Von großen und kleinen Lügen, Glücksmomenten und Enttäuschungen, von Zuneigung und Schmerz erzählt Dana Vowinckel in ihrem Debütroman. Gewässer im Ziplock ist eine mitreißende Familiengeschichte zwischen jüdischer Tradition und deutschem »Gedächtnistheater«. Eine Geschichte voller Leben und Menschlichkeit.
»Dana Vowinckels Roman ist von tiefer Weisheit, er kennt das Wanken, die Sehnsüchte und Zerrissenheit des Weltenwanderns.« Julia Franck, Autorin von Die Mittagsfrau
Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem. Wie jedes Jahr verbringt die fünfzehnjährige Margarita ihre Ferien bei den Großeltern in den USA. Viel lieber will sie aber zurück nach Deutschland, zu ihren Freunden und ihrem Vater, der in einer Synagoge die Gebete leitet. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Margarita noch in den Kindergarten ging. Höchste Zeit, beschließt der Familienrat, dass sie einander besser kennenlernen. Und so wird Margarita in ein Flugzeug nach Israel gesetzt, wo ihr Vater aufgewachsen ist und ihre Mutter seit Kurzem lebt. Gleich nach der Ankunft geht alles schief, die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter durchs Heilige Land reißt alte und neue Wunden auf, Konflikte eskalieren, während der Vater in Berlin seine Rolle überdenkt. Da müssen sie schon wieder die Koffer packen und zurück nach Chicago, wo sich alle um das Krankenbett der Großmutter versammeln und Margarita eine folgenreiche Entscheidung treffen muss.
»Dana Vowinckel soll bitte weiter und immer weiter erzählen. Ich möchte noch hundert Bücher von ihr lesen.« Daniela Dröscher, Autorin von Lügen über meine Mutter
»Dana Vowinckels Roman ist von tiefer Weisheit, er kennt das Wanken, die Sehnsüchte und Zerrissenheit des Weltenwanderns.« Julia Franck, Autorin von Die Mittagsfrau
Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem. Wie jedes Jahr verbringt die fünfzehnjährige Margarita ihre Ferien bei den Großeltern in den USA. Viel lieber will sie aber zurück nach Deutschland, zu ihren Freunden und ihrem Vater, der in einer Synagoge die Gebete leitet. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Margarita noch in den Kindergarten ging. Höchste Zeit, beschließt der Familienrat, dass sie einander besser kennenlernen. Und so wird Margarita in ein Flugzeug nach Israel gesetzt, wo ihr Vater aufgewachsen ist und ihre Mutter seit Kurzem lebt. Gleich nach der Ankunft geht alles schief, die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter durchs Heilige Land reißt alte und neue Wunden auf, Konflikte eskalieren, während der Vater in Berlin seine Rolle überdenkt. Da müssen sie schon wieder die Koffer packen und zurück nach Chicago, wo sich alle um das Krankenbett der Großmutter versammeln und Margarita eine folgenreiche Entscheidung treffen muss.
»Dana Vowinckel soll bitte weiter und immer weiter erzählen. Ich möchte noch hundert Bücher von ihr lesen.« Daniela Dröscher, Autorin von Lügen über meine Mutter
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2023Aber hier leben?
Dana Vowinckel erzählt in „Gewässer im Ziplock“ von einer jüdischen Familie, die darüber streitet,
ob es in Deutschland noch auszuhalten ist. Ein erschütterndes, hinreißendes Debüt
Bis zur letzten Seite geht es darum, ob sie je wieder zusammenkommen: Vater, Mutter und Kind. In der Literatur sind ja gewöhnlich alle Familien auf ihre eigene Weise unglücklich. Aber dann lassen sie in ihrer klebrigen Schicksalhaftigkeit ihre Mitglieder doch nie los. Das Gefühl in Dana Vowinckels Roman „Gewässer im Ziplock“ ist ein anderes: Diese drei könnten jederzeit in verschiedene Richtungen davon gehen. Man findet sie schon so vor, das Kind in Chicago, den Vater in Berlin, die Mutter in Jerusalem. Auch ihre Innenleben sind so erzählt, als drehe sich um jede dieser Figuren eine eigene Welt, in der sie jeweils für immer Heimweh nacheinander haben.
