Produktdetails
- Verlag: Akademie
- ISBN-13: 9783050025025
- Artikelnr.: 27177296
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.1995Fragen Sie Ihren Scharfrichter oder Apotheker
Im 18. und 19. Jahrhundert kurierten in Preußen nicht nur Ärzte, sagt Ragnhild Münch
Auf der Berliner Gertraudenbrücke gab es im Jahre 1796 jeden Abend Krach zwischen der Schildwache und den Schönen der Nacht. Die nämlich waren verpflichtet, die Nachteimer einzusammeln (mit dem Argument, sie benutzten ja die Straße überdurchschnittlich stark). Sie entledigten sich des stinkenden Inhalts, indem sie ihn oben von der Brücke mitten in die Spree kippten, statt die Entsorgung dezent unter den Brückenbogen vorzunehmen.
Man erfährt das in Ragnhild Münchs Buch über die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens in Preußen, vor allem in Berlin, vor der Reichsgründung, also vor Bismarcks epochaler Sozialgesetzgebung. Nicht nur Medizin-, Sozial- und Verwaltungshistoriker werden die Details und die Materialfülle ebenso zu schätzen wissen wie die Tatsache, daß jede Aussage gewissenhaft belegt ist. In der Doktorarbeit der Berliner Historikerin nehmen die Fußnoten zuweilen mehr Raum ein als der Text.
Man kann die drei Teile des Buches systematisch und aus historischem Interesse lesen und findet viel Informatives über die Entstehung der Gesundheitsadministration aus der "Medicinischen Polizey" im Sinne des obrigkeitlichen Zwangs der Untertanen zu ihrem Glück und aus der eher karitativen Wohlfahrt; ferner über die komplizierte Struktur des reglementierten und hierarchisch gegliederten kommunalen Gesundheitswesens Berlins; schließlich über die gesundheitsrelevanten städtischen Lebensbedingungen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, vor allem über Wasser und Pockenimpfung. Das Buch läßt sich aber auch von der Gegenwart her lesen und beschert dann Déjà-vu-Erlebnisse. Viele der Probleme, die heute die gesundheitspolitische Debatte bestimmen, sind offenbar uralt, zum Beispiel überflüssige Untersuchungen und Behandlungen: 1693 wurden die Ärzte verpflichtet, die Patienten nicht zu hintergehen und nur das Notwendige zur Heilung zu veranlassen. Auch die noch heute blühende Kurpfuscherei von Außenseitern beschäftigte die Behörden oft: Weil "in Verfertigung und Austheilung der Artzeney und Curen der Krancken große und höchstgefährliche Mißbräuche eingerissen", wurde 1685 die erste brandenburgische Medizinalordnung eingeführt. Dennoch kurierten Schäfer und Scharfrichter, weise Frauen, abgedankte Soldaten und Prediger unbefugt weiter. Als die Arzneimittellobby sich über zu strenge Reglementierungen beklagte, gab Friedrich III. nach (einen Gesundheitsminister hatte er noch nicht) und erlaubte etwa wieder den freien Handverkauf "vitalisierender" und beruhigender Mittel, schaffte seine "Positivliste" wieder ab. Auch vieles andere scheint bekannt: Ausbildungsmängel bei Ärzten, die städtische Über- und ländliche Unterversorgung (gegen die der Alte Fritz vorging), die selektive "Selbsthilfebewegung" im Biedermeier, die die ohnehin zu kurz kommende Unterschicht aussparte. Oder das Bestreben, die Kliniken von den "nur" pflegebedürftigen chronisch Kranken zu entlasten; die Bürokratie der auf zwei Ministerien verteilten Gesundheitsverwaltung; die Bemühungen um Kostendämpfung und staatliche Subventionen. Und nicht zuletzt das Scheitern von Reformen. ROSEMARIE STEIN
Ragnhild Münch: "Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert". Das Berliner Beispiel. Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Akademie Verlag, Berlin 1995. 287 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im 18. und 19. Jahrhundert kurierten in Preußen nicht nur Ärzte, sagt Ragnhild Münch
Auf der Berliner Gertraudenbrücke gab es im Jahre 1796 jeden Abend Krach zwischen der Schildwache und den Schönen der Nacht. Die nämlich waren verpflichtet, die Nachteimer einzusammeln (mit dem Argument, sie benutzten ja die Straße überdurchschnittlich stark). Sie entledigten sich des stinkenden Inhalts, indem sie ihn oben von der Brücke mitten in die Spree kippten, statt die Entsorgung dezent unter den Brückenbogen vorzunehmen.
Man erfährt das in Ragnhild Münchs Buch über die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens in Preußen, vor allem in Berlin, vor der Reichsgründung, also vor Bismarcks epochaler Sozialgesetzgebung. Nicht nur Medizin-, Sozial- und Verwaltungshistoriker werden die Details und die Materialfülle ebenso zu schätzen wissen wie die Tatsache, daß jede Aussage gewissenhaft belegt ist. In der Doktorarbeit der Berliner Historikerin nehmen die Fußnoten zuweilen mehr Raum ein als der Text.
Man kann die drei Teile des Buches systematisch und aus historischem Interesse lesen und findet viel Informatives über die Entstehung der Gesundheitsadministration aus der "Medicinischen Polizey" im Sinne des obrigkeitlichen Zwangs der Untertanen zu ihrem Glück und aus der eher karitativen Wohlfahrt; ferner über die komplizierte Struktur des reglementierten und hierarchisch gegliederten kommunalen Gesundheitswesens Berlins; schließlich über die gesundheitsrelevanten städtischen Lebensbedingungen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, vor allem über Wasser und Pockenimpfung. Das Buch läßt sich aber auch von der Gegenwart her lesen und beschert dann Déjà-vu-Erlebnisse. Viele der Probleme, die heute die gesundheitspolitische Debatte bestimmen, sind offenbar uralt, zum Beispiel überflüssige Untersuchungen und Behandlungen: 1693 wurden die Ärzte verpflichtet, die Patienten nicht zu hintergehen und nur das Notwendige zur Heilung zu veranlassen. Auch die noch heute blühende Kurpfuscherei von Außenseitern beschäftigte die Behörden oft: Weil "in Verfertigung und Austheilung der Artzeney und Curen der Krancken große und höchstgefährliche Mißbräuche eingerissen", wurde 1685 die erste brandenburgische Medizinalordnung eingeführt. Dennoch kurierten Schäfer und Scharfrichter, weise Frauen, abgedankte Soldaten und Prediger unbefugt weiter. Als die Arzneimittellobby sich über zu strenge Reglementierungen beklagte, gab Friedrich III. nach (einen Gesundheitsminister hatte er noch nicht) und erlaubte etwa wieder den freien Handverkauf "vitalisierender" und beruhigender Mittel, schaffte seine "Positivliste" wieder ab. Auch vieles andere scheint bekannt: Ausbildungsmängel bei Ärzten, die städtische Über- und ländliche Unterversorgung (gegen die der Alte Fritz vorging), die selektive "Selbsthilfebewegung" im Biedermeier, die die ohnehin zu kurz kommende Unterschicht aussparte. Oder das Bestreben, die Kliniken von den "nur" pflegebedürftigen chronisch Kranken zu entlasten; die Bürokratie der auf zwei Ministerien verteilten Gesundheitsverwaltung; die Bemühungen um Kostendämpfung und staatliche Subventionen. Und nicht zuletzt das Scheitern von Reformen. ROSEMARIE STEIN
Ragnhild Münch: "Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert". Das Berliner Beispiel. Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Akademie Verlag, Berlin 1995. 287 S., geb., 98,- DM.
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