Die Deutschlandpolitik in der Ära Adenauer.
Die "neue Ostpolitik" - zur Deutschlandpolitik seit den 60er Jahren.
Die internationale Politik, Prozesse in Osteuropa und die Verhältnisse in Deutschland seit den 70er Jahren.
Bericht und Stellungnahmen von Politikern.
Stimmen von DDR-Oppositionellen.
Die "neue Ostpolitik" - zur Deutschlandpolitik seit den 60er Jahren.
Die internationale Politik, Prozesse in Osteuropa und die Verhältnisse in Deutschland seit den 70er Jahren.
Bericht und Stellungnahmen von Politikern.
Stimmen von DDR-Oppositionellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.1995Fröhliche Parteiwissenschaft
SPD-nahe Historiker kämpfen um das Interpretationsmonopol der DDR-Geschichte
Bernd Faulenbach, Markus Meckel, Hermann Weber (Herausgeber): Die Partei hatte immer recht. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Klartext Verlag, Essen 1994. 294 Seiten, 19,80 Mark.
Wenn Politiker und Historiker sich mit zeitgeschichtlichen Themen befassen, an denen sie als Akteure selbst mitgewirkt haben, unterliegen sie immer der Gefahr nachträglicher Rechtfertigung. Um ungeniert Geschichtspolitik betreiben zu können, spielen in diesem Buch Politiker und Wissenschaftler Doppelpaß: Wissenschaftler bestätigen Politikern erfolgreiche Politik, Politiker bescheinigen diesen Wissenschaftlern Seriosität.
Als Mannschaftskapitän und linker Verteidiger agiert Bernd Faulenbach, der Vorsitzende der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Der Sammelband ist im Grunde ein Kommentar zur Arbeit der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Zentrale Themen sind der Aussagewert der hinterlassenen SED- und MfS-Akten, die Diskussion um Täter und Opfer und vor allem die Bewertung der deutsch-deutschen Politik. Faulenbach begrüßt in der Einleitung die breite Auseinandersetzung über die DDR-Vergangenheit, beklagt aber zugleich ihre Art, etwa im "Fall Stolpe". Eine Sichtweise der SED-Kirchenpolitik, die den Fall Stolpe ausblendet, hatten bereits sozialdemokratische Mitglieder der Bundestags-Kommission vergeblich versucht durchzusetzen.
Ebenso skeptisch sieht Faulenbach die strafrechtliche Aufarbeitung, die von vielen Bürgern seiner Meinung nach als Kriminalisierung der gesamten DDR-Vergangenheit aufgefaßt wird. Hinzu kommt das Problem der personellen Zuordnung politischer Verantwortung für Unterdrückung und Verfolgung in der DDR; Faulenbach charakterisiert die DDR als ein System "organisierter Verantwortungslosigkeit". Wie mehrere Autoren in diesem Buch bezieht Faulenbach gegen die Fiktion Stellung, die Staatsverbrechen von SED und NSDAP seien gleichrangig, obschon kein seriöser Wissenschaftler oder Politiker dergleichen behauptet hat. Den Bürgerrechtlern wird Rigorismus aus Vergeltungssucht vorgeworfen: Wie andere zumeist antikommunistisch eingefärbte Kritiker der SED übersähen sie, daß es vor 1989 nur die Hoffnung auf eine "Reformperspektive" gegeben habe.
Damit erübrigt sich eine kritische Analyse der gescheiterten sozialdemokratischen Strategie, die in dem gemeinsamen Ideologiepapier mit der SED gipfelte, ebenso wie eine Antwort auf die von Faulenbach angesprochene und nicht beantwortete Frage, warum so viele Westdeutsche sich mit den Menschenrechtsverletzungen in der DDR abgefunden hatten. Kompliziert bleiben für ihn die Bestimmung der Opfer der SED-Diktatur und der Umgang mit ihnen. In einem weiten Sinne seien ja die meisten DDR-Bürger Opfer gewesen, weil sie im Vergleich zum Westen geringere Lebenschancen gehabt hätten: "Systemopfer" eben. Wer zu den Opfern gezählt werden könne, listet im Detail Johannes L. Kuppe in seinem Beitrag auf, so daß am Schluß fast nur noch "Opfer" die DDR bevölkerten. Eines leistet dieser Beitrag vorzüglich: Der Widerstand gegen diese Diktatur wird wegdefiniert - alle sind "Anpassungsopfer".
