Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Computer dem menschlichen Geist überlegen sind und künstliche Intelligenz auch unser Bewusstsein überformt - so das Credo der Naturwissenschaften. David Gelernter, Philosoph und Visionär, stellt die Technikgläubigkeit vom Kopf auf die Füße: Das Spektrum unseres Bewusstseins ist so vielgestaltig, so schöpferisch und so einzigartig, dass kein Computerprogramm dem je gleichkäme. Unser Geist kann sich von Regeln frei machen und gänzlich Neues erschaffen. Das zeigen die Werke von Shakespeare, Homer und Proust. Kreativität und die Fähigkeit zur Introspektion sind nur dem Menschen gegeben. Und die Erkenntnisse von Descartes, Searle und Freud haben im digitalen Zeitalter eine größere Bedeutung denn je. Gezeiten des Geistes lotet die Tiefen des Bewusstseins aus und gibt uns ein neues Verständnis von dem, was das Wesen des Menschen ausmacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2016Wo bleibt das Subjektive?
David Gelernter entdeckt die Nachtseite der Vernunft
Die Vorstellung, dass der Geist wie ein Computer funktioniert, ist ein Produkt der achtziger Jahre und wird heute eher als Metapher verstanden. Ingenieuren der künstlichen Intelligenz (KI) ist meist bewusst, dass ihre Maschinen kein Bewusstsein und trotz emotionaler Zusätze auch keine wirklichen Empfindungen haben. Das ändert nichts daran, dass intelligente Artefakte mit ihrem partiellen, aber immer vielseitigeren Verstand die Grenzen sukzessive verschieben. Der unlängst errungene Sieg einer künstlichen Intelligenz über den besten Go-Spieler hat demonstriert, dass Maschinen im Ergebnis auch intuitives Denken nachbilden können. Seit ein paar Wochen kursiert ein so beeindruckendes wie verstörendes Video im Netz (F.A.Z. vom 31. März), in dem ein Roboter sich nach menschlichen Stößen immer wieder aufrichtet und weiterläuft, als könnte kein Mensch mehr den Vormarsch der KI verhindern.
Der Computerpionier und KI-Kritiker David Gelernter, der maßgeblichen Einfluss auf die Softwareentwicklung ausgeübt hat, warf jüngst in einem Zeitungsartikel einen spekulativen Blick in eine nicht weit entfernte Zukunft, in der KI-Apparate nicht mehr einzelne Aufgaben abarbeiten, sondern sich zu einer flexiblen menschenähnlichen Intelligenz entwickelt haben. Hochintelligente Assistenten mit riesigen Intelligenzquotienten werden Menschen auf Schritt und Tritt verfolgen, weil diese ohne sie nicht leben können. Die Apparate werden daher fortschreitend mit Affekten belegt. Durch den ständigen Kontakt werden zwei Typen von Vernunft verschmolzen werden, die man, so Gelernters zentrale Botschaft, besser auseinanderhalten sollte.
In Gelernters neuem Buch "Gezeiten des Geistes" ist die künstliche Intelligenz nur noch ein Schema, an dem er sich abarbeitet, um in die tieferen Regionen des Geistes zu dringen. Künstliche Intelligenz steht bei Gelernter für die analytisch verengte Vernunft, die unsere Zeit, so der nicht originelle, aber richtige Befund, mehr denn je beherrscht. Gefühle werden für wichtig gehalten, aber Verstand heißt bei den meisten doch logisches Denken. Die dunkle Pointe liegt darin, dass die künstliche Intelligenz den menschlichen Verstand zwar nicht erreicht, dieser ihr aber entgegenkommt - als rationalistisches Denken.
Die Dominanz des Rationalen hat Gelernter schon häufig kritisiert. Neu ist, dass er ihr ein Gegenmodell des Geistes gegenüberstellt, das sogenannte Spektrum. An dessen oberen Ende stehen die analytischen Fähigkeiten - Konzentration, Willensstärke, Logik. Nach unten hin löst es sich auf in ein schweifendes, gefühlsbetontes Denken. Gelernters Sympathie gehört der subjektiven Vernunft: Träumen, Visionen, Mystik, Magie. Auf dieser Skala bewegt sich der Verstand im Tagesverlauf mehrfach von unten nach oben.
