Jeden Morgen pendelt Rachel mit dem Zug in die Stadt, und jeden Morgen hält der Zug an der gleichen Stelle auf der Strecke an. Rachel blickt in die Gärten der umliegenden Häuser, beobachtet ihre Bewohner. Oft sieht sie ein junges Paar: Jess und Jason nennt Rachel die beiden. Sie führen - wie es scheint - ein perfektes Leben. Ein Leben, wie Rachel es sich wünscht.
Eines Tages beobachtet sie etwas Schockierendes. Kurz darauf liest sie in der Zeitung vom Verschwinden einer Frau - daneben ein Foto von "Jess". Rachel meldet ihre Beobachtung der Polizei und verstrickt sich damit unentrinnbar in die folgenden Ereignisse ...
Eines Tages beobachtet sie etwas Schockierendes. Kurz darauf liest sie in der Zeitung vom Verschwinden einer Frau - daneben ein Foto von "Jess". Rachel meldet ihre Beobachtung der Polizei und verstrickt sich damit unentrinnbar in die folgenden Ereignisse ...
buecher-magazin.de"Thank God It's Friday. Endlich Zeit für die Freuden des Lebens." Übersetzt heißt das vier Dosen Gin Tonic im Pendlerzug ab London. Dann ein so ödes Wochenende, dass der Montagmorgen im Zug zur Rettung wird. Wie sich herausstellt, hat Protagonistin Rachel den Job in der City jedoch längst verloren. Das Ritual der Fahrten gibt ihr das Gerüst zum Festklammern. Noch. Um ihre Verluste zu ertragen, belästigt Rachel ihren Ex und dessen neue Frau. Deren Leben in Rachels ehemaligem Haus kann sie aus dem Zugfenster zweimal täglich beobachten. Außerdem observiert die übergewichtige Trinkerin jenes unbekannte, aber sicher total glückliche Pärchen, das sie Jess und Jason nennt. Dazu gibt's jeweils Weißweinfläschchen. Doch die schöne "Jess", eigentlich Megan, führt ein Doppelleben. Als Rachel bald darauf mit Kotzen, Blutergüssen und bruchstückhaften Erinnerungen an etwas wirklich Schlimmes aufwacht, verliert sie den Halt. Und wir Leser die Gewissheit, dass wir es mit einer verlässlichen Erzählerin zu tun hatten. Was ist passiert? Wem? Rachel verrät es nicht. Dafür tritt Megan nun als alternierende Erzählerin auf. Was zunächst wirkt wie ein Hybrid aus Hitchcocks "Fremde im Zug" und seinem Thriller "Fenster zum Hof" gerät zum Taumel um einsame Abgründe, in immer engeren Kreisen.
© BÜCHERmagazin, Jutta Vahrson (jv)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2015Sehen und Gesehenwerden
Das Fenster zum Gleis: Paula Hawkins trifft mit "Girl On The Train" ins Schwarze
In den Vereinigten Staaten nennen Verlagsleute und Buchhändler diesen Roman einfach nur noch "GOTT": "Girl On The Train" von Paula Hawkins. Auf eine Auflage von drei Millionen im englischsprachigen Raum hat es das Buch innerhalb weniger Monate bereits gebracht - das größte Ding auf dem Krimimarkt seit "Gone Girl". Außer dem Mädchen im Titel verbindet die beiden Romane indes höchstens die Unzuverlässigkeit der Erzählerin - von der es in "Girl On The Train" strenggenommen gleich drei gibt.
Der Roman spielt mit einem Gefühl, das in Zeiten multimedialer Ausspähung jeder kennt: der mulmigen Ahnung, noch bei beiläufigsten Handlungen beobachtet zu werden - und dem Bewusstsein, dass das Wissen über die Privatissimi von Menschen zum Machtfaktor geworden ist. Im Grunde ist es eine moderne Version von Hitchcocks Suspenseklassiker "Zimmer zum Hof", die Paula Hawkins erzählt. Doch bei ihr ist die obsessive Beobachterin eine junge Frau, und statt durch ein Gipsbein ist sie gehandicapt durch ein Alkoholproblem, das an der Klarheit ihres Blicks manche Zweifel aufkommen lässt, nicht zuletzt bei ihr selbst.
Tag für Tag sitzt die dreißigjährige Rachel im Zug, morgens nach London rein, abends wieder raus, eine von Millionen Pendlern. Niemand achtet auf die Frau in zu eng gewordener Kleidung und mit aufgedunsenen Gesichtszügen, die beim verschämten Leeren jedes ihrer kleinen Weißweinfläschchen schon an das nächste denkt, und die eine Aura der Verzweiflung umgibt, die ihr selbst nur zu bewusst ist: "Ich bin nicht mehr das Mädchen, das ich früher war. Ich bin irgendwie abstoßend." Früher, da war sie hübsch und schlank, da war sie mit Tom verheiratet und lebte in einer der schnuckeligen viktorianischen Doppelhaushälften mit Blick auf die Bahngleise. Jetzt fährt sie täglich auf ihrem Weg von und nach Ashbury an ihrem alten Zuhause vorbei, und wenn das Signal den Zug just auf diesem Streckenabschnitt mal wieder zum Warten zwingt, starrt Rachel hinüber zu ihrer alten Straße, auf ihr früheres Heim.
