Das Schicksal der evangelischen Christen jüdischer Herkunft in Hessen während des Nationalsozialismus wurde lange verdrängt und ist so weitgehend unbekannt. Nach nationalsozialistischer Definition galten diese Christen als "Juden" und wurden antisemitisch verfolgt. In Hessen waren sie einer oft tödlichen Verfolgung ausgesetzt, hunderte wurden im Holocaust ermordet. Die evangelischen Kirchen schwiegen zur Verfolgung der Juden. Auch ihre eigenen Kirchenmitglieder mit jüdischer Herkunft schützten sie nicht und grenzten sie aus. Die Landeskirche von Nassau-Hessen schloss ihre Mitglieder sogar aus der Kirche aus. Das Sakrament der Taufe wurde verraten. Nur einzelne Menschen aus der Kirche standen den Bedrängten zur Seite.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2014Vom Verrat an der Taufe
Die evangelische Kirche und Christen jüdischer Herkunft
HANAU. "Keinem Juden sollen die Heilswerte des Evangeliums verschlossen werden, aber durch die Taufe wird ein Jude nicht ein deutscher Christ, sondern ein Judenchrist", schrieb einst ein Frankfurter Kirchenvorstand. Deshalb, so der evangelische Kirchenmann, stehe bei der Frage um die Zugehörigkeit zu der Glaubensbewegung der deutschen Christen nicht das Dogma, sondern die Rasse im Vordergrund: "Bei einem geschlossenen Willen zur Reinhaltung des Blutes ist jede Freiheit in Glaubensdingen möglich." Was hinter diesen Worten stand, war unter vielen evangelischen Kirchgängern im Nationalsozialismus Konsens: Juden waren in ihrer Gemeinschaft schon bald nach der Machtergreifung nicht erwünscht, auch wenn sie sich zum Christentum bekannten.
Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus gehöre zu den düsteren Kapiteln der Kirchengeschichte. Bis heute sei es beklemmend, wie eng sich die evangelischen Kirchen seit dem Jahr 1933 an die neuen Machthaber banden, schreiben denn auch Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, und Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, in ihrem gemeinsamen Vorwort zu einer neuen Publikation des Hanauer Cocon-Verlags, die laut Jung und Hein ein "dramatisches Schlaglicht" wirft auf den Umgang mit Christen, die jüdischer Herkunft waren.
Nach und nach seien die sogenannten nichtarischen Mitglieder systematisch ausgegrenzt worden. Während in der jüdischen Tradition das Gedenken an die im Holocaust getöteten Christen jüdischer Herkunft einen festen Platz besitze, seien diese Schicksale in der evangelischen Kirche bisher kaum wahrgenommen worden. Auch mit Hilfe des Bandes "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus" soll dies nachgeholt werden.
Herausgeber sind mehrere Teilnehmer an einem zweijährigen hessischen Forschungsprojekt der evangelischen Kirchen in Hessen zum Umgang mit den Christen jüdischer Herkunft, darunter der Großkrotzenburger Pfarrer Heinz Daume, Vorsitzender der Hanauer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, sowie die Nidderauer Historikerin Monica Kingreen, Verfasserin des ebenfalls im Cocon-Verlag erschienenen Bandes über das jüdische Landleben in den Nidderauer Ortsteilen Windecken, Ostheim und Heldenbergen. Ausgangspunkt der Ausgrenzung und Ermordung war der "Verrat an der Taufe", den die Mitautoren Werner Schneider-Quindeau und Hermann Düringer beleuchten. So heißt es nach ihren Recherchen in einer Erklärung der sieben evangelischen Landeskirchen vom Dezember 1941, dass sich durch die christliche Taufe an der rassischen Eigenart eines Juden nichts ändere. Die evangelische Kirche habe das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern, rassejüdische Christen hätten in ihr keinen Raum und kein Recht. Dies war den beiden Autoren zufolge nichts weniger als ein Verrat an der Taufe gewesen: Menschen, die das Sakrament empfangen hätten, sei fortan der Zugang zur Kirche verwehrt worden.
Als Grundlagen der Forschungsarbeit der beiden evangelischen Kirchen in Hessen über das Schicksal der Christen jüdischer Abstammung im nördlichen Teil Hessens dienten unter anderem die Datenbank des Jüdischen Museums in Frankfurt, die überlieferten Daten einer Volkszählung aus dem Jahr 1939 und regionale und überregionale Archive wie das Hessische Staatsarchiv sowie die Archive von Kirchengemeinden. So stieß man auf rund 270 Personen, deren Schicksal verfolgt werden konnte. Viele dieser Menschen, die oft einen jüdischen und einen christlichen Elternteil hatten, wurden in den Vernichtungslagern ermordet, anderen gelang es, rechtzeitig zu emigrieren.
Der Band versteht sich als "Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch" mit unterschiedlichen Beiträgen von wissenschaftlicher Auswertung und historischen Hintergrundinformationen über Lebensbilder bis hin zu Kapiteln für den Schulunterricht. Dabei begegnet der Leser nicht nur Verfolgten, sondern auch beherzten Kirchenleuten, die ihnen halfen, wie dem Pfarrer Arnold Schumacher, der im Jahr 1938 die "Hilfsstelle für nichtarische Christen" einrichtete, oder dem Frankfurter Pfarrer Otto Fricke vom "Bockenheimer Netzwerk" zur Hilfe für Juden und Christen jüdischer Herkunft. Die von Schumacher eingerichtete Hilfsstelle verhalf manchem Verfolgten zur Flucht und war auch in den Nachkriegsjahren als "Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen" mit Beratungs- und Unterstützungsleistungen aktiv.
