Ein »Drückeberger« als Held: Ginster ist 25, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ein begabter Frankfurter Architekt. Der patriotischen Begeisterung seiner Zeitgenossen steht er skeptisch gegenüber, und so verwendet er einige Mühe darauf, sich immer wieder vom Kriegsdienst zurückstellen zu lassen - das Vaterland braucht seine Architekten schließlich nicht an der Front, sondern zu Hause, wo etwa Granatfabriken und Ehrenfriedhöfe für die gefallenen Soldaten zu planen sind.
Doch dann ereilt auch Ginster der Gestellungsbefehl. Weit weg von den Schlachtfeldern lernt er, mit militärischer Präzision ein Bett zu bauen, zu schießen und »gegen die Feinde Kartoffeln zu schälen«. Und es festigt sich in ihm die Überzeugung, dass all diese Übungen nicht dem Krieg dienen, sondern der ganze Krieg ein Vorwand für die Übungen ist.
Im Frankfurt des Ersten Weltkriegs spielt dieser Roman, der den literarischen Ruhm seines Autors begründete. Es ist das faszinierende Porträt eines Mannes, dessen Haltung zur Welt und ihren Widersprüchen oft mit Chaplin und Keaton verglichen worden ist.
Doch dann ereilt auch Ginster der Gestellungsbefehl. Weit weg von den Schlachtfeldern lernt er, mit militärischer Präzision ein Bett zu bauen, zu schießen und »gegen die Feinde Kartoffeln zu schälen«. Und es festigt sich in ihm die Überzeugung, dass all diese Übungen nicht dem Krieg dienen, sondern der ganze Krieg ein Vorwand für die Übungen ist.
Im Frankfurt des Ersten Weltkriegs spielt dieser Roman, der den literarischen Ruhm seines Autors begründete. Es ist das faszinierende Porträt eines Mannes, dessen Haltung zur Welt und ihren Widersprüchen oft mit Chaplin und Keaton verglichen worden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2021Dass Sie lachen mussten, bestätigt doch auch meine Kunst
Wie Siegfried Kracauer der Kritik einer Buchhändlerin begegnete, die ihm als Vorbild für eine Romanfigur gedient hatte
Noch in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges zog der damals neunundzwanzigjährige Siegfried Kracauer von Frankfurt nach Osnabrück, wo er eine Stelle als Architekt im dortigen Stadtbauamt erhalten hatte. Insgesamt blieb er drei Jahre in dieser Stadt. In Osnabrück lernte er - dies geht aus einem in Privatbesitz befindlichen bisher unbekannten Brief Kracauers hervor - auch eine Buchhändlerin kennen, die in seinem 1928 im Berliner Verlag S. Fischer publizierten Roman "Ginster" als Buchhändlerin Elfriede wiederkehren sollte. Die Figur der Elfriede trat bisher nicht aus dem Bereich der literarischen Fiktion heraus.
Der Brief Kracauers gibt allerdings Hinweise auf eine reale Person: Ihr Name ist Friedel Hanckel, geborene Wulff (1896 bis 1981), damals eine junge Buchhändlerin in Osnabrück. Als Kracauer seine Stelle im Osnabrücker Stadtbauamt antrat, hatte die damals zweiundzwanzigjährige, aus einer Osnabrücker Familie stammende Frau gerade den gebürtigen Berliner Buchhändler und Kriegsheimkehrer Bruno Hanckel geheiratet. Beide gründeten, nahezu gleichzeitig mit Kracauers Eintreffen, in der Osnabrücker Krahnstraße eine Buchhandlung. Dort muss Kracauer, offenbar noch im ersten Jahr seines Aufenthaltes, die Buchhändlerin kennengelernt haben. Das geht aus einem handschriftlichen Gedicht hervor, mit welchem er ihr ein Exemplar seines in der Zeitschrift "Logos" publizierten Aufsatzes "Über die Freundschaft" widmete. Dieses Gedicht ist auf den 5. Juni 1918 datiert, Kracauer wird also bereits gewusst haben, dass Friedel Hanckel am 6. Juni Geburtstag hatte.
