Machterfahrung und Selbstermächtigung im »Universum der Gewalt«
28 SS-Aufseherinnen bewachten im Konzentrationslager Majdanek zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 die dort inhaftierten Frauen. Warum sie sich als SS-Aufseherinnen bewarben und »Gewalt im Dienstalltag« ausübten untersucht Elissa Mailänder Koslov anhand von NS-Dokumenten, Zeugenaussagen und Filmen.
Ihre Studie beleuchtet die Machterfahrung und Selbstermächtigung der Frauen, ihre zunehmende Brutalität gegenüber den Häftlingen, aber auch die Binnenverhältnisse und internen Konflikte, ihr Verhältnis zu den männlichen Kollegen und das Machtgefüge.
Und sie belegt: die ausgeübte physische Gewalt war nicht allein »von oben« befohlen. Die SS-Aufseherinnen verfügten auf allen Dienstebenen über gewisse Handlungsspielräume und Möglichkeiten, die Anordnungen zu interpretieren - und davon machten sie auch reichlich Gebrauch.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
28 SS-Aufseherinnen bewachten im Konzentrationslager Majdanek zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 die dort inhaftierten Frauen. Warum sie sich als SS-Aufseherinnen bewarben und »Gewalt im Dienstalltag« ausübten untersucht Elissa Mailänder Koslov anhand von NS-Dokumenten, Zeugenaussagen und Filmen.
Ihre Studie beleuchtet die Machterfahrung und Selbstermächtigung der Frauen, ihre zunehmende Brutalität gegenüber den Häftlingen, aber auch die Binnenverhältnisse und internen Konflikte, ihr Verhältnis zu den männlichen Kollegen und das Machtgefüge.
Und sie belegt: die ausgeübte physische Gewalt war nicht allein »von oben« befohlen. Die SS-Aufseherinnen verfügten auf allen Dienstebenen über gewisse Handlungsspielräume und Möglichkeiten, die Anordnungen zu interpretieren - und davon machten sie auch reichlich Gebrauch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2010Immer nur in Dienststiefeln
Die Aufseherinnen im Lager Majdanek
Im Herbst 1941 errichtete die SS - nur fünf Kilometer von der Stadtmitte Lublins entfernt - ein Lager. In Majdanek, das wie Auschwitz sowohl als Konzentrations- als auch Vernichtungslager gedient hat, wurden Zehntausende Häftlinge ermordet. Die meisten Opfer waren polnische Verfolgte sowie jüdische Männer, Frauen und Kinder. Schon bald fielen viele Häftlinge den katastrophalen hygienischen Bedingungen, Seuchen, Hunger und Misshandlungen zum Opfer. "Selektiert" wurde, wer nach dem Willen der Täter getötet werden sollte. Gemordet wurde mittels unterschiedlicher Methoden: durch Giftinjektion, Erhängung, Erschießung, in Gaskammern. In Majdanek wurden zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 neben zirka 1200 Männern auch mindestens 28 Aufseherinnen "im Gefolge der SS" eingesetzt. Deren Verhaltensmuster sucht Elissa Mailänder Koslov möglichst genau zu analysieren. Sie befragt hierzu NS-Dokumente, Ermittlungsakten von Justiz und Polizei und Interviews vorrangig unter sozialpsychologischen und historisch-anthropologischen Gesichtspunkten. Die Ermittlungs- und Verfahrensakten des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses aus den Jahren 1975 bis 1981 bilden die zentrale Quellengrundlage der Studie. Intensiv ausgewertet wird auch Eberhard Fechners Dokumentarfilm über das Verfahren ("Der Prozess"), in dem zahlreiche Verfahrensbeteiligte, darunter auch SS-Aufseherinnen, zu Wort kommen.