Anders als Faulenbach empört sich die ostdeutsche Sozialdemokratin Angelika Barbe über die Klassifizierung der Opfer als Ruhestörer und Hindernis für den gesellschaftlichen Frieden im vereinigten Deutschland. Mit scharfen Worten wendet sie sich gegen den vor allem aus den Reihen ihrer Partei und der PDS geforderten Schlußstrich bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Joachim Gauck betont die Wichtigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit durch die hinterlassenen MfS-Akten. Er erinnert nachdrücklich daran, daß es nicht der Westen, sondern die ostdeutsche Bürgerbewegung war, die die Öffnung der Stasi-Akten durchgesetzt hat. Ziel der Aufarbeitung sei nicht eine neue Kommunistenverfolgung, sondern die Offenlegung des gigantischen Kontroll- und Spitzelsystems der SED.
Hermann Weber - einer der Mentoren der bundesdeutschen DDR-Forschung - bewertet die hinterlassenen DDR-Archivalien differenziert. Vor allem den Wahrheitsgehalt der von der SED-Führung hinterlassenen Akten schätzt er hoch ein, für die weitere Forschung hält er den Zugang zu allen Akten, also auch zu den westlichen, für erforderlich. Weber lobt erstaunlicherweise pauschal die westdeutsche DDR-Forschung vor 1989, die jetzige historische DDR-Forschung sieht er bei denen bestens aufgehoben, die schon vorher über die DDR geforscht haben, denn sie hätten das rechte "Verständnis für die Komplexität der vierzig Jahre".
Jürgen Kocka, der Kommissarische Leiter des Forschungsschwerpunktes Zeithistorische Studien in Potsdam und eine zentrale Figur sozialdemokratischer Geschichtspolitik, äußert sich zu den Aufgaben zeitgeschichtlicher Forschung bei der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte und dazu, was "wissenschaftlich-seriöse Aufarbeitung" zu sein habe. Als Mittelfeldspieler soll er das Spiel gestalten und dirigieren. Er ist in Sorge, ist doch bei der Aufarbeitung eine undurchschaubare Gemengelage von Politik und Zeitgeschichte gegeben; zeitgeschichtliche Erkenntnisse werden in Tagespolitik transportiert und zum Teil instrumentalisiert. Kocka bedrückt nicht nur der Umgang mit den jetzt zugänglichen DDR-Archivalien, ihre Einordnung und Interpretation in den zeitgeschichtlichen Kontext, sondern für ihn zeichnet sich auch ein "neuer Dogmatismus des Nationalen" ab. Mit Verweis auf die deutsche Geschichte hält er eine gegen die Wiedervereinigung gerichtete Position der Festschreibung deutscher Zweistaatlichkeit für durchaus legitim. Seine immer noch bestehenden Bedenken gegen einen deutschen Nationalstaat faßt er so zusammen: "In unserem Teil der Welt ist es langfristig noch nie gelungen, drei Ziele zugleich zu verwirklichen: den starken Nationalstaat, die freiheitlich-demokratische Ordnung im Innern und Friedfertigkeit nach außen."
Kocka spricht sich für die Notwendigkeit eines Diktaturenvergleichs auch zwischen Nationalsozialismus und Realsozialismus aus und benennt allgemein bekannte Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden deutschen Diktaturen. Gleichzeitig sieht er Erkenntnisgrenzen des Diktaturenvergleichs, denn die "vielschichtige historische Realität läßt sich als Objekt diktatorisch-staatlicher Herrschaft nur teilweise entschlüsseln. Sie ist zu komplex . . ." Hier böte die begriffliche Kennzeichnung "totalitäre Diktatur oder Herrschaft", die die gesellschaftliche Dimension miteinschließt, einen besseren theoretischen und methodischen Zugriff, dies allerdings verwirft Kocka an anderer Stelle. Seine Stärke liegt im Vereinsspiel, im Nationaldreß bleibt er - das erinnert an Möller - recht blaß.
