Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer
  • Seitenzahl: 227
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 370g
  • ISBN-13: 9783378006188
  • ISBN-10: 3378006188
  • Artikelnr.: 24563829
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2000

Mit Dachschaden
Kerstin Hensel lüpft den Gipshut · Von Kristina Maidt-Zinke

Theodor Fontane wusste um die Untiefen und Unterströmungen, die Wirbel und Strudel der märkischen Seen, um ihre geheimnisvolle Launenhaftigkeit, die er im "Stechlin" zu den fernsten vulkanischen Erdbewegungen und damit metaphorisch zum großen Weltgeschehen in Beziehung setzte. Hundert Jahre später lässt Kerstin Hensel, eine der einfallsreichsten Autorinnen der jüngeren Generation Ost, ein deutsch-deutsches Geologenpaar in der Mark Brandenburg nach den Resten eines versunkenen Vulkans suchen und statt dessen riesige Gipsvorkommen finden. Parallel zu dem kuriosen Expeditionsbericht erzählt sie die Geschichte von Hans Kielkropf, der um die Jahrhundertmitte in jenem See, auf den sich die Erkundungen der Erdforscher konzentrieren, als Unterwassergeburt das durch Schwebstoffe gefilterte Licht der Welt erblickte und eine beispielhafte DDR-Biografie absolviert, bis die gipsernen Fundamente des Staatswesens bröckeln und die Mauer fällt. Bei der Zusammenführung der beiden Handlungsstränge in einer leicht angeschrägten Gegenwart erweist sich, dass das Zentrum der sozialistischen Republik über einem Krater lag, dass aber die neue Zeit mindestens so viel Explosivstoff birgt wie die alte.

Kerstin Hensel versteht es, den Leser umstandslos in ihren Erzählfluss hineinzuziehen und ihn bei Laune zu halten wie einen entspannten Schwimmer. Was sich einprägt, ist die schläfrige Nachkriegs-Sommerstimmung der Eingangsszene, in der die sechzehnjährige Hilfsarbeiterin Veronika Dankschön durch Wald und Heide zum Siethener See radelt, vorbei an bemoosten Bombentrichtern, um beim Bade Linderung von unerklärlichen Bauchkrämpfen zu suchen. Die subaquatische Entbindung, von der die Ahnungslose überrascht wird wie von einem Augustgewitter, und die verschwommene Erinnerung an den Zeugungsvorgang während einer Gabelstaplerfahrt im Konsum-Baustofflager werden in einem einzigen, filmreifen Bild zusammengefasst, das wiederum auf geologische Enthüllungen vorausweist: Im entscheidenden Moment rammt das Gefährt einen Haufen Säcke und setzt Gipswolken frei.

Hans Kielkropf, das unerwartet aufgetauchte Sonntagskind, wird auf seinem Lebensgang immer wieder mit Gips in Berührung kommen, zuweilen auch mit DDR-Erzeugnissen, die in Konsistenz oder Geschmack an Gips erinnern. Vom Führer einer Jugendbande im Dorf Nudow avanciert der Frühleser zum FDJ-Gruppenleiter, zum Beststudenten im Fach Journalistik und zum Redakteur bei der Betriebszeitung der Märkischen Konsumgenossenschaft. Als der Sozialismus kollabiert, weilt der Genosse Kielkropf auszeichnungshalber im Sowjetreich und ahnt noch nicht, wie er seine Laufbahn beschließen wird: als letzter Aufseher im leer stehenden Palast der Republik, als krebskrankes Opfer eines sinnlosen Asbest-Sanierungsplans und als Hilfskraft im wieder aufgebauten Berliner Stadtschloss, wo er - wer hätte es gedacht - zunächst in der Gipsformerei den Gabelstapler fährt und dann, nach unerlaubten künstlerischen Versuchen mit der Abgussmasse, als Wächter der technischen Anlagen seine in mehrfacher Hinsicht finale Aufgabe findet.

Nach Berlin hat es zur selben Zeit auch das Geologenteam verschlagen, das Kerstin Hensel, als sei Kielkropfs Karriere nicht schon skurril genug, durch allerlei absonderliche Abenteuer schickt. Paul Norg, ein übergroßer Potsdamer, und seine aus Garmisch entsandte Kollegin Anna Fricke, die bemüht ist, ihre sächsische Herkunft zu verheimlichen, werden von Waldund Wassergeistern in die Irre geführt, von sprechenden Steinen genarrt, von einer märkischen Sagengestalt grausam geprüft und von ihren Erinnerungen überwältigt, bevor sie den "Gipshut" im Siethener See und ihre wechselseitige Sympathie entdecken. Paul muss, wie im Märchen, unter Anleitung der gestrengen "Mittagsfrau" ein Flachsfeld bestellen, spinnen und weben; Anna beichtet der Sichelbewehrten ihre schicksalhafte Affäre mit dem bayerischen Geologen Dr. Hörnle, der nicht nur auf den Vornamen "Polti" hört, sondern auch genauso aussieht wie ein bekannter Kabarettist.

Vier ostdeutsche Lebensläufe, zählt man die rührende, traurig endende Geschichte der Dorfnaiven Veronika Dankschön dazu, hat Kerstin Hensel in dem schmalen Roman untergebracht, außerdem ein kleines, mit liebevoller Ironie zusammengestelltes Archiv des DDR-Alltags und eine Satire auf den Größenwahn der neuen Metropole, die unter Aufbietung aller Kräfte und Stilllegung aller übrigen Baustellen die "gigantischste Kopie aller Zeiten" in Angriff nimmt. Das rekonstruierte Stadtschloss, die letzte Wirkungsstätte des inzwischen als "Dachschaden-Hansi" abgestempelten Kielkropf, bietet auch dem Geologenpaar ein neues Betätigungsfeld. Aus dem Forschungsdienst gefeuert, nachdem sie im Palast der Republik auf das lang gesuchte Zentrum vulkanischer Aktivität gestoßen sind, lassen Anna Fricke und Paul Norg sich umschulen auf "Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation" und übernehmen die Presseabteilung der Schloss-Attrappe: Ihr Blick gilt fortan nicht mehr den "Wurmtiefen der Zeit", sondern den Verheißungen einer fälschungsfreudigen Zukunft.

Am Ende bleibt kein Stein auf dem anderen. Das unterirdische Rollen und Grollen aus dem Krater, das die Romanhandlung diskret begleitet hat, entlädt sich in einem "hellen, bengalischen Schein, der allmählich eine feurige Kuppel bildet, einen anschwellenden Pilzkopf in närrischer Schönheit rot gelb grün, der aufsteigt in den Himmel der Hauptstadt", und gipserne "Widderköpfe Adler Genien Putten Säulen Portale" werden aus unbekannten Tiefen emporgeschleudert. Fürwahr, hätte Fontane gesagt, eine "vornehme Verwandtschaft".

Kerstin Hensel: "Gipshut". Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999. 227 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr