Der Erste Weltkrieg brachte neue Formen der Massengewalt. Soldaten töteten und verwundeten einander in bislang nicht gekanntem Ausmaß. Zugleich versuchten sie, das Feuer der Waffen zu überleben oder sich dem Töten zu entziehen. Manche verweigerten sich ganz der Gewalt. Erst in der Zusammenschau von Töten, Überleben und Verweigern, so die These dieses Bandes, werden Formen und Ausmaß der Gewalt im Ersten Weltkrieg verständlich. Benjamin Ziemann bietet eine anschauliche und abgewogene Einführung in die wichtigsten Fragen und Themen, welche die Gewaltpraxis der deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges aufwirft. Die Kapitel des Bandes verbinden die systematische Analyse von Gewalt- und Verweigerungsformen mit biografischen Fallstudien zur Beobachtung und Verarbeitung der Gewalt. Damit wird nachvollziehbar, wie die Massengewalt des Ersten Weltkrieges die deutsche Gesellschaft prägte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Manfred Nebelin ist dankbar, dass mit Benjamin Ziemanns Studie nun ein Buch vorliegt, das die Gewalt im Ersten Weltkrieg zum Schwerpunkt hat, das Töten. Für Nebelin ein wichtiger Fokus, da die Opferzahlen ab 1914 eine nie dagewesene Größenordnung erreichten, wie er zu bedenken gibt. Im Buch erfährt er, warum. Neue Waffengattungen, besonders die Artillerie, und auch die neue Anonymität des Tötens waren ausschlaggebend. Leider erfährt der Rezensent hier zu wenig über die Psychologie der Artilleristen und MG-Schützen, obgleich doch Aufzeichnungen genug existieren, wie Nebelin weiß. Dass der Autor einmal mehr Ernst Jünger als Exempel für Gewalthandeln hernimmt, kann ihn nicht zufriedenstellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2014Sturmgewehr schießt, Ludendorff sprießt
Gewalt im Weltkrieg und der Testamentsvollstrecker des Generalquartiermeisters
Befasst sich die klassische Kriegsgeschichte mit Feldzügen und Schlachten, untersucht die "Militärgeschichte von unten" Schicksale einfacher Soldaten. Darauf aufbauend, geht es der Anfang der 1990er Jahre grundgelegten Gewaltgeschichte um die Analyse von organisierten Tötungen. Wenngleich aus dieser Begriffsbestimmung folgt, dass ihr Gegenstand nicht nur zwischenstaatliche Konflikte sind, zeigen die vorzustellenden beiden Studien, dass ihr Schwerpunkt gleichwohl auf der Erforschung von Gewalt im Krieg liegt. Die Methodik dieser "Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht", stammt im Wesentlichen von Michael Geyer (Chicago). Welche mitunter brisanten Ergebnisse sich damit erzielen lassen, führte die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945" der Öffentlichkeit 1995 vor Augen.
Stand bislang der Zweite Weltkrieg im Zentrum der Gewaltforschung, wendet sich Benjamin Ziemann dem Ersten Weltkrieg zu. Rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns 1914 trägt er entscheidend dazu bei, dass das "Definitivum aller Gewalt" nicht aus dem Blick gerät: der Akt des Tötens. Wie wichtig diese Fokussierung ist, zeigt sich daran, dass die Zahl der Opfer von 1914 bis 1918 eine bis dahin unvorstellbare Größenordnung erreichte. Allein auf Seiten des Deutschen Reiches verloren zwei Millionen Soldaten ihr Leben, über fünf Millionen wurden verwundet. Die technischen Voraussetzungen für die "Orgie der Gewalt" schufen die von allen Kriegsparteien entwickelten modernen Kampfmittel: durchschlagskräftigere Artilleriegeschütze, Maschinengewehre, neue Waffengattungen wie U-Boote, Panzer und Flugzeuge sowie chemische Kampfstoffe.