Das Buch entfaltet die Nachtseite der Vernunft mit einem reichen Zitatenschatz, scheut aber auch keine Redundanzen. Stil und Konzeption sind schweifend und essayistisch, als wollte Gelernter das von ihm beschriebene Denken in der Form der Darstellung wiederholen. Problematisch ist der scharfe Gegensatz zwischen oberem und unterem Spektrum. Das emotionale Denken hat zwar Synthesequalitäten. Gedanken und Gegenstände sind mit identischen Gefühlen belegt und lassen sich poetisch zu geistigen Landschaften verketten.
Insgesamt ist Gelernters Modell aber vertikal angelegt. Oben ist ein Kontrollbereich, der das Gedächtnis als Speicher benutzt. Die untere Skala wird von unwillkürlichen Stimmungen und Erinnerungen dominiert, die so stark an den Körper gebunden sind, dass an Lenkung kaum zu denken ist. "Deprimiert sind wir ungefähr im selben Sinn, wie eine Petunie lila ist", schreibt Gelernter an einer Stelle. Das gilt aber nur für den untersten Bereich der Skala. Dem Spektrum fehlt der Punkt, an dem Energie und Gefühl zusammenfließen. Wenn die poetische Vernunft nur ein Zerfließen in Erinnerungen und Stimmungen ohne konstruktive Vermögen ist, möchte man die entsprechende Literatur oder Musik dann noch lesen und hören?
Das Verdienst von Gelernters Konzept ist, dass es eine verblassende Linie nachzieht. Eine ideale künstliche Intelligenz, schreibt Gelernter, müsste auch das subjektive Spektrum beherrschen, würde an dieser Aufgabe aber absehbar scheitern. Das Mitgefühl für stolpernde Roboter darf sich in Grenzen halten.
THOMAS THIEL.
David Gelernter: "Gezeiten des Geistes". Die Vermessung unseres Bewusstseins. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Gelernter entdeckt die Nachtseite der Vernunft
Die Vorstellung, dass der Geist wie ein Computer funktioniert, ist ein Produkt der achtziger Jahre und wird heute eher als Metapher verstanden. Ingenieuren der künstlichen Intelligenz (KI) ist meist bewusst, dass ihre Maschinen kein Bewusstsein und trotz emotionaler Zusätze auch keine wirklichen Empfindungen haben. Das ändert nichts daran, dass intelligente Artefakte mit ihrem partiellen, aber immer vielseitigeren Verstand die Grenzen sukzessive verschieben. Der unlängst errungene Sieg einer künstlichen Intelligenz über den besten Go-Spieler hat demonstriert, dass Maschinen im Ergebnis auch intuitives Denken nachbilden können. Seit ein paar Wochen kursiert ein so beeindruckendes wie verstörendes Video im Netz (F.A.Z. vom 31. März), in dem ein Roboter sich nach menschlichen Stößen immer wieder aufrichtet und weiterläuft, als könnte kein Mensch mehr den Vormarsch der KI verhindern.
Der Computerpionier und KI-Kritiker David Gelernter, der maßgeblichen Einfluss auf die Softwareentwicklung ausgeübt hat, warf jüngst in einem Zeitungsartikel einen spekulativen Blick in eine nicht weit entfernte Zukunft, in der KI-Apparate nicht mehr einzelne Aufgaben abarbeiten, sondern sich zu einer flexiblen menschenähnlichen Intelligenz entwickelt haben. Hochintelligente Assistenten mit riesigen Intelligenzquotienten werden Menschen auf Schritt und Tritt verfolgen, weil diese ohne sie nicht leben können. Die Apparate werden daher fortschreitend mit Affekten belegt. Durch den ständigen Kontakt werden zwei Typen von Vernunft verschmolzen werden, die man, so Gelernters zentrale Botschaft, besser auseinanderhalten sollte.