Dana Vowinckel ist 27 Jahre alt, „Gewässer im Ziplock“ ist ihr Debüt. 2021 hat sie auf Einladung der Kritikerin Mara Delius beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis ein Kapitel daraus gelesen, einen Nebenpreis gewonnen und in einem anderen Erzählwettbewerb den ersten Preis. Sonst kennt man noch kaum etwas von ihr. Aber dieses Buch ist schon so ungewöhnlich klar und mitreißend in seiner nahen Weltwahrnehmung. Eigentlich hat es keinen Sinn, immer dieselben alten Vergleiche zu bemühen: Aber man muss wirklich nicht neidisch auf die großen amerikanischen Familienromane schielen, wenn es eine solche Erzählerin in deutscher Sprache gibt. Das Skandalon ihres Romans thematisiert sie zum Beispiel gar nicht groß, es ist eher in der Erzählstruktur angelegt. Sie wechselt in kurzen Abschnitten zwischen zwei Perspektiven: Der des Vaters Avi, der aus Israel kommt und Kantor und Vorbeter einer Berliner Synagoge ist. Und der von Margerita, seiner 15-jährigen Tochter, die in Berlin auf das jüdische Gymnasium geht, die Sommerferien aber bei den Eltern ihrer amerikanischen Mutter an der South Shore von Chicago verbringt und sich viel ekelt: vor festen Bröckchen in flüssiger Nahrung, dem schütteren Haar der Großmutter, dem eigenen rumorenden Körper. Ihre Mutter hat die Familie verlassen, als Margerita zwei war. Man sieht diese Marsha mit den Augen von Vater und Tochter, sie tritt auf, spielt eine wichtige Rolle. Aber nie nimmt die Erzählung ihre Sicht ein.
Was die Familie auseinander bringt, erzählt Dana Vowinckel mit kühler Selbstverständlichkeit. Es ist die Frage, um welchen Preis es auszuhalten ist an einem Ort, wo die Grundschullehrerin beim Elternabend Zweifel anmeldet, ob das Kind jüdisch ist: „Ich dachte, sie lügt, um was Besonderes zu sein“. Wo auf das Wort „Gebet“ im nächsten Satz notwendig das Wort „Sicherheitsschleuse“ folgt. Wo die Leute „jüd- jüd- jüdische“ stammeln in verdrehter Scham und in ihren Sonntagsreden von „Mitbürgern“ reden. Die deutsche Gegenwart im Hintergrund dieses Romans ist der alte, kalte Alltag der Ausgrenzung. Der Konflikt der Familie speist sich aus ihrem Zweifel, ob sie darin leben können. Sie müssten nicht, sie haben auch Pässe anderer Länder mit anderen Problemen. Der Titel des Romans bezieht sich auf die Plastiktütchen mit Zip-Verschluss, in denen sie auf Flugreisen zwischen Orten mit Familienanbindung Flüssigkeiten und Proviant transportieren. Wenn es in dem Buch um zuhause geht, also wo man in der Badewanne liegt, zum Frühstück die richtigen Sachen im Kühlschrank hat und ein paar Freunde, die einem über die Jahre geblieben sind, dann ist das aber nun mal Berlin. Und in einem harten Moment der Erkenntnis macht sich Avi klar: „Seine Tochter war eine Deutsche.“
Ihre Grundspannung entwickelt die Erzählung aus der Unterschiedlichkeit der beiden Hauptfiguren. Dana Vowinckel schafft präzise Distanz: Der Vater ist Mitte 40 und auf intime Art ein frommer Mann, was ihn in der Gegenwartsliteratur allein schon zu einem seltenen Charakter macht. Man versteht ihn durch seine Liebe zu den Ritualen des Gottesdienstes, die Ruhe, die er in Gebeten findet. „Der Gesang verpflichtete ihn, zu glauben“, heißt es. Daraus macht er für sein Kind aber keine Pflicht, nur eine freie Stabilität, mit der er es großzieht. Margerita ihrerseits steckt in der Pubertät wie in Watte. Dana