Heinrich Potthoff, stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD und aufgestellt als Ausputzer wie einstmals Schwarzenbeck, nimmt in seinem Beitrag die christlich-liberale Deutschland-Politik aufs Korn. Die Regierungen Kohl setzten seiner Meinung nach die sozialliberale Deutschland-Politik fort; allenfalls im rhetorischen Beharren auf Rechtspositionen und Menschenrechten unterscheidet sich diese Politik von der ihrer Vorgänger. Die von ihm durchaus angeführten zahlreichen Hervorkehrungen von Rechtsposition und Menschenrechten durch CDU/CSU-Politiker werden umstandslos als "rhetorische Herauskehrung" gewertet, die Kohlsche Politik gegenüber der SED wird beschrieben als eine "Politik gleichberechtigter Kooperation". Da die Intentionen, Ziele und Ergebnisse der SED-Politik nicht beleuchtet und die entscheidenden deutschlandpolitischen Differenzen zwischen SPD und CDU/CSU nicht thematisiert werden, kann Potthoff unter Verweis auf einzelne Telefonate und Gespräche zwischen CDU-Politikern und SED-Verantwortlichen schlußfolgern, daß Kohl mit seiner personenbezogenen Politik die in der DDR herrschenden SED-Führer noch gestärkt hat. Und dann unterlaufen ihm noch weitere Fehlpässe, die der Gegner zu schnellen Kontern nutzen kann.
Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, wie Potthoff in Schwarzenbeck-Manier der Maßgabe seines Kollegen Kocka nach Differenzierung und Betonung der "Grautöne" und "Mehrdeutigkeiten" nachkommt. Die zwischen Egon Bahr und Hermann Axen ausgehandelte, von Erich Honecker veranlaßte und vom damaligen Kanzlerkandidaten Johannes Rau verkündete Einschränkung der Einreise von in der Bundesrepublik Asylsuchenden über Ost-Berlin beschreibt er als defensive Politik der SPD, um der Instrumentalisierung dieses Themas durch die CDU zuvorzukommen. Unerwähnt bleibt die Intention der SED, der von der SPD erbetenen Wahlkampfunterstützung nachzukommen. Das zweite Beispiel betrifft die Geraer Forderungen Erich Honeckers, mit denen er versuchte, die bundesdeutsche Politik auf die Festschreibung der deutschen Zweistaatlichkeit festzulegen. Potthoff wertet es als Erfolg sozialdemokratischer Politik, daß Honecker nach dem Gespräch mit Helmut Schmidt am Werbellinsee von Respektierung statt von Anerkennung spricht. Ein genauerer Blick in die SED-Akten zeigt jedoch, daß Honecker, wenn er von Respektierung sprach, den entscheidenden Schritt zur Anerkennung meinte. In Anbetracht der Interpretationskünste Potthoffs kann es schließlich nicht verwundern, wenn die von Kohl nur fortgesetzte sozialliberale Deutschland-Politik es war, die den Realsozialismus zum Einsturz brachte. Um dieses Bild zu retten, läßt Potthoff die Bemühungen prominenter sozialdemokratischer Politiker vom Sommer/Herbst 1989, das SED-Regime zu stabilisieren und zu erhalten, unerwähnt.
Wissenschaftlich solide beschreibt Hartmut Soell - plaziert in der rechten Verteidigerposition - die Ost- und Deutschland-Politik der sozialliberalen Bundesregierungen und betont den hohen Stellenwert der internationalen Rahmenbedingungen für die deutsch-deutschen Verhandlungen und Übereinkommen. Die Genese der von Bahr und Brandt entwickelten Strategie des "Wandels durch Annäherung" wird eingeordnet in Kennedys "Strategie des Friedens" und die Ostpolitik von Nixon und Kissinger, die die westdeutsche Ostpolitik als Ergänzung ihrer eigenen Politik der Sowjetunion gegenüber betrachteten. Kritisch beurteilt Soell die Verharmlosung der SED-Diktatur durch Teile der Linken, auch der SPD-Linken. Hingewiesen wird auf den naiven Glauben vieler Linker, der Friedenskampf sei wichtiger als der Kampf um Menschenrechte und Freiheit.