Welche Waffen für Tod und Verwundung verantwortlich waren, geht aus den Unterlagen des Heeressanitätsamtes hervor. Demnach erwiesen sich als "schlechterdings prägende Destruktionskraft" die Artilleriegeschosse. 75 Prozent der Kriegstoten und Verwundeten fielen ihnen zum Opfer; weitere 18 Prozent starben durch Maschinengewehr- oder Gewehrkugeln; drei Prozent erlagen den Folgen einer Gasvergiftung, und nur knapp ein Prozent wurden mit einer von Hand geführten Waffe getötet. Demgegenüber waren in den Reichseinigungskriegen noch ein Drittel aller Opfer mit einem Bajonett, Säbel oder Dolch getötet worden.
"Töten als Handarbeit" war im Großen Krieg zu einer seltenen Ausnahme geworden. Gerade angesichts der Anonymität des Tötens aber wäre es wünschenswert gewesen, mehr über die psychische Befindlichkeit der aus großer Distanz tötenden Artilleristen, MG-Schützen und Flugzeugführer zu erfahren, zumal es an aussagekräftigen Tagebüchern und Briefsammlungen nicht mangelt. Stattdessen belässt Ziemann es bei einer Deutung des Gewalthandelns von Ernst Jünger, der einmal mehr als Protagonist der "modernen Kampfmaschinen" erscheint.
Im Unterschied zur Masse der ihre Pflicht erfüllenden Soldaten versuchten vergleichsweise wenige, den Gewaltexzessen zu entkommen: sei es auf Zeit durch Urlaubsüberschreitung oder Simulation von Krankheit, sei es auf Dauer durch Selbstverstümmelung oder Desertion. Das Ziel der Flüchtenden war im Westen das neutrale Ausland, im Osten die Wälder Polens und Litauens. Gaben bei dem Gros der Flüchtenden persönliche Beweggründe den Ausschlag, spielten bei einem kleinen Teil politische Motive eine Rolle - zum Beispiel bei dem Mitbegründer des Spartakusbundes Wilhelm Pieck. Konsequenterweise schloss sich der spätere "kommunistische Hindenburg der DDR" (Willy Brandt) im niederländischen Exil einem sozialrevolutionären Arbeiterverein an. Dessen Mitglieder forderten die an der Westfront kämpfenden Soldaten in Flugblättern auf, sich gegen ihre Offiziere zu erheben und die Revolution in die Heimat zu tragen.
Lag die Zahl der Deserteure in den ersten beiden Kriegsjahren bei rund 30 000, stieg diese nach dem Scheitern der Operation "Michael" explosionsartig an. Die zunehmend spürbare alliierte Überlegenheit führte seit dem Spätsommer 1918 dazu, dass sich bis Kriegsende mehr als 150 000 Soldaten zumeist mit gefälschten Urlaubsscheinen als "Versprengte" dem Frontdienst entzogen. Damit bestätigt Ziemann empirisch die von Wilhelm Deist formulierte These, dass es im deutschen Heer einen "verdeckten Militärstreik" gab. Der Versuch der Obersten Heeresleitung, dieser Entwicklung mit drakonischen Strafen Einhalt zu gebieten, blieb erfolglos. Wie die informative Studie belegt, nahmen die Deserteure hohe Risiken in Kauf, um zu überleben.
Einen anderen Blick auf den Großen Krieg wirft Bernhard Wien, dem es um die Kontinuitäten zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg geht. Als Bindeglied sieht er den "Vernichtungsstrategen" Erich Ludendorff (1865-1937). Der "Kopf" der Dritten Obersten Heeresleitung, den er mit Hitler und Hindenburg zu den "drei einflussreichsten Personen der deutschen Geschichte 1914 bis 1945" zählt, steht im Mittelpunkt seiner "Dreierbiographie". Mehr noch: Hitler erscheint hier als Ludendorffs "Nachfolger und Testamentsvollstrecker". Die beiden "bürgerlichen Aufsteiger", die Rudolf Heß 1920 miteinander bekannt gemacht hatte, verband sowohl ihr Hass gegen die "Novemberverbrecher" als auch ihre Vorstellung vom Verhältnis von Militär und Politik ("Ludendorff wollte eine Armee mit einem Staat wie unter Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. . . Hitler trat auf allen Gebieten in die Fußstapfen Ludendorffs.").