1921 kehrte Kracauer nach Frankfurt zurück. Kurz darauf wurde er leitender Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung", wo er bis zu seiner Emigration arbeitete. Vermutlich hatten Kracauer und Friedel Hanckel, nachdem der Schriftsteller Osnabrück wieder verlassen hatte, bis zum Erscheinen des "Ginster" keine Verbindung mehr - zumindest haben sich weitere Briefe aus dieser Zeit nicht erhalten. Als der Roman dann erschien, wird er schnell in die Hände der Osnabrücker Buchhändlerin gelangt sein. Aus dem eingangs erwähnten, auf den 4. Dezember 1928 datierten, von Kracauer an sie gerichteten Brief geht jedenfalls hervor, dass sie "Ginster" nicht nur kannte, sondern in einem vermutlich verlorenen Schreiben an Kracauer kritische Worte zur literarischen Projektion ihrer Person gefunden hatte. In seiner Antwort äußerte sich der Schriftsteller nun seinerseits zur Figur der Elfriede und bettete dies beschwichtigend in verschiedene Gedanken zum "Ginster" ein.
Einige wenige Stichpunkte zum "Ginster": Kracauer hatte den Roman ohne Nennung seines realen Autorennamens veröffentlicht. Ginster ist der Name des jungen Mannes, der die Hauptperson des Buches ist. Im späteren Verlauf der Handlung trifft er auf die Buchhändlerin Elfriede. Ihre erste Begegnung wird im Roman wie folgt geschildert: "Ginster begab sich... öfters in ein größeres Buchgeschäft, das an der Hauptstraße lag. Die Bücher im Laden wurden von einem Mädchen bedient, dessen Haare sich schneckenförmig über den Ohren wanden; wie Blätterteigstückchen im Frieden. Obwohl der Raum gut erwärmt war, schien Elfriede - so hieß, wie sich später herausstellte, das Mädchen - immer zu frieren, wenigstens hatte sie ein Batisttuch um sich geschlungen, auf dem Gräser zerflossen. Wenn sie, vor den Regalen stehend, die dünne Hülle höher zupfte, hatte Ginster den Eindruck, als zöge sie sich in eine eben erst geschaffene Wiese zurück, um die Sonnenstrahlen auf sich zu lenken."
In späteren Passagen des Romans wird Elfriede als verletzbare und leicht exaltierte junge Frau geschildert, die vom Krieg nichts mehr hören will. Als Ginster die Buchhändlerin öfters zu treffen beginnt und im Frühling längere gemeinsame Spaziergänge folgen, bevorzugt Elfriede Ausflüge in den Wald. Während er bei diesen Gelegenheiten seine Zuneigung zu ihr anzudeuten sucht, wird sie nicht müde, ihren der Botanik unkundigen Begleiter auf die Tannen, Moose und sonstige den Weg säumende Gewächse hinzuweisen, so auch auf den ihm namensgleichen Ginster. Elfriede tut dies in einer solchen Ausschließlichkeit und Begeisterung, dass Ginsters Geduld auf harte Proben gestellt wird. Er fragt sich, wie sie wohl reagieren würde, sollte er ihre Pflanzenbegeisterung mit der ebenso kühnen wie unmöglichen Frage auf sich zu lenken versuchen, ob er sie vielleicht pflücken dürfe.
Friedel Hanckel, das geht aus Kracauers Brief von 1928 hervor, hatte sich in Elfriede wiedererkannt, ihre eigenen Charakterzüge aber in ihr nicht wiedergefunden. Kracauer spricht die Empfängerin in seiner Antwort nicht namentlich an, vielmehr beginnt er das Schreiben mit einem lakonischen "Guten Tag". Seine folgenden Worte machen deutlich, dass Kracauer sie vom Erscheinen des Romans nicht informiert hatte. Wie er schreibt, habe er Angst vor einer ungünstigen Aufnahme des Buches gehabt und es daher dem Zufall überlassen, ob der "Ginster" zu ihr fände. Er äußert Verständnis für ihr anfängliches Unbehagen beim Lesen, hält sich dann aber erleichtert an ihre offenbar auch amüsierte Reaktion: "dass Sie lachen mussten, bestätigt doch auch meine Kunst. (Um ganz davon zu schweigen, dass mich die persönliche Zartheit des Briefs glücklich gemacht hat)."
