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Desertion und Deserteure im Ersten Weltkrieg: England und Deutschland im Vergleich
Eine vergleichende Studie über Desertion und Deserteure während des Ersten Weltkrieges in England und Deutschland, die neue Einblicke in die Geschichte des 20. Jahrhunderts erschließt.
Während des Ersten Weltkrieges wurden Deserteure im fortschrittlichen England wesentlich härter und unnachsichtiger behandelt als im vergleichsweise konservativen Deutschland. Wodurch erklärt sich dieser überraschende Befund? In Deutschland gab es nicht nur seit dem 19. Jahrhundert die allgemeine Wehrpflicht, die…mehr

Produktbeschreibung
Desertion und Deserteure im Ersten Weltkrieg: England und Deutschland im Vergleich

Eine vergleichende Studie über Desertion und Deserteure während des Ersten Weltkrieges in England und Deutschland, die neue Einblicke in die Geschichte des 20. Jahrhunderts erschließt.

Während des Ersten Weltkrieges wurden Deserteure im fortschrittlichen England wesentlich härter und unnachsichtiger behandelt als im vergleichsweise konservativen Deutschland. Wodurch erklärt sich dieser überraschende Befund? In Deutschland gab es nicht nur seit dem 19. Jahrhundert die allgemeine Wehrpflicht, die Gesellschaft war 1914 trotz vieler Defizite auch schon so liberal, daß die Forderung nach staatsbürgerlicher Gleichheit der Soldaten nicht mehr ignoriert werden konnte. Die Militärjustiz arbeitete dementsprechend auch im Krieg nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. In England dagegen wurde die allgemeine Wehrpflicht erst 1916 eingeführt; die Armee war ein autarkes, rückständiges System, dessen Strukturprinzipien mit denen der übrigen Gesellschaft nicht vereinbar waren. Dementsprechend war die Militärjustiz weitaus härter und willkürlicher als in Deutschland. Nach dem Krieg aber war die englische Gesellschaft fähig, die Armee in das zivile Normensystem einzubinden. In Deutschland dagegen wurde die Desertion im Sinne der Dolchstoßlegende für die Niederlage mitverantwortlich gemacht. Das führte letztlich zur Militärjustiz des Zweiten Weltkrieges, die integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Terrorsystems war.
Christoph Jahr fragt nicht nur danach, wie die Militärführung und die Militärjustiz in England und Deutschland mit Desertion umgingen, wie Angehörige nationaler Minderheiten im englischen und deutschen Heer behandelt wurden, welche Formen und Ausmaße die Desertion annahm. Er behandelt auch die Deserteure selbst und ihre Motive. So entsteht ein Bild von großer sozialgeschichtlicher und psychologischer Tiefenschärfe. Indem das Thema in größere nationale und übernationale Zusammenhänge eingeordnet wird, ergeben sich auch grundsätzliche Einsichten in das Jahrhundert der Weltkriege.

Der Autor
Dr. Christoph Jahr ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.1998

Abschaum der Erde
Deserteure und Überläufer im Ersten Weltkrieg

Christoph Jahr: Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 123. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 419 Seiten, Schaubilder und Tabellen, 78 Mark.

General Wellington, der Sieger von Waterloo, nannte gewöhnliche Soldaten kurzerhand den "Abschaum der Erde". Bei Verstößen gegen die Manneszucht ließ er sie auspeitschen oder aufhängen. Hundert Jahre später, im Ersten Weltkrieg, fällte die britische Militärjustiz noch immer rigorose Urteile: Wer versuchte, zum Feind überzulaufen, oder sich irgendwo im Hinterland der Front versteckte, landete meistens am Exekutionspfahl. Wenn bei Sturmangriffen die Trillerpfeife ertönte und die jungen Soldaten über die Grabenbrüstung ins Niemandsland springen mußten, durchsuchte die englische "Schlachtpolizei" die leeren Schützengräben nach Drückebergern. Wer nicht ehrenvoll sterben wollte, landete vor dem Kriegsgericht. Fieldmarshall Haig, der Oberkommandierende des britische Expeditionskorps in Frankreich, lehnte die Begnadigung von Deserteuren meistens ab. Mit roter Tinte schrieb er unwirsch an den Rand: "Wie sollen wir sonst siegen?"

In der vorliegenden Dissertation wird nicht nur das Phänomen der "Fahnenflucht" mit bewundernswerter Akribie untersucht, sondern darüber hinaus eine Soziologie des "Gewöhnlichen Soldaten" im Ersten Weltkrieg geboten. Vor allem in der standesbewußten englischen Armee war der Klassenunterschied zwischen dem Offizierskorps und dem gemeinen Mann fast unüberwindlich. "Tommy Atkins", wie man den englischen Landser getauft hatte, wurde von seinen Vorgesetzten ständig argwöhnisch beobachtet. Immer befürchtete man, er könne bei günstiger Gelegenheit versuchen, Fahnenflucht zu begehen. Jeder Soldat vorn im Schützengraben galt als potentieller Deserteur, der mit immer raffinierteren Tricks sein Leben retten wollte.

Merkwürdigerweise ging man in der kaiserlich deutschen Armee mit Deserteuren milder um. Die preußischen Kriegsgerichte orientierten sich weitgehend an den rechtsstaatlichen Prinzipien der Ziviljustiz und gaben Fahnenflüchtigen nicht selten eine Überlebenschance. Man sperrte sie irgendwo hinten in der Etappe ins Gefängnis, und die Delinquenten waren für etliche Monate vor den tödlichen Gefahren des Schützengrabens sicher. In den Feldpostbriefen, die der Autor zitiert, ist denn auch immer wieder davon die Rede, wie überglücklich die inhaftierten Landser über ihren Gefängnisaufenthalt waren. Man beging sogar alle möglichen groben Disziplinlosigkeiten - nur um hinter Gitter zu kommen. Auf beiden Seiten der Front wimmelte es von Simulanten und Selbstverstümmlern. Manche infizierten sich absichtlich mit Geschlechtskrankheiten, um ins Lazarett zu kommen. Militärpsychiater hatten den Befehl, jeden, der eine Geisteskrankheit vorschützte, sofort wieder an die Front zu schicken. Bei Verfahren gegen Deserteure wurden sie als Gutachter herangezogen und spielten dabei oft eine unrühmliche Rolle, weil sie psychische Schocks, etwa durch Trommelfeuer, kurzerhand als Nervenschwäche bagatellisierten.

Es versteht sich, daß eine solche umfassende wissenschaftliche Dissertation kaum als Lektüre für ein breites, historisch interessiertes Publikum geeignet ist. Dafür ist ihre Terminologie zu anspruchsvoll. Zwar ist die Arbeit brillant geschrieben, aber der Autor hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur deskriptiv an das Thema heranzugehen, sondern auch die Ergebnisse seiner statistischen Forschung in den Text einzuarbeiten. Das macht den Zugang zu der Materie naturgemäß schwieriger. Aber wer bereit ist, das Buch trotz dieser intellektuellen Barrieren durchzuarbeiten, wird mit einer eindrucksvollen Leistung konfrontiert. Rund um die Figur des Deserteurs wird in zahllosen Einzelheiten der Wahnsinn des hochtechnisierten Massenmordens demonstriert. Wer sich der Schlächterei entziehen wollte, galt, wie zu Wellingtons Zeiten, als "Abschaum der Erde".

HENNING SCHLÜTER

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