Universalgelehrte wurden oft vergessen, verkannt, verniedlicht oder als Schwindler verunglimpft. Peter Burke unternimmt eine Ehrenrettung dieser Ausnahmetalente und folgt ihrer Geschichte über 500 Jahre in verschiedenen Ländern bis ins 21. Jahrhundert. Er stellt in vielen Porträts die verbindenden Eigenschaften heraus: ein Übermaß an Neugier, Gedächtnisleistung, Phantasie, Energie, Konzentrationsfähigkeit und nicht selten Ehrgeiz bis hin zur ruhelosen Arbeitssucht. Für Schlaf, Pausen oder gar die Liebe bleibt keine Zeit. Aber dafür ist das Einarbeiten in ein neues Thema in Carlo Ginzburgs Worten wie Skifahren in frischem Schnee. Wandelnde Enzyklopädisten gab es schon in der Antike. Ausnahmeerscheinungen wie Pythagoras wurde nachgesagt, alle Fragen beantworten zu können. Doch erst im 17. Jahrhundert kamen Universalgelehrte in Mode - allen voran der Autodidakt Leonardo da Vinci: Der Musiker, Maschinenbauer, Maler, Bildhauer, Militärexperte, Anatom, Fossiliensammler, Erfinder, Botaniker, Zoologe, Geologe und Kartograph wurde nicht zufällig Namensgeber des »Leonardo- Syndroms«, das für die Unfähigkeit zur Auswahl und Beendigung von Projekten steht. Heute, im Zeitalter der Hyper- Spezialisierung und der grassierenden Oberflächlichkeit, brauchen wir die Universalgelehrten dringender denn je. In diesem ebenso lehrreichen wie amüsanten Buch kann man ihnen nachspüren. Ein Meisterstück Burke'scher Geschichtsschreibung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Monster der Gelehrsamkeit
Igel im Fuchspelz und Füchse mit Hang zum Einigeln: Peter Burke spürt dem Typus des Universalgenies von der Antike bis in die Gegenwart nach.
Von Caspar Hirschi
Bigamie kann den geistigen Horizont weiten. Joseph Needham studierte Anfang der 1920er Jahre Biochemie an der Universität Cambridge, wo er die vier Jahre ältere Kommilitonin Dorothy Moyle heiratete. Beide erwarben sich ein hohes Ansehen in ihrem Fachgebiet und hatten 1948 die Ehre, das erste Ehepaar in der Royal Society zu werden.
Joseph jedoch war zu diesem Zeitpunkt gar kein Biochemiker mehr. Angefangen hatte seine zweite Karriere elf Jahre zuvor, als die chinesische Gaststudentin Lu Gwei-djen in Cambridge aufgetaucht war. Joseph hatte sich in die junge Frau verliebt und deswegen sein angestammtes Fachgebiet, nicht aber seine Ehefrau verlassen. Fortan lebten alle Beteiligten in einer Ménage-à-trois, die zugleich eine lockere Forschungsgemeinschaft war. Joseph zog aus ihr den größten Profit. 1948 erhielt er den Auftrag, ein Buch über Wissenschaft und Zivilisation in China zu schreiben, das auf sieben Bände anwuchs und seinen Ruhm als Kenner der chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichte begründete.
Needham ist einer von vielen Exzentrikern, die Peter Burkes neues Buch über Universalgelehrte bevölkern. Aber war er das überhaupt, ein Universalgelehrter? Der Historiker Burke, der ebenfalls in Cambridge gelehrt und Needham persönlich gekannt hat, verwendet in der englischen Originalausgabe den Begriff "Polymath", was wörtlich heißt: jemand, der viel gelernt hat. Needham wird der Unterkategorie des "Serial Polymath" zugeordnet, die Burke mit seriellen Polygamisten vergleicht, was beim offenen Bigamisten Needham unfreiwillig komisch klingt, aber forschungsbiographisch zutrifft. Bis zum Universalgelehrten aber ist es von da aus noch ein weiter Weg.
