Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.1996Wenn ein Kind in einer Gewitternacht
Bilderstrom, reich, reduziert und mitreißend: das neue Buch von Michèle Lemieux
Allein in der Nacht wach zu liegen: Alles, was ablenkt, ist fort. Kein Spiel, keine Arbeit, keine Liebe hält auf. Die Gedanken haben freien Flug ins Überall, sie brauchen sich nicht um Tageslichttauglichkeit zu scheren. Das kann schön sein, aber auch schrecklich, zumal, wenn man ein Kind ist: Die Abgründe sind noch so deutlich zu sehen. Es gibt Nächte, da muß man denken und kann nicht schlafen.
Ein Buch wie eine Schlaflosigkeit: Alles, was ablenkt, ist fort. Kein fortlaufender Text, keine Geschichte hält auf, keine bunten Bilder reißen die Phantasie an sich. Die Gedanken haben viel Raum im Weiß und Schwarz der Seiten.
Ein Mädchen geht zu Bett. Küßchen für die Eltern im Wohnzimmer, dann ist sie allein mit ihrem Hund. Draußen zieht ein Gewitter auf, und mit ihm kommen tausend Fragen. Wenn wir den dicken, nachtblauen Band wieder zuklappen, sind uns siebenundvierzig dieser Fragen bekannt. Sie waren uns schon zuvor bekannt, aber wir hatten sie ganz vergessen, zumal, wenn wir keine Kinder mehr sind; alberne, ernste, abstruse Fragen, federleichte und gruseltiefe, die wichtigsten eben. Sie müssen hier nicht zitiert werden. Es geht um ein paar Sorten Glück, um Himmel, Tod und Hunde. Immer höher versteigt sich der Gedankenflug, bis Mädchen, Hund und Leser vor dem Schlimmsten stehen, dem Nichts. Das Umblättern hat dann etwas sehr Erlösendes - klar, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen, sagt sich der Betrachter und nimmt sich vor, den Kühlschrank immer gut zu füllen, vor allem, wenn Gewitternächte zu erwarten sind.
Seit Jahren führt die kanadische Künstlerin Michèle Lemieux ein Skizzentagebuch, dem sie nun die Ideen für ihr Buch entnommen hat. Die Zeichnungen verhelfen dem Text zu sinnfälligen, starken Bildern, auf das Einfachste reduziert und zugleich von dem Reichtum, den der Gedankenfluß eines Kindes in der Nacht haben kann. Diesen Strich ist man hier nicht gewöhnt. Ihre früheren Bücher, sanfte Bilderbücher mit leisen Texten, verträumt und schön, vergißt man nicht so bald. Dieses Buch aber schlägt ein. Es ist unverhohlen persönlich, nicht für jemanden gedacht. Es steht für sich und ist deshalb ein Buch für alle. MONIKA OSBERGHAUS.
Michèle Lemieux: "Gewitternacht". Beltz & Gelberg, Weinheim 1996. Geb., 240 Seiten, 39,80 DM. Für jedes Alter.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bilderstrom, reich, reduziert und mitreißend: das neue Buch von Michèle Lemieux
Allein in der Nacht wach zu liegen: Alles, was ablenkt, ist fort. Kein Spiel, keine Arbeit, keine Liebe hält auf. Die Gedanken haben freien Flug ins Überall, sie brauchen sich nicht um Tageslichttauglichkeit zu scheren. Das kann schön sein, aber auch schrecklich, zumal, wenn man ein Kind ist: Die Abgründe sind noch so deutlich zu sehen. Es gibt Nächte, da muß man denken und kann nicht schlafen.
Ein Buch wie eine Schlaflosigkeit: Alles, was ablenkt, ist fort. Kein fortlaufender Text, keine Geschichte hält auf, keine bunten Bilder reißen die Phantasie an sich. Die Gedanken haben viel Raum im Weiß und Schwarz der Seiten.
Ein Mädchen geht zu Bett. Küßchen für die Eltern im Wohnzimmer, dann ist sie allein mit ihrem Hund. Draußen zieht ein Gewitter auf, und mit ihm kommen tausend Fragen. Wenn wir den dicken, nachtblauen Band wieder zuklappen, sind uns siebenundvierzig dieser Fragen bekannt. Sie waren uns schon zuvor bekannt, aber wir hatten sie ganz vergessen, zumal, wenn wir keine Kinder mehr sind; alberne, ernste, abstruse Fragen, federleichte und gruseltiefe, die wichtigsten eben. Sie müssen hier nicht zitiert werden. Es geht um ein paar Sorten Glück, um Himmel, Tod und Hunde. Immer höher versteigt sich der Gedankenflug, bis Mädchen, Hund und Leser vor dem Schlimmsten stehen, dem Nichts. Das Umblättern hat dann etwas sehr Erlösendes - klar, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen, sagt sich der Betrachter und nimmt sich vor, den Kühlschrank immer gut zu füllen, vor allem, wenn Gewitternächte zu erwarten sind.
Seit Jahren führt die kanadische Künstlerin Michèle Lemieux ein Skizzentagebuch, dem sie nun die Ideen für ihr Buch entnommen hat. Die Zeichnungen verhelfen dem Text zu sinnfälligen, starken Bildern, auf das Einfachste reduziert und zugleich von dem Reichtum, den der Gedankenfluß eines Kindes in der Nacht haben kann. Diesen Strich ist man hier nicht gewöhnt. Ihre früheren Bücher, sanfte Bilderbücher mit leisen Texten, verträumt und schön, vergißt man nicht so bald. Dieses Buch aber schlägt ein. Es ist unverhohlen persönlich, nicht für jemanden gedacht. Es steht für sich und ist deshalb ein Buch für alle. MONIKA OSBERGHAUS.
Michèle Lemieux: "Gewitternacht". Beltz & Gelberg, Weinheim 1996. Geb., 240 Seiten, 39,80 DM. Für jedes Alter.
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