Der als Trainer agierende Markus Meckel, Obmann der SPD in der Enquête-Kommission, zählt Befürchtungen der SPD hinsichtlich der Arbeit der Kommission auf, hierbei bezieht er sich wiederum auf sozialdemokratische Historiker. Auftragsarbeiten der Kommission, die die Deutschland-Politik der SED kritisch würdigen, wertet er - ohne nähere Begründung - als nicht sachgerechte Beiträge zur historischen Aufarbeitung. Vorsichtshalber möchte er bei strittigen Themen die "Pluralität der Einschätzungen und der wissenschaftlichen Darstellung" gewährleistet sehen. Ähnlich wie bei Misselwitz findet sich auch bei Meckel eine undifferenzierte, ja fahrlässige Rede über "die" ostdeutschen Befindlichkeiten und Identitäten: "Wir im Osten . . ." Auch wird ein Ost-West-Interessengesetz bei der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte konstruiert, eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber denen, die das SED-Regime bekämpft oder ihm widerstanden haben.
Als Anhang wird das Minderheitenvotum der sozialdemokratischen Mitglieder und Experten der Enquête-Kommission abgedruckt, in dem sie sich unter anderem für eine spezielle Förderung der wissenschaftlichen Forschung über die DDR-Geschichte aussprechen; besonders hervorgehoben wird das von Kocka kommissarisch geleitete Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam. Schließlich geht es um das Interpretationsmonopol oder zumindest die politische und wissenschaftliche Hegemonie bei der Einordnung und Deutung der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945. Da bedarf es eines eingespielten Teams. Das Kombinationsspiel wird jedoch durch einige Mitspieler gestört, die sich dem Doppelpaß weitgehend verweigern und auch einmal den Rückpaß riskieren. Sie fühlen sich - aller Parteidisziplin zum Trotz - dem Erbe des demokratischen Aufbruchs in der DDR verpflichtet.
Insgesamt bleibt die Spielgestaltung zu durchsichtig und erschöpft sich im rastlosen Gekicke; ein Tor - die angestrebte Meinungsführerschaft will nicht gelingen. Es fehlt an einem Netzer, der den öffnenden Paß schlagen könnte, aber der würde auch nicht in der Vereinsmannschaft einer Partei spielen. So bleibt dem Trainer nur der Spielertausch oder dem Vereinspräsidium der Trainerwechsel. KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
SPD-nahe Historiker kämpfen um das Interpretationsmonopol der DDR-Geschichte
Bernd Faulenbach, Markus Meckel, Hermann Weber (Herausgeber): Die Partei hatte immer recht. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Klartext Verlag, Essen 1994. 294 Seiten, 19,80 Mark.
Wenn Politiker und Historiker sich mit zeitgeschichtlichen Themen befassen, an denen sie als Akteure selbst mitgewirkt haben, unterliegen sie immer der Gefahr nachträglicher Rechtfertigung. Um ungeniert Geschichtspolitik betreiben zu können, spielen in diesem Buch Politiker und Wissenschaftler Doppelpaß: Wissenschaftler bestätigen Politikern erfolgreiche Politik, Politiker bescheinigen diesen Wissenschaftlern Seriosität.
Als Mannschaftskapitän und linker Verteidiger agiert Bernd Faulenbach, der Vorsitzende der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Der Sammelband ist im Grunde ein Kommentar zur Arbeit der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Zentrale Themen sind der Aussagewert der hinterlassenen SED- und MfS-Akten, die Diskussion um Täter und Opfer und vor allem die Bewertung der deutsch-deutschen Politik. Faulenbach begrüßt in der Einleitung die breite Auseinandersetzung über die DDR-Vergangenheit, beklagt aber zugleich ihre Art, etwa im "Fall Stolpe". Eine Sichtweise der SED-Kirchenpolitik, die den Fall Stolpe ausblendet, hatten bereits sozialdemokratische Mitglieder der Bundestags-Kommission vergeblich versucht durchzusetzen.