Das in Majdanek eingesetzte weibliche Wachpersonal war zumeist um 1920 geboren, ledig, entstammte überwiegend "einfachen Verhältnissen". Die Frauen waren zuvor Bewacherinnen im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Verfasserin kann in ihrem Buch belegen, dass sich die Aufseherinnen mit ihrer Arbeit im KZ in erheblichem Maß identifiziert haben. Ihre Vorgesetzten sahen sich bezeichnenderweise dazu veranlasst, ihnen zu verbieten, in ihrer Freizeit zum Ausgehkleid ihre Dienststiefel zu tragen. Ob die Aufseherinnen sich für ihren Einsatz im Konzentrationslager Majdanek freiwillig gemeldet haben oder ob sie dorthin versetzt wurden, lässt sich vielfach nicht mehr eindeutig klären. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass die Frauen schon bald in die ihnen zugedachte Rolle hineinwuchsen und dass sich ihr Verhalten radikalisierte. Ende 1943 bewachten in Majdanek 19 Aufseherinnen mehr als 7000 weibliche KZ-Häftlinge. Zu ihren Aufgaben gehörten das Abhalten der täglichen Zählappelle, die Überwachung und Disziplinierung der weiblichen Häftlinge in den Arbeitskommandos sowie im Blockbereich. Sie führten auch die "Selektionen" der weiblichen Häftlinge durch. In jedem Fall trugen die SS-Aufseherinnen durch ihren Beitrag objektiv zum Funktionieren des Konzentrations- und Vernichtungslagers in Lublin bei.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie die in Majdanek eingesetzten Frauen mit ihren Handlungsoptionen im Lager umgingen. Die Studie weist nach, dass von den SS-Aufseherinnen häufiger und brutaler Gewalt ausgeübt wurde, als dies von ihnen verlangt wurde. Die vorhandenen Handlungsräume wurden allerdings von dem Wachpersonal durchaus unterschiedlich ausgeschöpft. In der Sprache der Häftlinge spiegelt sich deren in hohem Maße vom Verhalten der Aufseherinnen abhängige Lage wider. Während auf der einen Seite Aufseherinnen wegen ihrer Grausamkeiten und sadistischen Exzesse "blutige Brigida" (Hildegard Lächert) und "Stute" (Hermine Braunsteiner) genannt wurden, bezeichnete man relativ zurückhaltende Aufseherinnen im Häftlingsjargon auch als "Perlchen" (Hermine Brückner) oder "Mutti" (Emilie Macha). Welche Faktoren den Ausschlag für das unterschiedliche Verhalten der KZ-Aufseherinnen im Umgang mit den Häftlingen gaben, wird allerdings in dem vorliegenden Werk nicht genauer untersucht, da es individualpsychologische, ethische und juristische Fragestellungen weitgehend ausklammert.
Dennoch kann das Buch plausibel darlegen, dass junge Frauen ohne besonderen biographischen Hintergrund nicht selten mit einem hohen Maß an Eigeninitiative zum Funktionieren eines Vernichtungslagers beitrugen. Die Untersuchung leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Täter- und Genderforschung. Manche Formulierungen erscheinen indes unangemessen ("Fußtritte waren in Majdanek Braunsteiners ,Markenzeichen'"). Historische Fehler der Studie - es wird behauptet, die Wannsee-Konferenz habe den staatlich organisierten Massenmord an den Juden "eingeleitet" - sind ärgerlich, sie nehmen der Untersuchung jedoch nicht ihre innovative Bedeutung. Denn dass die Verfasserin den schrecklichen "Dienstalltag" der Täterinnen in Majdanek genau ausleuchtet und sich den anthropologischen Abgründen dieses immer noch tabuisierten Themas stellt, hilft genauer zu rekonstruieren, wie der europäische Judenmord Realität wurde.
BERNWARD DÖRNER
Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942-1944. Hamburger Edition, Hamburg 2009. 521 S., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Aufseherinnen im Lager Majdanek
Im Herbst 1941 errichtete die SS - nur fünf Kilometer von der Stadtmitte Lublins entfernt - ein Lager. In Majdanek, das wie Auschwitz sowohl als Konzentrations- als auch Vernichtungslager gedient hat, wurden Zehntausende Häftlinge ermordet. Die meisten Opfer waren polnische Verfolgte sowie jüdische Männer, Frauen und Kinder. Schon bald fielen viele Häftlinge den katastrophalen hygienischen Bedingungen, Seuchen, Hunger und Misshandlungen zum Opfer. "Selektiert" wurde, wer nach dem Willen der Täter getötet werden sollte. Gemordet wurde mittels unterschiedlicher Methoden: durch Giftinjektion, Erhängung, Erschießung, in Gaskammern. In Majdanek wurden zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 neben zirka 1200 Männern auch mindestens 28 Aufseherinnen "im Gefolge der SS" eingesetzt. Deren Verhaltensmuster sucht Elissa Mailänder Koslov möglichst genau zu analysieren. Sie befragt hierzu NS-Dokumente, Ermittlungsakten von Justiz und Polizei und Interviews vorrangig unter sozialpsychologischen und historisch-anthropologischen Gesichtspunkten. Die Ermittlungs- und Verfahrensakten des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses aus den Jahren 1975 bis 1981 bilden die zentrale Quellengrundlage der Studie. Intensiv ausgewertet wird auch Eberhard Fechners Dokumentarfilm über das Verfahren ("Der Prozess"), in dem zahlreiche Verfahrensbeteiligte, darunter auch SS-Aufseherinnen, zu Wort kommen.