Militärisch sei der 1914 bei Tannenberg in Ostpreußen erkämpfte Sieg über die Russen zur "Blaupause" für die Vernichtungsschlachten in dem 1939 entfesselten "doppelten Revanchekrieg" geworden. Aus Wiens Sicht vollendete der "Führer" 1940, was Ludendorff 1918 mit der "Schlacht um Frankreich" begonnen hatte, "um danach, wie Ludendorff es begehrte, im Osten mit den Sowjets aufzuräumen". Wie ein Vergleich der Russland-Politik in beiden Weltkriegen zeigt, gab es in der Tat in quantitativer Hinsicht Parallelen zwischen Ludendorffs Ost-Imperium, welches sich vom Kaspischen Meer bis zum Peipussee erstreckte, und Hitlers künftigem Weltreich, in dem langfristig der Ural die Ostgrenze markieren sollte. Umso mehr wäre es geboten gewesen, die gravierenden qualitativen Unterschiede zwischen der Kriegführung im Osten 1914 bis 1918 und Hitlers Konzeption des rassenideologischen Vernichtungskrieges hervorzuheben.
Laut Wien zog Hitler auch innenpolitisch aus dem Schicksal des am 26. Oktober 1918 entlassenen Generals die entsprechenden Schlussfolgerungen. Weil Ludendorff auf dem Höhepunkt seiner Macht hinter Wilhelm II. und Hindenburg vermeintlich die "Nummer Drei" blieb, errichtete Hitler die "totale Diktatur": "Eben weil Ludendorff im Ersten Weltkrieg kein Diktator war, war es sein gelehriger Schüler Hitler im Zweiten Weltkrieg." Angesichts dieser geradezu manischen Fixierung des späteren "Totengräbers" des Deutschen Reiches auf den zum "Super-Ludendorff" verklärten "Weichensteller" hätte man gern Näheres über die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten der beiden Putschisten von 1923 und selbsternannten "Weltrevolutionäre" erfahren. Leider bleibt es hier wieder bei spärlichen Hinweisen, etwa zur Rolle von Ludendorffs zweiter Ehefrau, der Nervenärztin und Religionsphilosophin Mathilde von Kemnitz ("die wirre Mathilde"). So lassen sich die ungeklärten Fragen nach dem Verhältnis Ludendorffs zu Hitler, der NS-Ideologie und dem "Dritten Reich" nicht zufriedenstellend beantworten. Auch tragen die unzähligen verwendeten Stereotypen dazu bei, dass Wien sein eingangs den Lesern gegebenes Versprechen ("Die Lektüre lohnt") nicht einzuhalten vermag.
MANFRED NEBELIN.
Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten - Überleben - Verweigern. Klartext Verlag, Essen 2013. 276 S., 22,95 [Euro].
Bernhard Wien: Weichensteller und Totengräber. Ludendorff, von Hindenburg und Hitler 1914-1937. Books on Demand, Norderstedt 2013. 476 S., 29,90 [Euro].
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Gewalt im Weltkrieg und der Testamentsvollstrecker des Generalquartiermeisters
Befasst sich die klassische Kriegsgeschichte mit Feldzügen und Schlachten, untersucht die "Militärgeschichte von unten" Schicksale einfacher Soldaten. Darauf aufbauend, geht es der Anfang der 1990er Jahre grundgelegten Gewaltgeschichte um die Analyse von organisierten Tötungen. Wenngleich aus dieser Begriffsbestimmung folgt, dass ihr Gegenstand nicht nur zwischenstaatliche Konflikte sind, zeigen die vorzustellenden beiden Studien, dass ihr Schwerpunkt gleichwohl auf der Erforschung von Gewalt im Krieg liegt. Die Methodik dieser "Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht", stammt im Wesentlichen von Michael Geyer (Chicago). Welche mitunter brisanten Ergebnisse sich damit erzielen lassen, führte die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945" der Öffentlichkeit 1995 vor Augen.