Ebenso skeptisch sieht Faulenbach die strafrechtliche Aufarbeitung, die von vielen Bürgern seiner Meinung nach als Kriminalisierung der gesamten DDR-Vergangenheit aufgefaßt wird. Hinzu kommt das Problem der personellen Zuordnung politischer Verantwortung für Unterdrückung und Verfolgung in der DDR; Faulenbach charakterisiert die DDR als ein System "organisierter Verantwortungslosigkeit". Wie mehrere Autoren in diesem Buch bezieht Faulenbach gegen die Fiktion Stellung, die Staatsverbrechen von SED und NSDAP seien gleichrangig, obschon kein seriöser Wissenschaftler oder Politiker dergleichen behauptet hat. Den Bürgerrechtlern wird Rigorismus aus Vergeltungssucht vorgeworfen: Wie andere zumeist antikommunistisch eingefärbte Kritiker der SED übersähen sie, daß es vor 1989 nur die Hoffnung auf eine "Reformperspektive" gegeben habe.
Damit erübrigt sich eine kritische Analyse der gescheiterten sozialdemokratischen Strategie, die in dem gemeinsamen Ideologiepapier mit der SED gipfelte, ebenso wie eine Antwort auf die von Faulenbach angesprochene und nicht beantwortete Frage, warum so viele Westdeutsche sich mit den Menschenrechtsverletzungen in der DDR abgefunden hatten. Kompliziert bleiben für ihn die Bestimmung der Opfer der SED-Diktatur und der Umgang mit ihnen. In einem weiten Sinne seien ja die meisten DDR-Bürger Opfer gewesen, weil sie im Vergleich zum Westen geringere Lebenschancen gehabt hätten: "Systemopfer" eben. Wer zu den Opfern gezählt werden könne, listet im Detail Johannes L. Kuppe in seinem Beitrag auf, so daß am Schluß fast nur noch "Opfer" die DDR bevölkerten. Eines leistet dieser Beitrag vorzüglich: Der Widerstand gegen diese Diktatur wird wegdefiniert - alle sind "Anpassungsopfer".
Anders als Faulenbach empört sich die ostdeutsche Sozialdemokratin Angelika Barbe über die Klassifizierung der Opfer als Ruhestörer und Hindernis für den gesellschaftlichen Frieden im vereinigten Deutschland. Mit scharfen Worten wendet sie sich gegen den vor allem aus den Reihen ihrer Partei und der PDS geforderten Schlußstrich bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Joachim Gauck betont die Wichtigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit durch die hinterlassenen MfS-Akten. Er erinnert nachdrücklich daran, daß es nicht der Westen, sondern die ostdeutsche Bürgerbewegung war, die die Öffnung der Stasi-Akten durchgesetzt hat. Ziel der Aufarbeitung sei nicht eine neue Kommunistenverfolgung, sondern die Offenlegung des gigantischen Kontroll- und Spitzelsystems der SED.
Hermann Weber - einer der Mentoren der bundesdeutschen DDR-Forschung - bewertet die hinterlassenen DDR-Archivalien differenziert. Vor allem den Wahrheitsgehalt der von der SED-Führung hinterlassenen Akten schätzt er hoch ein, für die weitere Forschung hält er den Zugang zu allen Akten, also auch zu den westlichen, für erforderlich. Weber lobt erstaunlicherweise pauschal die westdeutsche DDR-Forschung vor 1989, die jetzige historische DDR-Forschung sieht er bei denen bestens aufgehoben, die schon vorher über die DDR geforscht haben, denn sie hätten das rechte "Verständnis für die Komplexität der vierzig Jahre".