Bei Burkes Buch stellt sich also zuerst das Problem des schwer übersetzbaren Hauptbegriffs. Ein "Polymath" kann, aber muss kein Universalgelehrter sein. Im heutigen Sprachgebrauch ist es sogar möglich, dass er gar kein Gelehrter ist. Zu Beginn des Buches erklärt Burke, dass er Helden des Silicon Valley wie Elon Musk oder Larry Page nicht in seine Galerie aufgenommen hat, obwohl diese als Unternehmer ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt haben. Was aber würde es für unsere Gegenwart bedeuten, wenn ein Wort, das jahrhundertelang für Gelehrte reserviert war, nun zur Zierde von Unternehmern wird? Daran ist Burke nicht interessiert. Vielmehr möchte er den Begriff, der seinem angestammten Gegenstand zu entgleiten droht, über die Geschichte wieder einfangen. Dank diesem Vorhaben entfernt sich sein "Polymath" nicht allzu weit vom "Universalgelehrten", weshalb die Übersetzung zwar bei einzelnen Figuren in Schieflage gerät, aber nie kippt.
Dass die semantischen Differenzen zwischen dem Englischen und Deutschen nicht allzu stark ins Gewicht fallen, hat auch damit zu tun, dass Burkes Begriffsarbeit mehr unterhaltende als analytische Qualität hat. Er beschreibt die Exemplare seiner Spezies mit Isaiah Berlins binärer Zoologie von Fuchs (weiß über alles etwas) und Igel (weiß alles über etwas). Gleichwohl gibt es Igel im Fuchspelz (wie Carlo Ginzburg und Michel de Certeau) und Füchse mit Hang zum Einigeln (wie Leonardo da Vinci und Alexander von Humboldt).
Des Weiteren entwirft Burke eine Typologie des vielseitigen Gelehrten mit Hilfe der Gegensatzpaare allgemein/limitiert, zentrifugal/zentripetal, simultan/seriell und aktiv/passiv. Unter "passive polymaths" versteht er Individuen, "die alles wissen und nichts produzieren", was etwas verwirrend ist, weil er zu dieser Gattung Autoren wie Aldous Huxley, Jorge Luis Borges, George Steiner und Susan Sontag zählt, bei denen "nichts" doch mehr ist als das, was die meisten Gelehrten in ihrem Leben zustande bringen. Zumindest verdeutlicht die Typologie, dass Burke beim Begriff "Polymath" nicht nur an "Universalgenies" denkt, mit denen die deutsche Ausgabe um Leser wirbt. Einem vielseitig limitierten Kopf muss nicht zwingend schöpferische Kraft entweichen.
Ähnlich unpräzise fällt Burkes Begriffsarbeit aus, wenn er den Scharlatan und Pedanten, die in der frühen Neuzeit zu Projektionsfiguren ersten Ranges aufstiegen, in Bezug zum Gelehrten setzt. Aus seinen Ausführungen könnte man schließen, beide seien zur Abqualifizierung von gelehrter Vielseitigkeit erfunden worden. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Das Stigma der Scharlatanerie diente vorrangig der Denunziation von vorgetäuschter Spezialkenntnis, jenes der Pedanterie von selbstüberschätzter Fachidiotie. Wenn René Descartes im siebzehnten Jahrhundert Athanasius Kircher zum Scharlatan erklärte, sprach ein vielseitiger Gelehrter dem anderen die Aufrichtigkeit ab, die Vielseitigkeit selbst aber war nicht Gegenstand der Kritik.
Interessant wird Burkes Buch da, wo es Klischees weichklopft. Leonardo da Vinci ist für ihn nicht die Verkörperung des Universalgenies, sondern eine autodidaktische Anomalie, die nur insofern wegweisend war, als sie am "Leonardo-Syndrom" litt - der Verzettelung der geistigen Kräfte für alle möglichen Projekte. Burke verdeutlicht, dass die Renaissance weniger das Ideal des allwissenden Gelehrten als jenes des allseitigen Hofmanns hochhielt. Von diesem wurde erwartet, im Reiten so gut zu sein wie im Reden und in den Waffen so geübt wie in den Wissenschaften.
Als historischen Höhepunkt des "Polymath" weist Burke das siebzehnte Jahrhundert aus, mit "Monstern der Gelehrsamkeit" wie Leibniz und Newton. Deren Vielseitigkeit bringt er mit einer "Krise des Wissens" durch Informationsüberflutung in Verbindung. Sie habe sowohl den Bedarf an Spezialisten der Fokussierung wie der Generalisierung erhöht. Die Annahme, viele Spezialisten seien des Generalisten Tod, trifft für die frühe Neuzeit nicht zu.
Liest man allerdings, welche Namen Burke als Erstes aufruft, wenn es um heutige Meister der Vielseitigkeit geht, kommen Zweifel auf, ob die Figur noch am Leben ist. Man mag von Sloterdijk und Zizek halten, was man will, aber von Leibniz und Newton stammen sie nicht ab. Ähnliches gilt für Burkes Buch. Es wetteifert mit seinen Helden, indem es von Kurzbiographien bis zu Anforderungsprofilen, von der Antike bis in die Gegenwart und von Europa bis nach China springt. Letztlich aber leidet es höchstens an dem, was Burke bei den vielseitig Gescheiterten früherer Jahrhunderte diagnostiziert: Leonardo-Syndrom in Schrumpfform.