Wie ein Kind sein Puppenheim hat sie in ihrer Phantasie eines der Reihenhäuser - Nummer 15, sie selbst wohnte früher in der 23 - mit einem perfekten Paar besetzt, das sie für sich Jason und Jess getauft hat: "Sie sind das, was ich früher war. Sie sind Tom und ich vor fünf Jahren. Sie sind, was ich verloren habe." Dieser Projektion gibt sie sich hin, bis sie eines Tages aus dem Zugfenster sieht, dass die Frau, die sie Jess nennt, im Garten einen Mann küsst, der definitiv nicht Jason ist.
Einige Tage später ist die Frau, die der Leser da bereits als Megan und Ko-Erzählerin kennengelernt hat, verschwunden, und Rachel ahnt, dass sie dazu etwas zu sagen haben könnte - gäbe es da nicht diese Erinnerungslücken an ein weiteres Ereignis, die sie partout nicht schließen kann. Die dritte Perspektive ist die von Anna, jener Frau, mit der Tom Rachel einst betrogen hat und die inzwischen mit ihm im Haus an den Gleisen lebt; das Paar hat eine kleine Tochter. Natürlich kennt man sich. Megan war einmal Babysitterin bei Tom und Anna. Und Rachel nervt mit ihren ständigen trunkenen Anrufen und SMS nicht nur ihren Ex, sondern erst recht dessen neue Frau.
In Tagebuchmanier - der Roman spielt zwischen Anfang Juli und Mitte September 2013 - verzahnt Hawkins die drei unterschiedlichen Perspektiven, so dass sie sich ergänzen und gelegentlich sogar überlappen und Sehen und Gesehenwerden ständig ineinander übergehen, aber an der entscheidenden Stelle ein blinder Fleck bleibt. Das von außen so beschaulich und aufgeräumt wirkende Leben junger Paare und Familien ist nur Fassade. Dahinter toben Eifersucht, Affären, Lügen und eine erdrückende Leere.
Paula Hawkins hat fünfzehn Jahre als Journalistin gearbeitet und mehrere Liebesromane unter Pseudonym veröffentlicht, bevor sie mit "Girl On The Train" einen letzten beherzten Versuch unternehmen wollte, sich als Schriftstellerin über Wasser zu halten. Hier webt sie nun ein dichtes Netz aus Beziehungen, Verdächtigungen und Zusammenhängen, in dem Rachel sich immer mehr verheddert. Eindrucksvoll gelingt Hawkins das Porträt einer Alkoholikerin wider Willen und besseres Wissen, das ein Schlaglicht auf die weitverbreitete englische "booze culture" wirft und der längst modisch gewordenen Erscheinung der unzuverlässigen Erzählerin eine neue Facette hinzufügt.
Spannung entsteht denn auch weniger durch die Komplexität des Verbrechens oder verblüffende Volten als vielmehr durch die Unvereinbarkeit von Rachels Selbstwahrnehmung als einer Frau, der ein großes Unrecht widerfahren ist, von dem sie Erlösung sucht, und dem Blick ihrer Umgebung, der sie als Stalkerin erscheint. Racheengel oder Retterin? Der Charme von "GOTT" liegt in dieser Ambivalenz.
FELICITAS VON LOVENBERG
Paula Hawkins: "Girl On The Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich". Roman.
Aus dem Englischen von Christoph Göhler. Blanvalet Verlag, München 2015. 446 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Fenster zum Gleis: Paula Hawkins trifft mit "Girl On The Train" ins Schwarze
In den Vereinigten Staaten nennen Verlagsleute und Buchhändler diesen Roman einfach nur noch "GOTT": "Girl On The Train" von Paula Hawkins. Auf eine Auflage von drei Millionen im englischsprachigen Raum hat es das Buch innerhalb weniger Monate bereits gebracht - das größte Ding auf dem Krimimarkt seit "Gone Girl". Außer dem Mädchen im Titel verbindet die beiden Romane indes höchstens die Unzuverlässigkeit der Erzählerin - von der es in "Girl On The Train" strenggenommen gleich drei gibt.
Der Roman spielt mit einem Gefühl, das in Zeiten multimedialer Ausspähung jeder kennt: der mulmigen Ahnung, noch bei beiläufigsten Handlungen beobachtet zu werden - und dem Bewusstsein, dass das Wissen über die Privatissimi von Menschen zum Machtfaktor geworden ist. Im Grunde ist es eine moderne Version von Hitchcocks Suspenseklassiker "Zimmer zum Hof", die Paula Hawkins erzählt. Doch bei ihr ist die obsessive Beobachterin eine junge Frau, und statt durch ein Gipsbein ist sie gehandicapt durch ein Alkoholproblem, das an der Klarheit ihres Blicks manche Zweifel aufkommen lässt, nicht zuletzt bei ihr selbst.