Vowinckel erzählt von ihr in Körperzuständen: rasendem Hunger und Ekel, Begehren und Scham, einem dauernden Schwindel, der sie in Form von Menstruationen, Durchfall, Betrunkenheit, radikaler Müdigkeit immer mal an den Rand der Bewusstlosigkeit drückt. Dann wieder sieht sie mit der gnadenlosen Klarheit sehr junger Erwachsener. Als sie sich in Chicago gerade in einem schönen Liebeskummer eingeigelt hat, meldet sich die Mutter, die sie nur alle paar Jahre sieht. Marsha Markovitz ist Linguistikprofessorin und gerade an der Hebrew University in Jerusalem zu Gast. Dorthin holt sie die Tochter jetzt, um ihr Israel zu zeigen, wo Margarita noch nie war. Die beiden, von denen es heißt, „sie flohen voreinander, wie es nur ging, ihre Mutter und sie“, bereisen also zusammen dieses Land. Dass Marsha in der Erzählung keine Stimme bekommt, lässt ein paar in jüngster Zeit viel diskutierte Themen wie Obertöne mitschwingen: Das der Mütterlichkeit im Allgemeinen, ob sie Frauensache ist und sich nur in der Sorge um ein Kind zeigt. Und das der Matrilinearität im Besonderen, durch die nach dem Religionsgesetz die jüdische Identität nur durch die Mutter an ihre Kinder weitergegeben wird. Was das betrifft, hütet Marsha ein Familiengeheimnis. Der Vater in Berlin bereitet sich währenddessen darauf vor, dass auch sein Kind ihn bald verlässt, weil es erwachsen wird. Er verabredet sich mit einer Frau, die er auf der Beerdigung ihres Vaters kennenlernt, einem der letzten Überlebenden der Shoah in der Gemeinde. Avi hofft auf eine Liebesgeschichte, die dramatisch scheitert. Was damit zu tun hat, wie verschieden die Nachkommen mit der Erinnerung an die von den Deutschen verfolgten und ermordeten Juden leben.
Das ist aber kein Trauma-Plot, die unerträgliche Vergangenheit muss nicht aufgedeckt werden. Dana Vowinckel, geboren 1996, erzählt von einem Schmerz, der die ganze Zeit da ist, so dass nichts vergangen ist, nichts versöhnt, wie es das deutsche „Gedächtnistheater“ gerne hätte. So hieß ein Buch, das zufällig auch 1996 erschien, der Titel klingt im Roman einmal an. Der Soziologe Y. Michal Bodemann zeigte da, wie die bundesdeutsche Erinnerungspolitik wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der überlebenden Juden nahm, sondern ihnen hilfreiche Rollen zuwies im Sinne der Staatsräson der „Vergangenheitsbewältigung“. Geändert hat sich daran nicht grundsätzlich etwas, weshalb beispielsweise der Publizist Max Czollek die These heute in etwa so weiter vertritt.
Dana Vowinckel argumentiert nicht, sie erzählt. Wie genau ein Jahr nach dem Anschlag 2019 auf die Synagoge in Halle, also an einem Jom Kippur mitten in der Corona-Pandemie, Avi seine Berliner Gemeinde in den Garten bittet, um die Schofar zu blasen, ohne den Raum voller Aerosole zu haben. Passanten draußen auf der Straße zeigen mit den Fingern und nehmen ihre Kinder auf die Schultern, „damit sie bessere Sicht auf die Juden hatten“. Wenn man an manche Reaktionen auf erste Ausschnitte aus diesem Roman denkt, die Dana Vowinckel veröffentlicht hat, wird einem bei diesem Bild etwas klar: Dass es darum gehen muss, von diesem Buch zu schwärmen, weil es eine großartige jüdische Familiengeschichte ist, ohne es zu beäugen wie die Schaulustigen hinter dem Zaun und einen „wichtigen Einblick in jüdisches Leben der Gegenwart“ festzustellen, oder was dergleichen Erwartungen sind.