Jürgen Kocka, der Kommissarische Leiter des Forschungsschwerpunktes Zeithistorische Studien in Potsdam und eine zentrale Figur sozialdemokratischer Geschichtspolitik, äußert sich zu den Aufgaben zeitgeschichtlicher Forschung bei der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte und dazu, was "wissenschaftlich-seriöse Aufarbeitung" zu sein habe. Als Mittelfeldspieler soll er das Spiel gestalten und dirigieren. Er ist in Sorge, ist doch bei der Aufarbeitung eine undurchschaubare Gemengelage von Politik und Zeitgeschichte gegeben; zeitgeschichtliche Erkenntnisse werden in Tagespolitik transportiert und zum Teil instrumentalisiert. Kocka bedrückt nicht nur der Umgang mit den jetzt zugänglichen DDR-Archivalien, ihre Einordnung und Interpretation in den zeitgeschichtlichen Kontext, sondern für ihn zeichnet sich auch ein "neuer Dogmatismus des Nationalen" ab. Mit Verweis auf die deutsche Geschichte hält er eine gegen die Wiedervereinigung gerichtete Position der Festschreibung deutscher Zweistaatlichkeit für durchaus legitim. Seine immer noch bestehenden Bedenken gegen einen deutschen Nationalstaat faßt er so zusammen: "In unserem Teil der Welt ist es langfristig noch nie gelungen, drei Ziele zugleich zu verwirklichen: den starken Nationalstaat, die freiheitlich-demokratische Ordnung im Innern und Friedfertigkeit nach außen."
Kocka spricht sich für die Notwendigkeit eines Diktaturenvergleichs auch zwischen Nationalsozialismus und Realsozialismus aus und benennt allgemein bekannte Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden deutschen Diktaturen. Gleichzeitig sieht er Erkenntnisgrenzen des Diktaturenvergleichs, denn die "vielschichtige historische Realität läßt sich als Objekt diktatorisch-staatlicher Herrschaft nur teilweise entschlüsseln. Sie ist zu komplex . . ." Hier böte die begriffliche Kennzeichnung "totalitäre Diktatur oder Herrschaft", die die gesellschaftliche Dimension miteinschließt, einen besseren theoretischen und methodischen Zugriff, dies allerdings verwirft Kocka an anderer Stelle. Seine Stärke liegt im Vereinsspiel, im Nationaldreß bleibt er - das erinnert an Möller - recht blaß.
Heinrich Potthoff, stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD und aufgestellt als Ausputzer wie einstmals Schwarzenbeck, nimmt in seinem Beitrag die christlich-liberale Deutschland-Politik aufs Korn. Die Regierungen Kohl setzten seiner Meinung nach die sozialliberale Deutschland-Politik fort; allenfalls im rhetorischen Beharren auf Rechtspositionen und Menschenrechten unterscheidet sich diese Politik von der ihrer Vorgänger. Die von ihm durchaus angeführten zahlreichen Hervorkehrungen von Rechtsposition und Menschenrechten durch CDU/CSU-Politiker werden umstandslos als "rhetorische Herauskehrung" gewertet, die Kohlsche Politik gegenüber der SED wird beschrieben als eine "Politik gleichberechtigter Kooperation". Da die Intentionen, Ziele und Ergebnisse der SED-Politik nicht beleuchtet und die entscheidenden deutschlandpolitischen Differenzen zwischen SPD und CDU/CSU nicht thematisiert werden, kann Potthoff unter Verweis auf einzelne Telefonate und Gespräche zwischen CDU-Politikern und SED-Verantwortlichen schlußfolgern, daß Kohl mit seiner personenbezogenen Politik die in der DDR herrschenden SED-Führer noch gestärkt hat. Und dann unterlaufen ihm noch weitere Fehlpässe, die der Gegner zu schnellen Kontern nutzen kann.
Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, wie Potthoff in Schwarzenbeck-Manier der Maßgabe seines Kollegen Kocka nach Differenzierung und Betonung der "Grautöne" und "Mehrdeutigkeiten" nachkommt. Die zwischen Egon Bahr und Hermann Axen ausgehandelte, von Erich Honecker veranlaßte und vom damaligen Kanzlerkandidaten Johannes Rau verkündete Einschränkung der Einreise von in der Bundesrepublik Asylsuchenden über Ost-Berlin beschreibt er als defensive Politik der SPD, um der Instrumentalisierung dieses Themas durch die CDU zuvorzukommen. Unerwähnt bleibt die Intention der SED, der von der SPD erbetenen Wahlkampfunterstützung nachzukommen. Das zweite Beispiel betrifft die Geraer Forderungen Erich Honeckers, mit denen er versuchte, die bundesdeutsche Politik auf die Festschreibung der deutschen Zweistaatlichkeit festzulegen. Potthoff wertet es als Erfolg sozialdemokratischer Politik, daß Honecker nach dem Gespräch mit Helmut Schmidt am Werbellinsee von Respektierung statt von Anerkennung spricht. Ein genauerer Blick in die SED-Akten zeigt jedoch, daß Honecker, wenn er von Respektierung sprach, den entscheidenden Schritt zur Anerkennung meinte. In Anbetracht der Interpretationskünste Potthoffs kann es schließlich nicht verwundern, wenn die von Kohl nur fortgesetzte sozialliberale Deutschland-Politik es war, die den Realsozialismus zum Einsturz brachte. Um dieses Bild zu retten, läßt Potthoff die Bemühungen prominenter sozialdemokratischer Politiker vom Sommer/Herbst 1989, das SED-Regime zu stabilisieren und zu erhalten, unerwähnt.