Kracauer betont, die Elfriede sei eine weitgehend fiktionale Figur, in der er zwar Osnabrücker Erinnerungen benutzt, dann aber eben frei darüber verfügt und manches hinzuphantasiert habe. Dies sei ihm umso mehr zu glauben, als er auch die im Roman verarbeitete Außenwelt verändert sowie andere in der Handlung häufig vorkommende reale Personen wie seine Mutter und Tante - Rosette und Hedwig Kracauer, beide 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet - so sehr verändert habe, dass sie im Roman nur noch mittelbar zu erkennen seien. Auch sich selbst nimmt er nicht aus: "Und ich selbst, der Ginster? Bin ich so? Ja, und mehr noch: Nein. Mein Privatleben mitsamt meinen Erinnerungen läuft unabhängig von dem Roman neben ihm her."
Der Brief schließt mit Bemerkungen über Kritikerreaktionen. Von seinem Freund Joseph Roth abgesehen - Kracauer hatte dem Brief offenbar Roths Rezension beigelegt -, hätten bisher alle Kritiker "Ginster" verrissen. Nichts anderes habe er auch erwartet: "denn sehen Sie, mein Buch richtet sich ja gegen den gesamten gebildeten Mittelstand, der derzeit in Deutschland herrscht."
Nahezu vier Jahrzehnte später, Kracauer lebte längst in New York, kam es noch einmal zur Korrespondenz mit der Buchhändlerin. In einem auf den 1. Juli 1964 datierten Brief, der sonst von ganz anderen Themen handelt, versäumt es Kracauer dennoch nicht, noch einmal um wohlwollendes Verständnis für seine Figur der Elfriede zu werben. In einem auf den 7. April 1965, einem Jahr vor Kracauers Tod, datierten Brief taucht das Thema der Elfriede dann noch ein letztes Mal auf: Friedel Hanckel solle ihm "nicht boeser sein, als es unbedingt notwendig ist".
Die Buchhandlung in Osnabrück wurde 1942 zwar vollkommen ausgebombt, nach dem Krieg aber von Friedel und Bruno Hanckel noch etliche Jahre weitergeführt. Unter anderem Namen besteht sie bis heute. Friedel Hanckel verbrachte die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens in Gauting bei München. Ihre Leidenschaft für Bäume und Pflanzen aller Art hatte sie bewahrt, täglich unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge in den Wald und schloss, wie sie es nannte, "Waldfreundschaften" mit anderen Spaziergängern. Ihre Angewohnheit, Stimmungsbilder, Wünsche und Gedanken handschriftlich auf kleinen Zetteln ohne Anrede zu äußern - auch Elfriede lässt Ginster ähnliche Zettel ins Osnabrücker Stadtbauamt überbringen -, behielt sie bis zuletzt bei.
HANS JAKOB MEIER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Siegfried Kracauer der Kritik einer Buchhändlerin begegnete, die ihm als Vorbild für eine Romanfigur gedient hatte
Noch in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges zog der damals neunundzwanzigjährige Siegfried Kracauer von Frankfurt nach Osnabrück, wo er eine Stelle als Architekt im dortigen Stadtbauamt erhalten hatte. Insgesamt blieb er drei Jahre in dieser Stadt. In Osnabrück lernte er - dies geht aus einem in Privatbesitz befindlichen bisher unbekannten Brief Kracauers hervor - auch eine Buchhändlerin kennen, die in seinem 1928 im Berliner Verlag S. Fischer publizierten Roman "Ginster" als Buchhändlerin Elfriede wiederkehren sollte. Die Figur der Elfriede trat bisher nicht aus dem Bereich der literarischen Fiktion heraus.
Der Brief Kracauers gibt allerdings Hinweise auf eine reale Person: Ihr Name ist Friedel Hanckel, geborene Wulff (1896 bis 1981), damals eine junge Buchhändlerin in Osnabrück. Als Kracauer seine Stelle im Osnabrücker Stadtbauamt antrat, hatte die damals zweiundzwanzigjährige, aus einer Osnabrücker Familie stammende Frau gerade den gebürtigen Berliner Buchhändler und Kriegsheimkehrer Bruno Hanckel geheiratet. Beide gründeten, nahezu gleichzeitig mit Kracauers Eintreffen, in der Osnabrücker Krahnstraße eine Buchhandlung. Dort muss Kracauer, offenbar noch im ersten Jahr seines Aufenthaltes, die Buchhändlerin kennengelernt haben. Das geht aus einem handschriftlichen Gedicht hervor, mit welchem er ihr ein Exemplar seines in der Zeitschrift "Logos" publizierten Aufsatzes "Über die Freundschaft" widmete. Dieses Gedicht ist auf den 5. Juni 1918 datiert, Kracauer wird also bereits gewusst haben, dass Friedel Hanckel am 6. Juni Geburtstag hatte.