Geschildert werden in dem Buch zudem Lebensbilder von Verfolgten und Ermordeten sowie Erinnerungen von Zeitzeugen. Namen der ermordeten evangelischen Christen und ihrer Angehörigen werden aufgelistet. Zudem gibt es Vorschläge zu Formen der Erinnerung und des Gedenkens an die Verfolgten.
LUISE GLASER-LOTZ
Der Band "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus" ist erschienen im Cocon-Verlag Hanau und kostet 29,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die evangelische Kirche und Christen jüdischer Herkunft
HANAU. "Keinem Juden sollen die Heilswerte des Evangeliums verschlossen werden, aber durch die Taufe wird ein Jude nicht ein deutscher Christ, sondern ein Judenchrist", schrieb einst ein Frankfurter Kirchenvorstand. Deshalb, so der evangelische Kirchenmann, stehe bei der Frage um die Zugehörigkeit zu der Glaubensbewegung der deutschen Christen nicht das Dogma, sondern die Rasse im Vordergrund: "Bei einem geschlossenen Willen zur Reinhaltung des Blutes ist jede Freiheit in Glaubensdingen möglich." Was hinter diesen Worten stand, war unter vielen evangelischen Kirchgängern im Nationalsozialismus Konsens: Juden waren in ihrer Gemeinschaft schon bald nach der Machtergreifung nicht erwünscht, auch wenn sie sich zum Christentum bekannten.
Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus gehöre zu den düsteren Kapiteln der Kirchengeschichte. Bis heute sei es beklemmend, wie eng sich die evangelischen Kirchen seit dem Jahr 1933 an die neuen Machthaber banden, schreiben denn auch Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, und Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, in ihrem gemeinsamen Vorwort zu einer neuen Publikation des Hanauer Cocon-Verlags, die laut Jung und Hein ein "dramatisches Schlaglicht" wirft auf den Umgang mit Christen, die jüdischer Herkunft waren.
Nach und nach seien die sogenannten nichtarischen Mitglieder systematisch ausgegrenzt worden. Während in der jüdischen Tradition das Gedenken an die im Holocaust getöteten Christen jüdischer Herkunft einen festen Platz besitze, seien diese Schicksale in der evangelischen Kirche bisher kaum wahrgenommen worden. Auch mit Hilfe des Bandes "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus" soll dies nachgeholt werden.
Herausgeber sind mehrere Teilnehmer an einem zweijährigen hessischen Forschungsprojekt der evangelischen Kirchen in Hessen zum Umgang mit den Christen jüdischer Herkunft, darunter der Großkrotzenburger Pfarrer Heinz Daume, Vorsitzender der Hanauer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, sowie die Nidderauer Historikerin Monica Kingreen, Verfasserin des ebenfalls im Cocon-Verlag erschienenen Bandes über das jüdische Landleben in den Nidderauer Ortsteilen Windecken, Ostheim und Heldenbergen. Ausgangspunkt der Ausgrenzung und Ermordung war der "Verrat an der Taufe", den die Mitautoren Werner Schneider-Quindeau und Hermann Düringer beleuchten. So heißt es nach ihren Recherchen in einer Erklärung der sieben evangelischen Landeskirchen vom Dezember 1941, dass sich durch die christliche Taufe an der rassischen Eigenart eines Juden nichts ändere. Die evangelische Kirche habe das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern, rassejüdische Christen hätten in ihr keinen Raum und kein Recht. Dies war den beiden Autoren zufolge nichts weniger als ein Verrat an der Taufe gewesen: Menschen, die das Sakrament empfangen hätten, sei fortan der Zugang zur Kirche verwehrt worden.
Als Grundlagen der Forschungsarbeit der beiden evangelischen Kirchen in Hessen über das Schicksal der Christen jüdischer Abstammung im nördlichen Teil Hessens dienten unter anderem die Datenbank des Jüdischen Museums in Frankfurt, die überlieferten Daten einer Volkszählung aus dem Jahr 1939 und regionale und überregionale Archive wie das Hessische Staatsarchiv sowie die Archive von Kirchengemeinden. So stieß man auf rund 270 Personen, deren Schicksal verfolgt werden konnte. Viele dieser Menschen, die oft einen jüdischen und einen christlichen Elternteil hatten, wurden in den Vernichtungslagern ermordet, anderen gelang es, rechtzeitig zu emigrieren.
Der Band versteht sich als "Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch" mit unterschiedlichen Beiträgen von wissenschaftlicher Auswertung und historischen Hintergrundinformationen über Lebensbilder bis hin zu Kapiteln für den Schulunterricht. Dabei begegnet der Leser nicht nur Verfolgten, sondern auch beherzten Kirchenleuten, die ihnen halfen, wie dem Pfarrer Arnold Schumacher, der im Jahr 1938 die "Hilfsstelle für nichtarische Christen" einrichtete, oder dem Frankfurter Pfarrer Otto Fricke vom "Bockenheimer Netzwerk" zur Hilfe für Juden und Christen jüdischer Herkunft. Die von Schumacher eingerichtete Hilfsstelle verhalf manchem Verfolgten zur Flucht und war auch in den Nachkriegsjahren als "Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen" mit Beratungs- und Unterstützungsleistungen aktiv.
Geschildert werden in dem Buch zudem Lebensbilder von Verfolgten und Ermordeten sowie Erinnerungen von Zeitzeugen. Namen der ermordeten evangelischen Christen und ihrer Angehörigen werden aufgelistet. Zudem gibt es Vorschläge zu Formen der Erinnerung und des Gedenkens an die Verfolgten.
LUISE GLASER-LOTZ
Der Band "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus" ist erschienen im Cocon-Verlag Hanau und kostet 29,80 Euro.
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