Vor 100 Jahren wurde sie in Berlin-Schöneberg geboren:Gisela Sophia Freund, die Tochter eines jüdischen Kaufmanns und Kunstsammlers und spätere Porträtfotografin und Fotojournalistin Gisèle Freund. Mit 16 verließ sie die großbürgerliche Umgebung, machte Abitur auf einer Schule für Arbeiterkinder, studierte am Institut für Sozialforschung in Frankfurt, begann ihre Dissertation über die Geschichte der Fotografie im Frankreich des 19. Jahrhunderts und floh Ende Mai 1933 im Nachtzug nach Paris im Gepäck ihre Leica, ein Geschenk des Vaters an die rebellische Tochter.Die Kamera war es, die fortan Gisèle Freunds Leben be stimm te. Mit ihren sensiblen Porträtaufnahmen von André Malraux, James Joyce, Virginia Woolf u. a. und ihren einzig artigen Fotoreportagen blieb sie hierzulande lange ein Geheimtip, bis sie in den 1970er Jahren plötzlich en vogue war.Die in Paris lebende Journalistin Bettina de Cosnac hat aus Anlaß des 100. Geburtstags von Gisèle Freund in Archiven recherchiert, mit Zeitgenossen gesprochen und unveröffentlichte Briefe und Privatfotos entdeckt. Entstanden ist das lebendige Porträt einer mutigen, manchmal querköpfigen Frau und Pionierin der Fotografie.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese zum hundertsten Geburtstag von Gisele Freund erscheinende Biografie, findet die Rezensentin, hätte die so witzig wie weise ihr eigenes Leben schildernde Fotografin besser selber schreiben sollen. Zwar erscheint Sandra Kegel das Buch mit seinem bisher unveröffentlichten Bild- und Textmaterial spannend und detailliert genug. Die von Bettina de Cosnac bevorzugte kleinteilige Kapitelordnung jedoch und ihre handwerklichen Fehler, sprachliche Redundanzen namentlich, empfand Kegel beim Lesen zuweilen als störend.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2008Wenn vor Erschöpfung alle Masken fallen
Die Fotografin Gisèle Freund hat unser Bild des zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend geprägt. Eine Biographie und die Neuausgabe ihrer "Photographien & Erinnerungen" erzählen die spannende Geschichte hinter den Bildern.
Gisèle Freund wurde unter den "Kreidefelsen von Rügen" geboren. Zwar hieß das Gemälde, das heute im Museum in Winterthur hängt, damals - in der großbürgerlichen Berliner Wohnung der jüdischen Kaufmannsfamilie Freund - noch nicht so und war auch noch nicht als Werk Caspar David Friedrichs erkannt worden. Gleichwohl war es ein symbolischer Start ins Leben, wie Bettina de Cosnac in ihrer Biographie über Gisèle Freund notiert: Denn die in Öl gebannte Unendlichkeit des Ozeans spielte im Leben der heute vor hundert Jahren geborenen Fotografin, die im März 2000 in Paris starb, eine ebenso große Rolle wie der Abgrund, der sich im Bild dramatisch auftut. Fortwährend erkundete Gisèle Freund unbekannte Horizonte, mehrfach stand sie vor dem Nichts.
Dass "Kreidefelsen von Rügen", von den Eltern während der Weltwirtschaftskrise verkauft, zeitlebens ein Lieblingsbild von ihr blieb, ist kaum zufällig. Zumal es für sie eine Verbindung zu ihrem Vater darstellt, dem leidenschaftlichen Kunstsammler Julius Freund. Durch die Liebe zu ihm entdeckte Gisèle die Liebe zur Kunst. Anders als ihre Mutter, zu der die Tochter bis zuletzt ein distanziertes Verhältnis hatte, vergötterte das Mädchen Gisela, die ihren Vornamen erst später in Paris französisierte, den Vater, und er war es auch, der seiner "Gi" 1928 zum Abitur ihre erste Kamera, eine Leica, schenkte.
Gisèle Freund wollte nie Fotografin werden. Sie träumte von einem Leben als Schriftstellerin, und doch war sie es dann, die mit ihrer Kamera unseren Blick auf das vergangene Jahrhundert wesentlich geprägt hat. Die unvergessenen Aufnahmen aus ihrer Hand entstanden dabei in der kurzen Zeit zwischen 1938 und 1939, als Gisèle Freund, die 1933 aus Deutschland geflohen war, in Paris die großen Literaten ihrer Zeit versammelte: Sie porträtierte Paul Valéry und Jean Cocteau, Colette im Bett schreibend und Sartre auf dem Balkon stehend, den jungen Malraux mit wehenden Haaren, André Gide unter der Gipsmaske von Leopardi, den verlorenen Blick Virginia Woolfs, James Joyce und seine beringten Hände.