In Gelernters neuem Buch "Gezeiten des Geistes" ist die künstliche Intelligenz nur noch ein Schema, an dem er sich abarbeitet, um in die tieferen Regionen des Geistes zu dringen. Künstliche Intelligenz steht bei Gelernter für die analytisch verengte Vernunft, die unsere Zeit, so der nicht originelle, aber richtige Befund, mehr denn je beherrscht. Gefühle werden für wichtig gehalten, aber Verstand heißt bei den meisten doch logisches Denken. Die dunkle Pointe liegt darin, dass die künstliche Intelligenz den menschlichen Verstand zwar nicht erreicht, dieser ihr aber entgegenkommt - als rationalistisches Denken.
Die Dominanz des Rationalen hat Gelernter schon häufig kritisiert. Neu ist, dass er ihr ein Gegenmodell des Geistes gegenüberstellt, das sogenannte Spektrum. An dessen oberen Ende stehen die analytischen Fähigkeiten - Konzentration, Willensstärke, Logik. Nach unten hin löst es sich auf in ein schweifendes, gefühlsbetontes Denken. Gelernters Sympathie gehört der subjektiven Vernunft: Träumen, Visionen, Mystik, Magie. Auf dieser Skala bewegt sich der Verstand im Tagesverlauf mehrfach von unten nach oben.
Das Buch entfaltet die Nachtseite der Vernunft mit einem reichen Zitatenschatz, scheut aber auch keine Redundanzen. Stil und Konzeption sind schweifend und essayistisch, als wollte Gelernter das von ihm beschriebene Denken in der Form der Darstellung wiederholen. Problematisch ist der scharfe Gegensatz zwischen oberem und unterem Spektrum. Das emotionale Denken hat zwar Synthesequalitäten. Gedanken und Gegenstände sind mit identischen Gefühlen belegt und lassen sich poetisch zu geistigen Landschaften verketten.
Insgesamt ist Gelernters Modell aber vertikal angelegt. Oben ist ein Kontrollbereich, der das Gedächtnis als Speicher benutzt. Die untere Skala wird von unwillkürlichen Stimmungen und Erinnerungen dominiert, die so stark an den Körper gebunden sind, dass an Lenkung kaum zu denken ist. "Deprimiert sind wir ungefähr im selben Sinn, wie eine Petunie lila ist", schreibt Gelernter an einer Stelle. Das gilt aber nur für den untersten Bereich der Skala. Dem Spektrum fehlt der Punkt, an dem Energie und Gefühl zusammenfließen. Wenn die poetische Vernunft nur ein Zerfließen in Erinnerungen und Stimmungen ohne konstruktive Vermögen ist, möchte man die entsprechende Literatur oder Musik dann noch lesen und hören?
Das Verdienst von Gelernters Konzept ist, dass es eine verblassende Linie nachzieht. Eine ideale künstliche Intelligenz, schreibt Gelernter, müsste auch das subjektive Spektrum beherrschen, würde an dieser Aufgabe aber absehbar scheitern. Das Mitgefühl für stolpernde Roboter darf sich in Grenzen halten.
THOMAS THIEL.
David Gelernter: "Gezeiten des Geistes". Die Vermessung unseres Bewusstseins. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
David Gelernter hält nicht allzu viel von künstlicher Intelligenz, aus ziemlich ähnlichen Gründen kritisiert er in seinem neuen Buch "Gezeiten des Geistes" nun ein rationalistisches Bild unseres Denkens, erklärt Thomas Thiel. Es geht Gelernter um "die Nachtseite der Vernunft", so der Rezensent, um jene Art des Denkens, die so radikal körperlich ist, dass sie nicht kontrolliert werden kann - wobei Gelernter Kontrolle als eben jenes Merkmal des Bereiches unseres Denkens versteht, der gemeinhin mit Vernunft und Logik beschrieben wird, fasst Thiel zusammen. Für den Rezensenten leistet Gelernter im Insistieren auf ein umfassenderes Verständnis unseres Verstandes einen willkommenen Beitrag, allerdings findet Thiel Gelernters alternative, vertikale Skala der Kontrolle nicht unbedingt hilfreich, weil sie eine zu scharfe Trennung zwischen kontrollierten und unkontrollierten Bereichen des Denkens einführt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"ein ebenso klug wie rhetorisch geschickt argumentierendes Buch", Süddeutsche Zeitung, 26.02.2016