Wissenschaftlich solide beschreibt Hartmut Soell - plaziert in der rechten Verteidigerposition - die Ost- und Deutschland-Politik der sozialliberalen Bundesregierungen und betont den hohen Stellenwert der internationalen Rahmenbedingungen für die deutsch-deutschen Verhandlungen und Übereinkommen. Die Genese der von Bahr und Brandt entwickelten Strategie des "Wandels durch Annäherung" wird eingeordnet in Kennedys "Strategie des Friedens" und die Ostpolitik von Nixon und Kissinger, die die westdeutsche Ostpolitik als Ergänzung ihrer eigenen Politik der Sowjetunion gegenüber betrachteten. Kritisch beurteilt Soell die Verharmlosung der SED-Diktatur durch Teile der Linken, auch der SPD-Linken. Hingewiesen wird auf den naiven Glauben vieler Linker, der Friedenskampf sei wichtiger als der Kampf um Menschenrechte und Freiheit.
Der als Trainer agierende Markus Meckel, Obmann der SPD in der Enquête-Kommission, zählt Befürchtungen der SPD hinsichtlich der Arbeit der Kommission auf, hierbei bezieht er sich wiederum auf sozialdemokratische Historiker. Auftragsarbeiten der Kommission, die die Deutschland-Politik der SED kritisch würdigen, wertet er - ohne nähere Begründung - als nicht sachgerechte Beiträge zur historischen Aufarbeitung. Vorsichtshalber möchte er bei strittigen Themen die "Pluralität der Einschätzungen und der wissenschaftlichen Darstellung" gewährleistet sehen. Ähnlich wie bei Misselwitz findet sich auch bei Meckel eine undifferenzierte, ja fahrlässige Rede über "die" ostdeutschen Befindlichkeiten und Identitäten: "Wir im Osten . . ." Auch wird ein Ost-West-Interessengesetz bei der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte konstruiert, eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber denen, die das SED-Regime bekämpft oder ihm widerstanden haben.
Als Anhang wird das Minderheitenvotum der sozialdemokratischen Mitglieder und Experten der Enquête-Kommission abgedruckt, in dem sie sich unter anderem für eine spezielle Förderung der wissenschaftlichen Forschung über die DDR-Geschichte aussprechen; besonders hervorgehoben wird das von Kocka kommissarisch geleitete Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam. Schließlich geht es um das Interpretationsmonopol oder zumindest die politische und wissenschaftliche Hegemonie bei der Einordnung und Deutung der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945. Da bedarf es eines eingespielten Teams. Das Kombinationsspiel wird jedoch durch einige Mitspieler gestört, die sich dem Doppelpaß weitgehend verweigern und auch einmal den Rückpaß riskieren. Sie fühlen sich - aller Parteidisziplin zum Trotz - dem Erbe des demokratischen Aufbruchs in der DDR verpflichtet.
Insgesamt bleibt die Spielgestaltung zu durchsichtig und erschöpft sich im rastlosen Gekicke; ein Tor - die angestrebte Meinungsführerschaft will nicht gelingen. Es fehlt an einem Netzer, der den öffnenden Paß schlagen könnte, aber der würde auch nicht in der Vereinsmannschaft einer Partei spielen. So bleibt dem Trainer nur der Spielertausch oder dem Vereinspräsidium der Trainerwechsel. KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main