Dana Vowinckels Erzählweise macht noch einen Unterschied sehr klar, der nicht mehr oft eingehalten wird, wenn wir von Literatur oder Kunst reden. Hier ist er aber hochpolitisch. Er besteht darin, dass man die Gefühle empfinden kann, die der Roman entstehen lässt, die Trauer und die Wut mit der ein Vater, eine Mutter und ihr Kind nach Nähe suchen und doch voneinander wegstreben – ohne sich als Leserin selbst unbedingt mit ihnen identifizieren zu sollen. Wenn man eine Geschichte unter keinen Umständen lesen mag, ohne sich zu identifizieren: Müsste man dann nicht bereit sein, sich gegebenenfalls in einer der Gestalten der deutschen sogenannten Mehrheitsgesellschaft zu erkennen, die hier nur am Rande auftreten? Etwa Nico, Margeritas toxische Teenagerliebe, der Hebräisch nicht erkennt, wenn er es sie sprechen hört, aber den Zionismus irgendwie kritisch sieht. Oder Avis Freundin Bettina, „eine philosemitische Intellektuelle“, die ihm israelische Romane „voll brutaler Sexszenen“ in deutscher Übersetzung leiht. Deutsche in ihrer forschen Selbstgewissheit geben ein schwaches Bild ab in diesem Buch.
Womit sich Dana Vowinckel selbst identifiziert, wie ihr Verhältnis zum Judentum ist, ließe sich bestimmt erfragen. Aber wäre das dem Roman gegenüber nicht auf eigene Art übergriffig? Auf keinen Fall wolle sie mit einer ihrer Figuren verwechselt werden, hat sie einmal in der NZZ geschrieben. Und von der Sorge, sie würde „fremde, von mir ausgedachte Personen bloßstellen“ und jemanden verletzen „dadurch, dass ich die Perspektive eines Menschen eingenommen habe, der sehr viel religiöser ist als ich“. Das sind redliche Fragen einer Künstlerin an ihre Rolle. Aber auch ohne beurteilen zu können, wie gravierend die Grenzüberschreitung wäre, die sie befürchtet, lässt sich sagen, dass das den Roman als solchen nicht betrifft. Als Erzählkunstwerk ist er völlig souverän.
MARIE SCHMIDT
Die deutsche Gegenwart im
Hintergrund ist der alte,
kalte Alltag der Ausgrenzung
Nicht mit ihren Figuren zu verwechseln: Die Berliner Schriftstellerin Dana Vowinckel.
Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Dana Vowinckel:
Gewässer im Ziplock.
Roman. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2023.
362 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dana Vowinckel erzählt in „Gewässer im Ziplock“ von einer jüdischen Familie, die darüber streitet,
ob es in Deutschland noch auszuhalten ist. Ein erschütterndes, hinreißendes Debüt
Bis zur letzten Seite geht es darum, ob sie je wieder zusammenkommen: Vater, Mutter und Kind. In der Literatur sind ja gewöhnlich alle Familien auf ihre eigene Weise unglücklich. Aber dann lassen sie in ihrer klebrigen Schicksalhaftigkeit ihre Mitglieder doch nie los. Das Gefühl in Dana Vowinckels Roman „Gewässer im Ziplock“ ist ein anderes: Diese drei könnten jederzeit in verschiedene Richtungen davon gehen. Man findet sie schon so vor, das Kind in Chicago, den Vater in Berlin, die Mutter in Jerusalem. Auch ihre Innenleben sind so erzählt, als drehe sich um jede dieser Figuren eine eigene Welt, in der sie jeweils für immer Heimweh nacheinander haben.