1921 kehrte Kracauer nach Frankfurt zurück. Kurz darauf wurde er leitender Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung", wo er bis zu seiner Emigration arbeitete. Vermutlich hatten Kracauer und Friedel Hanckel, nachdem der Schriftsteller Osnabrück wieder verlassen hatte, bis zum Erscheinen des "Ginster" keine Verbindung mehr - zumindest haben sich weitere Briefe aus dieser Zeit nicht erhalten. Als der Roman dann erschien, wird er schnell in die Hände der Osnabrücker Buchhändlerin gelangt sein. Aus dem eingangs erwähnten, auf den 4. Dezember 1928 datierten, von Kracauer an sie gerichteten Brief geht jedenfalls hervor, dass sie "Ginster" nicht nur kannte, sondern in einem vermutlich verlorenen Schreiben an Kracauer kritische Worte zur literarischen Projektion ihrer Person gefunden hatte. In seiner Antwort äußerte sich der Schriftsteller nun seinerseits zur Figur der Elfriede und bettete dies beschwichtigend in verschiedene Gedanken zum "Ginster" ein.
Einige wenige Stichpunkte zum "Ginster": Kracauer hatte den Roman ohne Nennung seines realen Autorennamens veröffentlicht. Ginster ist der Name des jungen Mannes, der die Hauptperson des Buches ist. Im späteren Verlauf der Handlung trifft er auf die Buchhändlerin Elfriede. Ihre erste Begegnung wird im Roman wie folgt geschildert: "Ginster begab sich... öfters in ein größeres Buchgeschäft, das an der Hauptstraße lag. Die Bücher im Laden wurden von einem Mädchen bedient, dessen Haare sich schneckenförmig über den Ohren wanden; wie Blätterteigstückchen im Frieden. Obwohl der Raum gut erwärmt war, schien Elfriede - so hieß, wie sich später herausstellte, das Mädchen - immer zu frieren, wenigstens hatte sie ein Batisttuch um sich geschlungen, auf dem Gräser zerflossen. Wenn sie, vor den Regalen stehend, die dünne Hülle höher zupfte, hatte Ginster den Eindruck, als zöge sie sich in eine eben erst geschaffene Wiese zurück, um die Sonnenstrahlen auf sich zu lenken."
In späteren Passagen des Romans wird Elfriede als verletzbare und leicht exaltierte junge Frau geschildert, die vom Krieg nichts mehr hören will. Als Ginster die Buchhändlerin öfters zu treffen beginnt und im Frühling längere gemeinsame Spaziergänge folgen, bevorzugt Elfriede Ausflüge in den Wald. Während er bei diesen Gelegenheiten seine Zuneigung zu ihr anzudeuten sucht, wird sie nicht müde, ihren der Botanik unkundigen Begleiter auf die Tannen, Moose und sonstige den Weg säumende Gewächse hinzuweisen, so auch auf den ihm namensgleichen Ginster. Elfriede tut dies in einer solchen Ausschließlichkeit und Begeisterung, dass Ginsters Geduld auf harte Proben gestellt wird. Er fragt sich, wie sie wohl reagieren würde, sollte er ihre Pflanzenbegeisterung mit der ebenso kühnen wie unmöglichen Frage auf sich zu lenken versuchen, ob er sie vielleicht pflücken dürfe.
Friedel Hanckel, das geht aus Kracauers Brief von 1928 hervor, hatte sich in Elfriede wiedererkannt, ihre eigenen Charakterzüge aber in ihr nicht wiedergefunden. Kracauer spricht die Empfängerin in seiner Antwort nicht namentlich an, vielmehr beginnt er das Schreiben mit einem lakonischen "Guten Tag". Seine folgenden Worte machen deutlich, dass Kracauer sie vom Erscheinen des Romans nicht informiert hatte. Wie er schreibt, habe er Angst vor einer ungünstigen Aufnahme des Buches gehabt und es daher dem Zufall überlassen, ob der "Ginster" zu ihr fände. Er äußert Verständnis für ihr anfängliches Unbehagen beim Lesen, hält sich dann aber erleichtert an ihre offenbar auch amüsierte Reaktion: "dass Sie lachen mussten, bestätigt doch auch meine Kunst. (Um ganz davon zu schweigen, dass mich die persönliche Zartheit des Briefs glücklich gemacht hat)."