Tag für Tag sitzt die dreißigjährige Rachel im Zug, morgens nach London rein, abends wieder raus, eine von Millionen Pendlern. Niemand achtet auf die Frau in zu eng gewordener Kleidung und mit aufgedunsenen Gesichtszügen, die beim verschämten Leeren jedes ihrer kleinen Weißweinfläschchen schon an das nächste denkt, und die eine Aura der Verzweiflung umgibt, die ihr selbst nur zu bewusst ist: "Ich bin nicht mehr das Mädchen, das ich früher war. Ich bin irgendwie abstoßend." Früher, da war sie hübsch und schlank, da war sie mit Tom verheiratet und lebte in einer der schnuckeligen viktorianischen Doppelhaushälften mit Blick auf die Bahngleise. Jetzt fährt sie täglich auf ihrem Weg von und nach Ashbury an ihrem alten Zuhause vorbei, und wenn das Signal den Zug just auf diesem Streckenabschnitt mal wieder zum Warten zwingt, starrt Rachel hinüber zu ihrer alten Straße, auf ihr früheres Heim.
Wie ein Kind sein Puppenheim hat sie in ihrer Phantasie eines der Reihenhäuser - Nummer 15, sie selbst wohnte früher in der 23 - mit einem perfekten Paar besetzt, das sie für sich Jason und Jess getauft hat: "Sie sind das, was ich früher war. Sie sind Tom und ich vor fünf Jahren. Sie sind, was ich verloren habe." Dieser Projektion gibt sie sich hin, bis sie eines Tages aus dem Zugfenster sieht, dass die Frau, die sie Jess nennt, im Garten einen Mann küsst, der definitiv nicht Jason ist.
Einige Tage später ist die Frau, die der Leser da bereits als Megan und Ko-Erzählerin kennengelernt hat, verschwunden, und Rachel ahnt, dass sie dazu etwas zu sagen haben könnte - gäbe es da nicht diese Erinnerungslücken an ein weiteres Ereignis, die sie partout nicht schließen kann. Die dritte Perspektive ist die von Anna, jener Frau, mit der Tom Rachel einst betrogen hat und die inzwischen mit ihm im Haus an den Gleisen lebt; das Paar hat eine kleine Tochter. Natürlich kennt man sich. Megan war einmal Babysitterin bei Tom und Anna. Und Rachel nervt mit ihren ständigen trunkenen Anrufen und SMS nicht nur ihren Ex, sondern erst recht dessen neue Frau.
In Tagebuchmanier - der Roman spielt zwischen Anfang Juli und Mitte September 2013 - verzahnt Hawkins die drei unterschiedlichen Perspektiven, so dass sie sich ergänzen und gelegentlich sogar überlappen und Sehen und Gesehenwerden ständig ineinander übergehen, aber an der entscheidenden Stelle ein blinder Fleck bleibt. Das von außen so beschaulich und aufgeräumt wirkende Leben junger Paare und Familien ist nur Fassade. Dahinter toben Eifersucht, Affären, Lügen und eine erdrückende Leere.
Paula Hawkins hat fünfzehn Jahre als Journalistin gearbeitet und mehrere Liebesromane unter Pseudonym veröffentlicht, bevor sie mit "Girl On The Train" einen letzten beherzten Versuch unternehmen wollte, sich als Schriftstellerin über Wasser zu halten. Hier webt sie nun ein dichtes Netz aus Beziehungen, Verdächtigungen und Zusammenhängen, in dem Rachel sich immer mehr verheddert. Eindrucksvoll gelingt Hawkins das Porträt einer Alkoholikerin wider Willen und besseres Wissen, das ein Schlaglicht auf die weitverbreitete englische "booze culture" wirft und der längst modisch gewordenen Erscheinung der unzuverlässigen Erzählerin eine neue Facette hinzufügt.
Spannung entsteht denn auch weniger durch die Komplexität des Verbrechens oder verblüffende Volten als vielmehr durch die Unvereinbarkeit von Rachels Selbstwahrnehmung als einer Frau, der ein großes Unrecht widerfahren ist, von dem sie Erlösung sucht, und dem Blick ihrer Umgebung, der sie als Stalkerin erscheint. Racheengel oder Retterin? Der Charme von "GOTT" liegt in dieser Ambivalenz.
FELICITAS VON LOVENBERG
Paula Hawkins: "Girl On The Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich". Roman.
Aus dem Englischen von Christoph Göhler. Blanvalet Verlag, München 2015. 446 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Thriller des Jahres [...]. Kantig, doppelbödig, spannend." myself