Peter Burke: "Giganten der Gelehrsamkeit". Die Geschichte der Universalgenies.
Aus dem Englischen von M. Wolf, Mitarbeit U. Wulfekamp. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 320 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Igel im Fuchspelz und Füchse mit Hang zum Einigeln: Peter Burke spürt dem Typus des Universalgenies von der Antike bis in die Gegenwart nach.
Von Caspar Hirschi
Bigamie kann den geistigen Horizont weiten. Joseph Needham studierte Anfang der 1920er Jahre Biochemie an der Universität Cambridge, wo er die vier Jahre ältere Kommilitonin Dorothy Moyle heiratete. Beide erwarben sich ein hohes Ansehen in ihrem Fachgebiet und hatten 1948 die Ehre, das erste Ehepaar in der Royal Society zu werden.
Joseph jedoch war zu diesem Zeitpunkt gar kein Biochemiker mehr. Angefangen hatte seine zweite Karriere elf Jahre zuvor, als die chinesische Gaststudentin Lu Gwei-djen in Cambridge aufgetaucht war. Joseph hatte sich in die junge Frau verliebt und deswegen sein angestammtes Fachgebiet, nicht aber seine Ehefrau verlassen. Fortan lebten alle Beteiligten in einer Ménage-à-trois, die zugleich eine lockere Forschungsgemeinschaft war. Joseph zog aus ihr den größten Profit. 1948 erhielt er den Auftrag, ein Buch über Wissenschaft und Zivilisation in China zu schreiben, das auf sieben Bände anwuchs und seinen Ruhm als Kenner der chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichte begründete.
Needham ist einer von vielen Exzentrikern, die Peter Burkes neues Buch über Universalgelehrte bevölkern. Aber war er das überhaupt, ein Universalgelehrter? Der Historiker Burke, der ebenfalls in Cambridge gelehrt und Needham persönlich gekannt hat, verwendet in der englischen Originalausgabe den Begriff "Polymath", was wörtlich heißt: jemand, der viel gelernt hat. Needham wird der Unterkategorie des "Serial Polymath" zugeordnet, die Burke mit seriellen Polygamisten vergleicht, was beim offenen Bigamisten Needham unfreiwillig komisch klingt, aber forschungsbiographisch zutrifft. Bis zum Universalgelehrten aber ist es von da aus noch ein weiter Weg.
Bei Burkes Buch stellt sich also zuerst das Problem des schwer übersetzbaren Hauptbegriffs. Ein "Polymath" kann, aber muss kein Universalgelehrter sein. Im heutigen Sprachgebrauch ist es sogar möglich, dass er gar kein Gelehrter ist. Zu Beginn des Buches erklärt Burke, dass er Helden des Silicon Valley wie Elon Musk oder Larry Page nicht in seine Galerie aufgenommen hat, obwohl diese als Unternehmer ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt haben. Was aber würde es für unsere Gegenwart bedeuten, wenn ein Wort, das jahrhundertelang für Gelehrte reserviert war, nun zur Zierde von Unternehmern wird? Daran ist Burke nicht interessiert. Vielmehr möchte er den Begriff, der seinem angestammten Gegenstand zu entgleiten droht, über die Geschichte wieder einfangen. Dank diesem Vorhaben entfernt sich sein "Polymath" nicht allzu weit vom "Universalgelehrten", weshalb die Übersetzung zwar bei einzelnen Figuren in Schieflage gerät, aber nie kippt.
Dass die semantischen Differenzen zwischen dem Englischen und Deutschen nicht allzu stark ins Gewicht fallen, hat auch damit zu tun, dass Burkes Begriffsarbeit mehr unterhaltende als analytische Qualität hat. Er beschreibt die Exemplare seiner Spezies mit Isaiah Berlins binärer Zoologie von Fuchs (weiß über alles etwas) und Igel (weiß alles über etwas). Gleichwohl gibt es Igel im Fuchspelz (wie Carlo Ginzburg und Michel de Certeau) und Füchse mit Hang zum Einigeln (wie Leonardo da Vinci und Alexander von Humboldt).