Detailliert beschreibt Bettina de Cosnac, wie Gisèle Freund während der Sitzungen die oft verunsicherten Künstler im Scheinwerferlicht in Gespräche verwickelte und sie zu ihrem Werk befragte, auf dass sie "persönlich" würden. "Keine Pose und niemals dasselbe Foto zweimal" lautete eine Grundregel der Fotografin. Und sie zog es vor, die Schriftsteller in ihrem Zuhause, einem vertrauten Ambiente aufzunehmen, um sie noch authentischer zu erleben. "Wir tragen eine Maske, um unsere Ängste und Zweifel zu verbergen", befand Gisèle Freund, "der Fotograf hat die Aufgabe, uns zu enthüllen, was wir geheim halten wollen." Und weil Gisèle Freund seit Ende der dreißiger Jahre mit dem neuen Farbfilm arbeitete, der nur langsam auf Licht reagierte, mussten die Porträtierten lange stillhalten. Auch dies beförderte das Moment der fotografischen Enthüllung, denn allein schon aus Erschöpfung kam der Mensch hinter der Maske irgendwann zum Vorschein.
Die Pariser Jahre nehmen einen zentralen Platz in Cosnacs Biographie ein, die sich in einer Unmenge von Kapitelhäppchen - was den Lesefluss zuweilen stört - durch dieses dichte, bewegte Leben schreibt. Dramatisch wird noch einmal die Flucht der Soziologiestudentin aus Frankfurt nach Paris geschildert. Schon mit vierundzwanzig war Gisèle Freund schlagfertig und geistesgegenwärtig genug, um dem SS-Mann im Zug, der sie kontrollierte, bei der Frage, ob sie Jüdin sei, zu entgegnen: "Haben Sie schon einmal eine Jüdin namens Gisela gesehen?" In Paris schlüpfte sie bei Freunden unter, vollendete die in Frankfurt auf Anregung von Norbert Elias begonnene Promotion über die Fotografie im neunzehnten Jahrhundert. Unterstützt wurde sie von der Buchhändlerin Adrienne Monnier, Rat suchte sie bei Walter Benjamin, der Ausweisung aus Paris entkam sie durch eine Scheinehe. Während der Okkupation floh sie zunächst nach Südfrankreich und schließlich nach Argentinien. Das liest sich, unterfüttert mit bislang unveröffentlichten Briefen und Privatfotos, spannend, weshalb es umso ärgerlicher ist, wenn der Autorin handwerkliche Fehler unterlaufen, sprachliche Redundanzen etwa, und sogar ein identischer Absatz bei zwei verschiedenen Reisen nach England vorkommt. Vor allem aber wird dem Buch zum Problem, dass es Gisèle Freund nicht zu übertreffen vermag, die selbst seit ihrer Wiederentdeckung in den sechziger Jahren immer wieder in Interviews, Vorträgen und Büchern witzig und weise, klar und charmant ihr Leben geschildert hat.
Weil dies ein großes Lesevergnügen ist, hat sich der Verlag Schirmer und Mosel zu Recht dazu entschlossen, einen 1985 erschienenen Band neu aufzulegen, den Gisèle Freund noch selbst zusammengestellt hat. Dieses prächtige Bilder-Tagebuch versammelt mehr als zweihundert Fotografien aus fünfzig Jahren, untermalt von den geistreichen Erinnerungen dieser Weltreisenden mit dem forschenden Blick.
SANDRA KEGEL
Gisèle Freund: "Photographien & Erinnerungen". Mit autobiographischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle, Verlag Schirmer/ Mosel, München 2008. 224 S., Abb., geb., 49,80 [Euro].
Bettina de Cosnac: "Gisèle Freund. Ein Leben". Arche Literatur Verlag, Zürich, Hamburg 2008. 297 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Fotografin Gisèle Freund hat unser Bild des zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend geprägt. Eine Biographie und die Neuausgabe ihrer "Photographien & Erinnerungen" erzählen die spannende Geschichte hinter den Bildern.
Gisèle Freund wurde unter den "Kreidefelsen von Rügen" geboren. Zwar hieß das Gemälde, das heute im Museum in Winterthur hängt, damals - in der großbürgerlichen Berliner Wohnung der jüdischen Kaufmannsfamilie Freund - noch nicht so und war auch noch nicht als Werk Caspar David Friedrichs erkannt worden. Gleichwohl war es ein symbolischer Start ins Leben, wie Bettina de Cosnac in ihrer Biographie über Gisèle Freund notiert: Denn die in Öl gebannte Unendlichkeit des Ozeans spielte im Leben der heute vor hundert Jahren geborenen Fotografin, die im März 2000 in Paris starb, eine ebenso große Rolle wie der Abgrund, der sich im Bild dramatisch auftut. Fortwährend erkundete Gisèle Freund unbekannte Horizonte, mehrfach stand sie vor dem Nichts.