Das in Majdanek eingesetzte weibliche Wachpersonal war zumeist um 1920 geboren, ledig, entstammte überwiegend "einfachen Verhältnissen". Die Frauen waren zuvor Bewacherinnen im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Verfasserin kann in ihrem Buch belegen, dass sich die Aufseherinnen mit ihrer Arbeit im KZ in erheblichem Maß identifiziert haben. Ihre Vorgesetzten sahen sich bezeichnenderweise dazu veranlasst, ihnen zu verbieten, in ihrer Freizeit zum Ausgehkleid ihre Dienststiefel zu tragen. Ob die Aufseherinnen sich für ihren Einsatz im Konzentrationslager Majdanek freiwillig gemeldet haben oder ob sie dorthin versetzt wurden, lässt sich vielfach nicht mehr eindeutig klären. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass die Frauen schon bald in die ihnen zugedachte Rolle hineinwuchsen und dass sich ihr Verhalten radikalisierte. Ende 1943 bewachten in Majdanek 19 Aufseherinnen mehr als 7000 weibliche KZ-Häftlinge. Zu ihren Aufgaben gehörten das Abhalten der täglichen Zählappelle, die Überwachung und Disziplinierung der weiblichen Häftlinge in den Arbeitskommandos sowie im Blockbereich. Sie führten auch die "Selektionen" der weiblichen Häftlinge durch. In jedem Fall trugen die SS-Aufseherinnen durch ihren Beitrag objektiv zum Funktionieren des Konzentrations- und Vernichtungslagers in Lublin bei.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie die in Majdanek eingesetzten Frauen mit ihren Handlungsoptionen im Lager umgingen. Die Studie weist nach, dass von den SS-Aufseherinnen häufiger und brutaler Gewalt ausgeübt wurde, als dies von ihnen verlangt wurde. Die vorhandenen Handlungsräume wurden allerdings von dem Wachpersonal durchaus unterschiedlich ausgeschöpft. In der Sprache der Häftlinge spiegelt sich deren in hohem Maße vom Verhalten der Aufseherinnen abhängige Lage wider. Während auf der einen Seite Aufseherinnen wegen ihrer Grausamkeiten und sadistischen Exzesse "blutige Brigida" (Hildegard Lächert) und "Stute" (Hermine Braunsteiner) genannt wurden, bezeichnete man relativ zurückhaltende Aufseherinnen im Häftlingsjargon auch als "Perlchen" (Hermine Brückner) oder "Mutti" (Emilie Macha). Welche Faktoren den Ausschlag für das unterschiedliche Verhalten der KZ-Aufseherinnen im Umgang mit den Häftlingen gaben, wird allerdings in dem vorliegenden Werk nicht genauer untersucht, da es individualpsychologische, ethische und juristische Fragestellungen weitgehend ausklammert.
Dennoch kann das Buch plausibel darlegen, dass junge Frauen ohne besonderen biographischen Hintergrund nicht selten mit einem hohen Maß an Eigeninitiative zum Funktionieren eines Vernichtungslagers beitrugen. Die Untersuchung leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Täter- und Genderforschung. Manche Formulierungen erscheinen indes unangemessen ("Fußtritte waren in Majdanek Braunsteiners ,Markenzeichen'"). Historische Fehler der Studie - es wird behauptet, die Wannsee-Konferenz habe den staatlich organisierten Massenmord an den Juden "eingeleitet" - sind ärgerlich, sie nehmen der Untersuchung jedoch nicht ihre innovative Bedeutung. Denn dass die Verfasserin den schrecklichen "Dienstalltag" der Täterinnen in Majdanek genau ausleuchtet und sich den anthropologischen Abgründen dieses immer noch tabuisierten Themas stellt, hilft genauer zu rekonstruieren, wie der europäische Judenmord Realität wurde.
BERNWARD DÖRNER
Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942-1944. Hamburger Edition, Hamburg 2009. 521 S., 35,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr instruktiv findet der Rezensent Bernward Dörner diese Untersuchung zu den Aufseherinnen im Konzentrationslager Majdanek, dessen Todeszahlen der Rezensent nur noch mit mehreren zehntausend angibt. Die Autorin Elissa Mailänder Koslov wertet vor allem die Ermittlungs- und Verfahrensakten aus dem Düsseldorfer Majdanek-Prozess von 1975 bis 1981 aus. Dabei konnte Mailänder Koslov dem Rezensenten schlüssig darstellen, wie sich die meist einfachen Verhältnissen entstammenden Frauen mit ihrer Arbeit identifizierten, auch wenn nicht klar ist, ob sich die Frauen freiwillig zu diesem Dienst gemeldet haben. Deutlich werden lässt die Studie allerdings, dass es durchaus Handlungsspielraum gab, den die Aufseherinnen sehr unterschiedlich nutzten. So wurden einige für ihre Exzesse mit den entsprechenden Beinamen belegt ("Stute", "Blutige Brigida"), während andere als "Perlchen" oder "Mutti" figurierten, wie der Rezensent berichtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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