Dana Vowinckel ist 27 Jahre alt, „Gewässer im Ziplock“ ist ihr Debüt. 2021 hat sie auf Einladung der Kritikerin Mara Delius beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis ein Kapitel daraus gelesen, einen Nebenpreis gewonnen und in einem anderen Erzählwettbewerb den ersten Preis. Sonst kennt man noch kaum etwas von ihr. Aber dieses Buch ist schon so ungewöhnlich klar und mitreißend in seiner nahen Weltwahrnehmung. Eigentlich hat es keinen Sinn, immer dieselben alten Vergleiche zu bemühen: Aber man muss wirklich nicht neidisch auf die großen amerikanischen Familienromane schielen, wenn es eine solche Erzählerin in deutscher Sprache gibt. Das Skandalon ihres Romans thematisiert sie zum Beispiel gar nicht groß, es ist eher in der Erzählstruktur angelegt. Sie wechselt in kurzen Abschnitten zwischen zwei Perspektiven: Der des Vaters Avi, der aus Israel kommt und Kantor und Vorbeter einer Berliner Synagoge ist. Und der von Margerita, seiner 15-jährigen Tochter, die in Berlin auf das jüdische Gymnasium geht, die Sommerferien aber bei den Eltern ihrer amerikanischen Mutter an der South Shore von Chicago verbringt und sich viel ekelt: vor festen Bröckchen in flüssiger Nahrung, dem schütteren Haar der Großmutter, dem eigenen rumorenden Körper. Ihre Mutter hat die Familie verlassen, als Margerita zwei war. Man sieht diese Marsha mit den Augen von Vater und Tochter, sie tritt auf, spielt eine wichtige Rolle. Aber nie nimmt die Erzählung ihre Sicht ein.
Was die Familie auseinander bringt, erzählt Dana Vowinckel mit kühler Selbstverständlichkeit. Es ist die Frage, um welchen Preis es auszuhalten ist an einem Ort, wo die Grundschullehrerin beim Elternabend Zweifel anmeldet, ob das Kind jüdisch ist: „Ich dachte, sie lügt, um was Besonderes zu sein“. Wo auf das Wort „Gebet“ im nächsten Satz notwendig das Wort „Sicherheitsschleuse“ folgt. Wo die Leute „jüd- jüd- jüdische“ stammeln in verdrehter Scham und in ihren Sonntagsreden von „Mitbürgern“ reden. Die deutsche Gegenwart im Hintergrund dieses Romans ist der alte, kalte Alltag der Ausgrenzung. Der Konflikt der Familie speist sich aus ihrem Zweifel, ob sie darin leben können. Sie müssten nicht, sie haben auch Pässe anderer Länder mit anderen Problemen. Der Titel des Romans bezieht sich auf die Plastiktütchen mit Zip-Verschluss, in denen sie auf Flugreisen zwischen Orten mit Familienanbindung Flüssigkeiten und Proviant transportieren. Wenn es in dem Buch um zuhause geht, also wo man in der Badewanne liegt, zum Frühstück die richtigen Sachen im Kühlschrank hat und ein paar Freunde, die einem über die Jahre geblieben sind, dann ist das aber nun mal Berlin. Und in einem harten Moment der Erkenntnis macht sich Avi klar: „Seine Tochter war eine Deutsche.“
Ihre Grundspannung entwickelt die Erzählung aus der Unterschiedlichkeit der beiden Hauptfiguren. Dana Vowinckel schafft präzise Distanz: Der Vater ist Mitte 40 und auf intime Art ein frommer Mann, was ihn in der Gegenwartsliteratur allein schon zu einem seltenen Charakter macht. Man versteht ihn durch seine Liebe zu den Ritualen des Gottesdienstes, die Ruhe, die er in Gebeten findet. „Der Gesang verpflichtete ihn, zu glauben“, heißt es. Daraus macht er für sein Kind aber keine Pflicht, nur eine freie Stabilität, mit der er es großzieht. Margerita ihrerseits steckt in der Pubertät wie in Watte. Dana