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Seit Ende der achtziger Jahre hat das Thema Gewalt wieder Hochkonjunktur. Bevölkerungsumfragen zeigen, daß die Kriminalitätsfurcht in den letzten Jahren enorm angestiegen ist. Allerdings müssen diese Bedrohungsängste nicht notwendigerweise mit der realen Kriminalitätsentwicklung übereinstimmen. Die Zunahme der Gewaltkriminalität ist nämlich konzentriert auf bestimmte Altersgruppen, Regionen und ethnische Gruppen. Daß die problematischen Entwicklungen ganz deutlich bestimmten Teilgruppen zuzurechnen sind, verweist auf Versäumnisse der Politik der Vergangenheit, aber damit auch auf Chancen für die Zukunft.…mehr

Produktbeschreibung
Seit Ende der achtziger Jahre hat das Thema Gewalt wieder Hochkonjunktur. Bevölkerungsumfragen zeigen, daß die Kriminalitätsfurcht in den letzten Jahren enorm angestiegen ist. Allerdings müssen diese Bedrohungsängste nicht notwendigerweise mit der realen Kriminalitätsentwicklung übereinstimmen. Die Zunahme der Gewaltkriminalität ist nämlich konzentriert auf bestimmte Altersgruppen, Regionen und ethnische Gruppen. Daß die problematischen Entwicklungen ganz deutlich bestimmten Teilgruppen zuzurechnen sind, verweist auf Versäumnisse der Politik der Vergangenheit, aber damit auch auf Chancen für die Zukunft.
Autorenporträt
Wolfgang Kühnel ist Professor am Mathematischen Institut B der Universität Stuttgart.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2002

Mit dem Nein leben
Soziologen, Kriminologen und Juristen über Gewaltkriminalität

Günter Albrecht/Otto Backes/Wolfgang Kühnel (Herausgeber): Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 475 Seiten, 16,- Euro.

Gut zu wissen, daß das Leben im Mittelalter viel gefährlicher war als heute. Daß man gewaltsam ums Leben kam, war im 13. Jahrhundert 35,8mal wahrscheinlicher als heute. Noch sicherer als dieser Tage war das Leben in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wie einem Text über "Individuelle Gewalt und Modernisierung" zu entnehmen ist, der zu den gehaltvolleren Aufsätzen des Bandes über Gewaltkriminalität gehört.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist jene Entwicklung, die es immer unwahrscheinlicher machte, ermordet zu werden, anscheinend an einen Wendepunkt gekommen. Seither sind die Zeiten wieder brutaler, die Leute gewalttätiger geworden. Man ahnt es manchmal bei der Zeitungslektüre, vor allem aber zeigen es die Polizeistatistiken. Vor allem junge Männer werden als Schläger oder Messerstecher straffällig. Wie das kommt, will der Sammelband erklären. Oder will er alle Sorge und Aufregung über die Jugend und die Gewalt als Mythos vorführen? Nach 475 Seiten zumeist schwergängiger Lektüre weiß man es nicht.

Dabei bestreitet keiner der in dem Band versammelten Soziologen, Kriminologen oder Juristen, daß es seit mindestens einem Jahrzehnt einen Trend unter Jugendlichen gibt, gegeneinander Gewalt zu gebrauchen. Vor allem die Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, in dem Band vielfach zitiert, haben gezeigt, daß vergleichsweise oft nichtdeutsche Jugendliche in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt sind - als Täter oder als Opfer. Das ist die Variante der Jugendgewalt, die den Polizeien in westdeutschen Großstädten gelegentlich viel Arbeit macht.

Die Polizeien in ostdeutschen Kleinstädten haben es derweil mit rechtsextremen oder sich rechtsextrem gebenden Schlägern zu tun. Mit diesen beiden Formen der Gewaltkriminalität befassen sich die meisten Beiträge - weniger erklärend als deutend. Man erfährt, daß man Jugendgewalt mit nichtdeutschen Tätern statistisch dadurch wegerklären kann, daß immer mehr Deutsche immer öfter "immer banalere Ereignisse" anzeigen, um auf diese Weise einen Konflikt zwischen Deutschen und Einwanderern oder deren Kindern auszutragen: ach so. Man liest, daß die jungen Gewalttäter in den Städten oft aufgrund ihrer Werte mit der Ordnung in Konflikt geraten. Die Ordnung schützt individualistische Werte, die nichtdeutsche Jugend ist aber im Sinne kollektivistischer Werte erzogen - schon ist da ein Gewaltkonflikt. Man liest - bezeichnenderweise im Beitrag einer Kriminalistin -, daß Jugendliche nichtdeutscher Herkunft im Alter von 14 bis 17 Jahren "besonders hohe Anteile" der Tatverdächtigenstatistik bei so halbstarken Delikten wie Vergewaltigung, Raubüberfällen und Körperverletzung haben. Doch sei, so die Autorin Wiebke Steffen, diese Delinquenz durchaus als "hausgemacht" anzusehen: Wenn die jugendlichen Tatverdächtigen auch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, so sind sie doch hier aufgewachsen. "Sie sind sozusagen ,unsere' Kriminellen - für die dann auch die gleichen Hilfen und Strafen gelten sollten wie für deutsche Jugendliche."

Da trifft sich die Frau aus der polizeilichen Praxis mit dem Kollegen Autor aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis, der daran erinnert, daß das Gefängnis die Leute nicht bessert und daß es für den Jugendstaatsanwalt keinen Grund gibt, "zur Erziehung durch Strafe zurückzukehren". Auch wenn man die Milde des Staatsanwalts Klaus Breymann für täterorientiert hält, gehört sein Beitrag zu den interessantesten des Bandes, nebenbei gesagt auch zu den am klarsten formulierten. Und zwar nicht, weil Breymann den ganzen Katalog der Methoden des Anbietens, Besserns und Therapierens beschreibt, sondern weil er ein paar schlichte Wahrheiten des Strafvollzuges - der den Insassen eine Chance zur Besserung bieten soll - in Erinnerung bringt: "Je größer die Anstalt, desto eher erweist sich die Mühe als vergeblich. Aber nur große Anstalten rechnen sich."

Da bleibt eine gewisse kriminalpolitische Tristesse. Strafen bringen anscheinend nichts, sind aber unverzichtbar. Erziehungsversuche sind ungeheuer aufwendig, helfen dem Opfer einer Gewalttat überhaupt nicht und bieten bloß die Spur einer Chance auf Erfolg. Und das auch nur, wenn es Bemühungen sind, bei denen kriminelle Jugendliche ein bißchen von dem beigebracht bekommen, was ihnen, als sie Kinder waren, vorenthalten worden ist: daß sie lernen, mit einem "Nein" zu leben.

WERNER VAN BEBBER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wenig begeistert wirkt Rezensent Werner von Bebber von der "zumeist schwergängigen Lektüre", die sich vorwiegend mit Gewalttaten nichtdeutscher Jugendlicher in westdeutschen Großstätdten und rechtslastiger Gewalt in ostdeutschen Kleinstädten befasst. "Weniger erklärend als deutend" gehen die Soziologen, Kriminologen und Juristen auf die Materie ein, schreibt van Bebber, und fragt sich, ob die unbestritten zunehmende Gewalttätigkeit der letzten zehn Jahre hier als "Mythos" vorgeführt werden soll. Interessant und klar formuliert findet er die ungeschminkten Worte des Staatsanwalts Breymann zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit großer Strafanstalten, deren negative Wirkung auf die Insassen bekannt sind: "Nur große Anstalten rechnen sich".

© Perlentaucher Medien GmbH