Dass "Kreidefelsen von Rügen", von den Eltern während der Weltwirtschaftskrise verkauft, zeitlebens ein Lieblingsbild von ihr blieb, ist kaum zufällig. Zumal es für sie eine Verbindung zu ihrem Vater darstellt, dem leidenschaftlichen Kunstsammler Julius Freund. Durch die Liebe zu ihm entdeckte Gisèle die Liebe zur Kunst. Anders als ihre Mutter, zu der die Tochter bis zuletzt ein distanziertes Verhältnis hatte, vergötterte das Mädchen Gisela, die ihren Vornamen erst später in Paris französisierte, den Vater, und er war es auch, der seiner "Gi" 1928 zum Abitur ihre erste Kamera, eine Leica, schenkte.
Gisèle Freund wollte nie Fotografin werden. Sie träumte von einem Leben als Schriftstellerin, und doch war sie es dann, die mit ihrer Kamera unseren Blick auf das vergangene Jahrhundert wesentlich geprägt hat. Die unvergessenen Aufnahmen aus ihrer Hand entstanden dabei in der kurzen Zeit zwischen 1938 und 1939, als Gisèle Freund, die 1933 aus Deutschland geflohen war, in Paris die großen Literaten ihrer Zeit versammelte: Sie porträtierte Paul Valéry und Jean Cocteau, Colette im Bett schreibend und Sartre auf dem Balkon stehend, den jungen Malraux mit wehenden Haaren, André Gide unter der Gipsmaske von Leopardi, den verlorenen Blick Virginia Woolfs, James Joyce und seine beringten Hände.
Detailliert beschreibt Bettina de Cosnac, wie Gisèle Freund während der Sitzungen die oft verunsicherten Künstler im Scheinwerferlicht in Gespräche verwickelte und sie zu ihrem Werk befragte, auf dass sie "persönlich" würden. "Keine Pose und niemals dasselbe Foto zweimal" lautete eine Grundregel der Fotografin. Und sie zog es vor, die Schriftsteller in ihrem Zuhause, einem vertrauten Ambiente aufzunehmen, um sie noch authentischer zu erleben. "Wir tragen eine Maske, um unsere Ängste und Zweifel zu verbergen", befand Gisèle Freund, "der Fotograf hat die Aufgabe, uns zu enthüllen, was wir geheim halten wollen." Und weil Gisèle Freund seit Ende der dreißiger Jahre mit dem neuen Farbfilm arbeitete, der nur langsam auf Licht reagierte, mussten die Porträtierten lange stillhalten. Auch dies beförderte das Moment der fotografischen Enthüllung, denn allein schon aus Erschöpfung kam der Mensch hinter der Maske irgendwann zum Vorschein.
Die Pariser Jahre nehmen einen zentralen Platz in Cosnacs Biographie ein, die sich in einer Unmenge von Kapitelhäppchen - was den Lesefluss zuweilen stört - durch dieses dichte, bewegte Leben schreibt. Dramatisch wird noch einmal die Flucht der Soziologiestudentin aus Frankfurt nach Paris geschildert. Schon mit vierundzwanzig war Gisèle Freund schlagfertig und geistesgegenwärtig genug, um dem SS-Mann im Zug, der sie kontrollierte, bei der Frage, ob sie Jüdin sei, zu entgegnen: "Haben Sie schon einmal eine Jüdin namens Gisela gesehen?" In Paris schlüpfte sie bei Freunden unter, vollendete die in Frankfurt auf Anregung von Norbert Elias begonnene Promotion über die Fotografie im neunzehnten Jahrhundert. Unterstützt wurde sie von der Buchhändlerin Adrienne Monnier, Rat suchte sie bei Walter Benjamin, der Ausweisung aus Paris entkam sie durch eine Scheinehe. Während der Okkupation floh sie zunächst nach Südfrankreich und schließlich nach Argentinien. Das liest sich, unterfüttert mit bislang unveröffentlichten Briefen und Privatfotos, spannend, weshalb es umso ärgerlicher ist, wenn der Autorin handwerkliche Fehler unterlaufen, sprachliche Redundanzen etwa, und sogar ein identischer Absatz bei zwei verschiedenen Reisen nach England vorkommt. Vor allem aber wird dem Buch zum Problem, dass es Gisèle Freund nicht zu übertreffen vermag, die selbst seit ihrer Wiederentdeckung in den sechziger Jahren immer wieder in Interviews, Vorträgen und Büchern witzig und weise, klar und charmant ihr Leben geschildert hat.
Weil dies ein großes Lesevergnügen ist, hat sich der Verlag Schirmer und Mosel zu Recht dazu entschlossen, einen 1985 erschienenen Band neu aufzulegen, den Gisèle Freund noch selbst zusammengestellt hat. Dieses prächtige Bilder-Tagebuch versammelt mehr als zweihundert Fotografien aus fünfzig Jahren, untermalt von den geistreichen Erinnerungen dieser Weltreisenden mit dem forschenden Blick.
SANDRA KEGEL
Gisèle Freund: "Photographien & Erinnerungen". Mit autobiographischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle, Verlag Schirmer/ Mosel, München 2008. 224 S., Abb., geb., 49,80 [Euro].
Bettina de Cosnac: "Gisèle Freund. Ein Leben". Arche Literatur Verlag, Zürich, Hamburg 2008. 297 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main