Vowinckel erzählt von ihr in Körperzuständen: rasendem Hunger und Ekel, Begehren und Scham, einem dauernden Schwindel, der sie in Form von Menstruationen, Durchfall, Betrunkenheit, radikaler Müdigkeit immer mal an den Rand der Bewusstlosigkeit drückt. Dann wieder sieht sie mit der gnadenlosen Klarheit sehr junger Erwachsener. Als sie sich in Chicago gerade in einem schönen Liebeskummer eingeigelt hat, meldet sich die Mutter, die sie nur alle paar Jahre sieht. Marsha Markovitz ist Linguistikprofessorin und gerade an der Hebrew University in Jerusalem zu Gast. Dorthin holt sie die Tochter jetzt, um ihr Israel zu zeigen, wo Margarita noch nie war. Die beiden, von denen es heißt, „sie flohen voreinander, wie es nur ging, ihre Mutter und sie“, bereisen also zusammen dieses Land. Dass Marsha in der Erzählung keine Stimme bekommt, lässt ein paar in jüngster Zeit viel diskutierte Themen wie Obertöne mitschwingen: Das der Mütterlichkeit im Allgemeinen, ob sie Frauensache ist und sich nur in der Sorge um ein Kind zeigt. Und das der Matrilinearität im Besonderen, durch die nach dem Religionsgesetz die jüdische Identität nur durch die Mutter an ihre Kinder weitergegeben wird. Was das betrifft, hütet Marsha ein Familiengeheimnis. Der Vater in Berlin bereitet sich währenddessen darauf vor, dass auch sein Kind ihn bald verlässt, weil es erwachsen wird. Er verabredet sich mit einer Frau, die er auf der Beerdigung ihres Vaters kennenlernt, einem der letzten Überlebenden der Shoah in der Gemeinde. Avi hofft auf eine Liebesgeschichte, die dramatisch scheitert. Was damit zu tun hat, wie verschieden die Nachkommen mit der Erinnerung an die von den Deutschen verfolgten und ermordeten Juden leben.
Das ist aber kein Trauma-Plot, die unerträgliche Vergangenheit muss nicht aufgedeckt werden. Dana Vowinckel, geboren 1996, erzählt von einem Schmerz, der die ganze Zeit da ist, so dass nichts vergangen ist, nichts versöhnt, wie es das deutsche „Gedächtnistheater“ gerne hätte. So hieß ein Buch, das zufällig auch 1996 erschien, der Titel klingt im Roman einmal an. Der Soziologe Y. Michal Bodemann zeigte da, wie die bundesdeutsche Erinnerungspolitik wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der überlebenden Juden nahm, sondern ihnen hilfreiche Rollen zuwies im Sinne der Staatsräson der „Vergangenheitsbewältigung“. Geändert hat sich daran nicht grundsätzlich etwas, weshalb beispielsweise der Publizist Max Czollek die These heute in etwa so weiter vertritt.
Dana Vowinckel argumentiert nicht, sie erzählt. Wie genau ein Jahr nach dem Anschlag 2019 auf die Synagoge in Halle, also an einem Jom Kippur mitten in der Corona-Pandemie, Avi seine Berliner Gemeinde in den Garten bittet, um die Schofar zu blasen, ohne den Raum voller Aerosole zu haben. Passanten draußen auf der Straße zeigen mit den Fingern und nehmen ihre Kinder auf die Schultern, „damit sie bessere Sicht auf die Juden hatten“. Wenn man an manche Reaktionen auf erste Ausschnitte aus diesem Roman denkt, die Dana Vowinckel veröffentlicht hat, wird einem bei diesem Bild etwas klar: Dass es darum gehen muss, von diesem Buch zu schwärmen, weil es eine großartige jüdische Familiengeschichte ist, ohne es zu beäugen wie die Schaulustigen hinter dem Zaun und einen „wichtigen Einblick in jüdisches Leben der Gegenwart“ festzustellen, oder was dergleichen Erwartungen sind.
