Giottos Figuren und ihre Bedeutungsproduktion werden von Effekten der ästhetischen Paradoxie und einer spezifischen Künstlichkeitsmarkierung bestimmt.Die Entfaltung eines neuen Wirklichkeitssinns kraft empirischer Naturnachahmung, die sich mit dem künstlerischen Werk von Giotto verknüpft, gilt seit je als Signum einer epochalen Wende in der europäischen Kunstentwicklung. Im Kern jedoch entfaltet seine Kunst bei aller anschaulichen Konkretion den Effekt einer ästhetischen Paradoxie. Stehen Giottos Figuren wie leibhaftig vor Augen, so verkörpern sie doch ethische und religiöse Konzepte und damit abstrakt bestimmte Wertbegriffe. Durch ein Wechselspiel von Mimesis und Illusion, von Figur und Defiguration, von Anschauung und Begriff betreiben sie Sinnproduktion im Spannungsfeld von Auslegungsbedürftigkeit und Mehrdeutigkeit. Ungeachtet der Prämissen der mimetischen Repräsentation behaupten sie ihre symbolische Evidenz konsistent im Horizont einer spezifischen Künstlichkeitsmarkierung.Wie sich nicht zuletzt im Licht aktueller Poetologien der Figuraldeutung und ihrer Frage nach dem »Kunstwerk als figura« (Auerbach) zeigt, verdichtet sich in Giottos Figuren die komplexe Vorstellung von einer verheißenden Gestalthaftigkeit, einer sinnlich-bildlichen Gestaltwerdung als Präsenzerfüllung eines anderweitig Abwesenden.