Louvre, Gudea 1923, Begeisterung. Die Kunst aller Epochen und aller Zivilisationen gleichzeitig. Ich bin auf einem Schiff, ich komme aus New York zurück, morgen werden wir in Le Havre und in Paris sein."

Zwischen den abbildenden Perioden hat es bei Giacometti von 1925 bis 1934 / 35 eine synthetische Periode gegeben, von heute aus gesehen seine faszinierendste. Kubismus, afrikanische Plastik und mittelmeerische Idole regten ihn damals zu aufgeladenen Verdichtungen an. Es war die Zeit des Kennenlernens, der Übernahme und allmählichen Verwerfung der surrealistischen Gedankenwelt. Hier fanden seine Antagonismen im bedrohlichen Gegensatz von Spitze und Kugel, Käfig und Leere, Vorschnellen und Zurückweichen anschauliche Formulierungen. Er baute mit figuralen Zeichen besetzte Schauplätze, psychische Turnierfelder, benutzte Stacheln, Keile, Schneiden, Spitzen und gespannte Bogen, thematisierte den Geschlechterkonflikt: der Mann vertikal im Gestänge aufgerichtet, die Frau in der Welle gleitend im "Palast um vier Uhr morgens". In Giacomettis halluzinatorischster Konstruktion kristallisiert sich der im berühmten Beitext als Albtraum vorgestellte Ablauf eines Liebeserlebnisses - einer der Höhepunkte des literarischen Surrealismus.

"Im Grunde genommen gibt es für mich keine Kluft zwischen Schreiben und Malen", sagte Giacometti später und meinte damit das Zeichenhafte beider Tätigkeiten, die ihren Gegenstand im anderen Medium nur andeuten, jedoch nicht real wiedergeben können. Vielleicht sollte man deshalb auch die Aufnahme so mancher Bagatelle und Beiläufigkeit in diesem Band akzeptieren, die etwas von Reliquienverehrung hat, von jener Kanonisierung zu Lebzeiten, der Giacometti noch 1965, kurz vor seinem Tode, eine Nase schnitt: "Ich weiß nicht, ob ich ein Komödiant, ein Schlitzohr, ein Schwachkopf oder ein sehr gewissenhafter Knabe bin. Ich weiß nur, dass ich versuchen muss, eine Nase nach der Natur zu kopieren."

Alberto Giacometti: "Gestern, Flugsand." Schriften. Mit einleitenden Texten von Michel Leiris und Jacques Dupin. Verlag Scheidegger & Spiess AG, Zürich 1999. 301 S., geb., 78,- DM.

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