Stand bislang der Zweite Weltkrieg im Zentrum der Gewaltforschung, wendet sich Benjamin Ziemann dem Ersten Weltkrieg zu. Rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns 1914 trägt er entscheidend dazu bei, dass das "Definitivum aller Gewalt" nicht aus dem Blick gerät: der Akt des Tötens. Wie wichtig diese Fokussierung ist, zeigt sich daran, dass die Zahl der Opfer von 1914 bis 1918 eine bis dahin unvorstellbare Größenordnung erreichte. Allein auf Seiten des Deutschen Reiches verloren zwei Millionen Soldaten ihr Leben, über fünf Millionen wurden verwundet. Die technischen Voraussetzungen für die "Orgie der Gewalt" schufen die von allen Kriegsparteien entwickelten modernen Kampfmittel: durchschlagskräftigere Artilleriegeschütze, Maschinengewehre, neue Waffengattungen wie U-Boote, Panzer und Flugzeuge sowie chemische Kampfstoffe.
Welche Waffen für Tod und Verwundung verantwortlich waren, geht aus den Unterlagen des Heeressanitätsamtes hervor. Demnach erwiesen sich als "schlechterdings prägende Destruktionskraft" die Artilleriegeschosse. 75 Prozent der Kriegstoten und Verwundeten fielen ihnen zum Opfer; weitere 18 Prozent starben durch Maschinengewehr- oder Gewehrkugeln; drei Prozent erlagen den Folgen einer Gasvergiftung, und nur knapp ein Prozent wurden mit einer von Hand geführten Waffe getötet. Demgegenüber waren in den Reichseinigungskriegen noch ein Drittel aller Opfer mit einem Bajonett, Säbel oder Dolch getötet worden.
"Töten als Handarbeit" war im Großen Krieg zu einer seltenen Ausnahme geworden. Gerade angesichts der Anonymität des Tötens aber wäre es wünschenswert gewesen, mehr über die psychische Befindlichkeit der aus großer Distanz tötenden Artilleristen, MG-Schützen und Flugzeugführer zu erfahren, zumal es an aussagekräftigen Tagebüchern und Briefsammlungen nicht mangelt. Stattdessen belässt Ziemann es bei einer Deutung des Gewalthandelns von Ernst Jünger, der einmal mehr als Protagonist der "modernen Kampfmaschinen" erscheint.
Im Unterschied zur Masse der ihre Pflicht erfüllenden Soldaten versuchten vergleichsweise wenige, den Gewaltexzessen zu entkommen: sei es auf Zeit durch Urlaubsüberschreitung oder Simulation von Krankheit, sei es auf Dauer durch Selbstverstümmelung oder Desertion. Das Ziel der Flüchtenden war im Westen das neutrale Ausland, im Osten die Wälder Polens und Litauens. Gaben bei dem Gros der Flüchtenden persönliche Beweggründe den Ausschlag, spielten bei einem kleinen Teil politische Motive eine Rolle - zum Beispiel bei dem Mitbegründer des Spartakusbundes Wilhelm Pieck. Konsequenterweise schloss sich der spätere "kommunistische Hindenburg der DDR" (Willy Brandt) im niederländischen Exil einem sozialrevolutionären Arbeiterverein an. Dessen Mitglieder forderten die an der Westfront kämpfenden Soldaten in Flugblättern auf, sich gegen ihre Offiziere zu erheben und die Revolution in die Heimat zu tragen.
Lag die Zahl der Deserteure in den ersten beiden Kriegsjahren bei rund 30 000, stieg diese nach dem Scheitern der Operation "Michael" explosionsartig an. Die zunehmend spürbare alliierte Überlegenheit führte seit dem Spätsommer 1918 dazu, dass sich bis Kriegsende mehr als 150 000 Soldaten zumeist mit gefälschten Urlaubsscheinen als "Versprengte" dem Frontdienst entzogen. Damit bestätigt Ziemann empirisch die von Wilhelm Deist formulierte These, dass es im deutschen Heer einen "verdeckten Militärstreik" gab. Der Versuch der Obersten Heeresleitung, dieser Entwicklung mit drakonischen Strafen Einhalt zu gebieten, blieb erfolglos. Wie die informative Studie belegt, nahmen die Deserteure hohe Risiken in Kauf, um zu überleben.