Dana Vowinckels Erzählweise macht noch einen Unterschied sehr klar, der nicht mehr oft eingehalten wird, wenn wir von Literatur oder Kunst reden. Hier ist er aber hochpolitisch. Er besteht darin, dass man die Gefühle empfinden kann, die der Roman entstehen lässt, die Trauer und die Wut mit der ein Vater, eine Mutter und ihr Kind nach Nähe suchen und doch voneinander wegstreben – ohne sich als Leserin selbst unbedingt mit ihnen identifizieren zu sollen. Wenn man eine Geschichte unter keinen Umständen lesen mag, ohne sich zu identifizieren: Müsste man dann nicht bereit sein, sich gegebenenfalls in einer der Gestalten der deutschen sogenannten Mehrheitsgesellschaft zu erkennen, die hier nur am Rande auftreten? Etwa Nico, Margeritas toxische Teenagerliebe, der Hebräisch nicht erkennt, wenn er es sie sprechen hört, aber den Zionismus irgendwie kritisch sieht. Oder Avis Freundin Bettina, „eine philosemitische Intellektuelle“, die ihm israelische Romane „voll brutaler Sexszenen“ in deutscher Übersetzung leiht. Deutsche in ihrer forschen Selbstgewissheit geben ein schwaches Bild ab in diesem Buch.
Womit sich Dana Vowinckel selbst identifiziert, wie ihr Verhältnis zum Judentum ist, ließe sich bestimmt erfragen. Aber wäre das dem Roman gegenüber nicht auf eigene Art übergriffig? Auf keinen Fall wolle sie mit einer ihrer Figuren verwechselt werden, hat sie einmal in der NZZ geschrieben. Und von der Sorge, sie würde „fremde, von mir ausgedachte Personen bloßstellen“ und jemanden verletzen „dadurch, dass ich die Perspektive eines Menschen eingenommen habe, der sehr viel religiöser ist als ich“. Das sind redliche Fragen einer Künstlerin an ihre Rolle. Aber auch ohne beurteilen zu können, wie gravierend die Grenzüberschreitung wäre, die sie befürchtet, lässt sich sagen, dass das den Roman als solchen nicht betrifft. Als Erzählkunstwerk ist er völlig souverän.
MARIE SCHMIDT
Die deutsche Gegenwart im
Hintergrund ist der alte,
kalte Alltag der Ausgrenzung
Nicht mit ihren Figuren zu verwechseln: Die Berliner Schriftstellerin Dana Vowinckel.
Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Dana Vowinckel:
Gewässer im Ziplock.
Roman. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2023.
362 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Aktuell und nötig" findet Rezensent Tim Caspar Boehme den Debütroman von Dana Vorwinckel, in dem eine Familie nur noch durch ihre jüdische Herkunft verbunden zu sein scheint. Das Verhältnis zwischen Avi, Marsha und deren gemeinsamer jugendlicher Tochter Margarita ist höchst angespannt: Der Kantor Avi und Margarita leben in Deutschland, Marsha in den USA, erfahren wir. Alle drei treffen im Verlauf der Handlung in Jerusalem aufeinander und reisen zusammen durch Israel. Das "bewegte Miteinander" der familiären Dynamik verdeutlicht die Autorin gekonnt mit ihren "Stakkato"-Sätzen, bemerkt Boehm. Außerdem imponiert ihm, dass die Figuren nicht starr bleiben, der gläubige Avi fährt zum Beispiel auch am Schabbat Auto. Das Glossar mit allerhand jüdischen Begriffen findet Boehm hilfreich, wundert sich aber über die Auslassung einiger Wörter. Trotzdem ist der Rezensent angetan von diesem Buch, dass auch das jüdische Leben in Deutschland treffend darzustellen weiß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[Das Buch] ist großartig, und alle 15- bis 95-Jährigen sollten es gelesen haben.« ZEIT Campus 20231214