Kracauer betont, die Elfriede sei eine weitgehend fiktionale Figur, in der er zwar Osnabrücker Erinnerungen benutzt, dann aber eben frei darüber verfügt und manches hinzuphantasiert habe. Dies sei ihm umso mehr zu glauben, als er auch die im Roman verarbeitete Außenwelt verändert sowie andere in der Handlung häufig vorkommende reale Personen wie seine Mutter und Tante - Rosette und Hedwig Kracauer, beide 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet - so sehr verändert habe, dass sie im Roman nur noch mittelbar zu erkennen seien. Auch sich selbst nimmt er nicht aus: "Und ich selbst, der Ginster? Bin ich so? Ja, und mehr noch: Nein. Mein Privatleben mitsamt meinen Erinnerungen läuft unabhängig von dem Roman neben ihm her."
Der Brief schließt mit Bemerkungen über Kritikerreaktionen. Von seinem Freund Joseph Roth abgesehen - Kracauer hatte dem Brief offenbar Roths Rezension beigelegt -, hätten bisher alle Kritiker "Ginster" verrissen. Nichts anderes habe er auch erwartet: "denn sehen Sie, mein Buch richtet sich ja gegen den gesamten gebildeten Mittelstand, der derzeit in Deutschland herrscht."
Nahezu vier Jahrzehnte später, Kracauer lebte längst in New York, kam es noch einmal zur Korrespondenz mit der Buchhändlerin. In einem auf den 1. Juli 1964 datierten Brief, der sonst von ganz anderen Themen handelt, versäumt es Kracauer dennoch nicht, noch einmal um wohlwollendes Verständnis für seine Figur der Elfriede zu werben. In einem auf den 7. April 1965, einem Jahr vor Kracauers Tod, datierten Brief taucht das Thema der Elfriede dann noch ein letztes Mal auf: Friedel Hanckel solle ihm "nicht boeser sein, als es unbedingt notwendig ist".
Die Buchhandlung in Osnabrück wurde 1942 zwar vollkommen ausgebombt, nach dem Krieg aber von Friedel und Bruno Hanckel noch etliche Jahre weitergeführt. Unter anderem Namen besteht sie bis heute. Friedel Hanckel verbrachte die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens in Gauting bei München. Ihre Leidenschaft für Bäume und Pflanzen aller Art hatte sie bewahrt, täglich unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge in den Wald und schloss, wie sie es nannte, "Waldfreundschaften" mit anderen Spaziergängern. Ihre Angewohnheit, Stimmungsbilder, Wünsche und Gedanken handschriftlich auf kleinen Zetteln ohne Anrede zu äußern - auch Elfriede lässt Ginster ähnliche Zettel ins Osnabrücker Stadtbauamt überbringen -, behielt sie bis zuletzt bei.
HANS JAKOB MEIER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Allein das Wagnis, Siegfried Kracauers Roman "Ginster" vorzulesen, verdient Respekt, meint Rezensent Christian Deutschmann. Denn schon mit der Lektüre hatte der Rezensent einige Probleme: Der Romanheld, ein gänzlich "ichloser" junger Mann namens "Ginster", dessen Beobachtungen während des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges der Kritiker folgt, erscheint so wenig "fesselnd", dass Deutschmann ihn kaum zu fassen bekommt: Mal vor Entzückung weinend beim Anblick von Märschen und Paraden, dann wieder tricksend, um sich der Einberufung zu entziehen, reist er - auch in der Liebe orientierungslos - quer durch Deutschland und notiert seine stets verwunderten, aber doch empfindungslosen Beobachtungen zum Alltags- und Gesellschaftsleben jenseits der Front. Auch wenn der Rezensent dem Roman großes Sprachvermögen, Bildgewalt und Sarkasmus attestiert, erscheint er ihm nicht ganz "ermüdungsfrei" zu lesen. Umso verdienstvoller findet er die Lesung des Schauspielers Michael Rotschopf, dessen "gepflegte Diktion" durch die schwierigsten Passagen führt. Allerdings hätte der Kritiker sich durchaus weniger Elegie, dafür mehr Sarkasmus während des Vortrags gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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