Einen anderen Blick auf den Großen Krieg wirft Bernhard Wien, dem es um die Kontinuitäten zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg geht. Als Bindeglied sieht er den "Vernichtungsstrategen" Erich Ludendorff (1865-1937). Der "Kopf" der Dritten Obersten Heeresleitung, den er mit Hitler und Hindenburg zu den "drei einflussreichsten Personen der deutschen Geschichte 1914 bis 1945" zählt, steht im Mittelpunkt seiner "Dreierbiographie". Mehr noch: Hitler erscheint hier als Ludendorffs "Nachfolger und Testamentsvollstrecker". Die beiden "bürgerlichen Aufsteiger", die Rudolf Heß 1920 miteinander bekannt gemacht hatte, verband sowohl ihr Hass gegen die "Novemberverbrecher" als auch ihre Vorstellung vom Verhältnis von Militär und Politik ("Ludendorff wollte eine Armee mit einem Staat wie unter Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. . . Hitler trat auf allen Gebieten in die Fußstapfen Ludendorffs.").
Militärisch sei der 1914 bei Tannenberg in Ostpreußen erkämpfte Sieg über die Russen zur "Blaupause" für die Vernichtungsschlachten in dem 1939 entfesselten "doppelten Revanchekrieg" geworden. Aus Wiens Sicht vollendete der "Führer" 1940, was Ludendorff 1918 mit der "Schlacht um Frankreich" begonnen hatte, "um danach, wie Ludendorff es begehrte, im Osten mit den Sowjets aufzuräumen". Wie ein Vergleich der Russland-Politik in beiden Weltkriegen zeigt, gab es in der Tat in quantitativer Hinsicht Parallelen zwischen Ludendorffs Ost-Imperium, welches sich vom Kaspischen Meer bis zum Peipussee erstreckte, und Hitlers künftigem Weltreich, in dem langfristig der Ural die Ostgrenze markieren sollte. Umso mehr wäre es geboten gewesen, die gravierenden qualitativen Unterschiede zwischen der Kriegführung im Osten 1914 bis 1918 und Hitlers Konzeption des rassenideologischen Vernichtungskrieges hervorzuheben.
Laut Wien zog Hitler auch innenpolitisch aus dem Schicksal des am 26. Oktober 1918 entlassenen Generals die entsprechenden Schlussfolgerungen. Weil Ludendorff auf dem Höhepunkt seiner Macht hinter Wilhelm II. und Hindenburg vermeintlich die "Nummer Drei" blieb, errichtete Hitler die "totale Diktatur": "Eben weil Ludendorff im Ersten Weltkrieg kein Diktator war, war es sein gelehriger Schüler Hitler im Zweiten Weltkrieg." Angesichts dieser geradezu manischen Fixierung des späteren "Totengräbers" des Deutschen Reiches auf den zum "Super-Ludendorff" verklärten "Weichensteller" hätte man gern Näheres über die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten der beiden Putschisten von 1923 und selbsternannten "Weltrevolutionäre" erfahren. Leider bleibt es hier wieder bei spärlichen Hinweisen, etwa zur Rolle von Ludendorffs zweiter Ehefrau, der Nervenärztin und Religionsphilosophin Mathilde von Kemnitz ("die wirre Mathilde"). So lassen sich die ungeklärten Fragen nach dem Verhältnis Ludendorffs zu Hitler, der NS-Ideologie und dem "Dritten Reich" nicht zufriedenstellend beantworten. Auch tragen die unzähligen verwendeten Stereotypen dazu bei, dass Wien sein eingangs den Lesern gegebenes Versprechen ("Die Lektüre lohnt") nicht einzuhalten vermag.
MANFRED NEBELIN.
Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten - Überleben - Verweigern. Klartext Verlag, Essen 2013. 276 S., 22,95 [Euro].
Bernhard Wien: Weichensteller und Totengräber. Ludendorff, von Hindenburg und Hitler 1914-1937. Books on Demand, Norderstedt 2013. 476 S., 29,90 [Euro].
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