Des Weiteren entwirft Burke eine Typologie des vielseitigen Gelehrten mit Hilfe der Gegensatzpaare allgemein/limitiert, zentrifugal/zentripetal, simultan/seriell und aktiv/passiv. Unter "passive polymaths" versteht er Individuen, "die alles wissen und nichts produzieren", was etwas verwirrend ist, weil er zu dieser Gattung Autoren wie Aldous Huxley, Jorge Luis Borges, George Steiner und Susan Sontag zählt, bei denen "nichts" doch mehr ist als das, was die meisten Gelehrten in ihrem Leben zustande bringen. Zumindest verdeutlicht die Typologie, dass Burke beim Begriff "Polymath" nicht nur an "Universalgenies" denkt, mit denen die deutsche Ausgabe um Leser wirbt. Einem vielseitig limitierten Kopf muss nicht zwingend schöpferische Kraft entweichen.
Ähnlich unpräzise fällt Burkes Begriffsarbeit aus, wenn er den Scharlatan und Pedanten, die in der frühen Neuzeit zu Projektionsfiguren ersten Ranges aufstiegen, in Bezug zum Gelehrten setzt. Aus seinen Ausführungen könnte man schließen, beide seien zur Abqualifizierung von gelehrter Vielseitigkeit erfunden worden. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Das Stigma der Scharlatanerie diente vorrangig der Denunziation von vorgetäuschter Spezialkenntnis, jenes der Pedanterie von selbstüberschätzter Fachidiotie. Wenn René Descartes im siebzehnten Jahrhundert Athanasius Kircher zum Scharlatan erklärte, sprach ein vielseitiger Gelehrter dem anderen die Aufrichtigkeit ab, die Vielseitigkeit selbst aber war nicht Gegenstand der Kritik.
Interessant wird Burkes Buch da, wo es Klischees weichklopft. Leonardo da Vinci ist für ihn nicht die Verkörperung des Universalgenies, sondern eine autodidaktische Anomalie, die nur insofern wegweisend war, als sie am "Leonardo-Syndrom" litt - der Verzettelung der geistigen Kräfte für alle möglichen Projekte. Burke verdeutlicht, dass die Renaissance weniger das Ideal des allwissenden Gelehrten als jenes des allseitigen Hofmanns hochhielt. Von diesem wurde erwartet, im Reiten so gut zu sein wie im Reden und in den Waffen so geübt wie in den Wissenschaften.
Als historischen Höhepunkt des "Polymath" weist Burke das siebzehnte Jahrhundert aus, mit "Monstern der Gelehrsamkeit" wie Leibniz und Newton. Deren Vielseitigkeit bringt er mit einer "Krise des Wissens" durch Informationsüberflutung in Verbindung. Sie habe sowohl den Bedarf an Spezialisten der Fokussierung wie der Generalisierung erhöht. Die Annahme, viele Spezialisten seien des Generalisten Tod, trifft für die frühe Neuzeit nicht zu.
Liest man allerdings, welche Namen Burke als Erstes aufruft, wenn es um heutige Meister der Vielseitigkeit geht, kommen Zweifel auf, ob die Figur noch am Leben ist. Man mag von Sloterdijk und Zizek halten, was man will, aber von Leibniz und Newton stammen sie nicht ab. Ähnliches gilt für Burkes Buch. Es wetteifert mit seinen Helden, indem es von Kurzbiographien bis zu Anforderungsprofilen, von der Antike bis in die Gegenwart und von Europa bis nach China springt. Letztlich aber leidet es höchstens an dem, was Burke bei den vielseitig Gescheiterten früherer Jahrhunderte diagnostiziert: Leonardo-Syndrom in Schrumpfform.
Peter Burke: "Giganten der Gelehrsamkeit". Die Geschichte der Universalgenies.
Aus dem Englischen von M. Wolf, Mitarbeit U. Wulfekamp. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 320 S., geb., 29,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Eike Gebhardt geht mit dem Buch des Historikers Peter Burke über den Typus des Universalgelehrten auf eine aufregende Abenteuerreise durch die Wissensgeschichte. Wenn der Autor, erkundet, was die "polymaths" ausmachte, welche Bedingungen sie prägten, erfährt Gebhardt Interessantes: Vertreter dieser Spezies wie Leonardo oder Susan Sontag waren weder notwendigerweise Genies noch Gelehrte, wurden jedoch von Neugier und Spieltrieb bewegt. Schade bloß, dass sich der Autor meist im Biografischen verliert, anstatt wissenssoziologische Analyse zu betreiben oder Erkenntnisse der Kreativitätsforschung zu thematisieren, bedauert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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