In diesem eindringlichen Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
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Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension
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Ein Debütroman mit dem richtigen Ton und den richtigen Fragen: "Gittersee" von Charlotte Gneuß
Wie war das damals, als man selbst sechzehn war? An der Schwelle zur Welt der Erwachsenen mit all ihren Erwachsenenproblemen und doch gefangen in den Kinderzimmern von ehedem - zudem einer Explosion von Gefühlen, Sehnsüchten und neuen Erfahrungen ausgesetzt. Karin Köhler, die Erzählerin des stimmungsvollen Debütromans von Charlotte Gneuß, ist sechzehn, als ihr Leben plötzlich Erwachsenendimensionen annimmt. Sie lebt Mitte der Siebziger in der Nähe von Dresden und hat einen Freund, der ist attraktiv verwegen. Paul Forster heißt er. Wenn Paul auf seiner Schwalbe durch Gittersee düst, schmiegt Karin sich an ihn. Zusammen mit Pauls bestem Freund Emmanuel Rühle fahren sie zum Klettern ins Elbsandsteingebirge. Das klappt ziemlich gut. Aber Paul will höher hinaus. Er will übers Sommersonnenwendfest zu "den Tschechen", zusammen mit Rühle. Zum Klettern, behauptet er. "Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert." Daran wird Karin sich später, als sie von der Stasi verhört wird, erinnern. Immer wieder diese Szene. Paul, sagen sie, habe rübergemacht. Er habe Kunst studieren wollen.
Klar hatte Karin Lust auf ein Abenteuer im Sommer 1976. Aber sie hatte eine kleine Schwester, um die sie sich kümmern musste, während die Eltern in staatseigenen Betrieben schufteten. "Sie arbeitete in Wismuts Großküche und roch nach Frittierfett", heißt es über Karins Mutter. Die Oma ist auch noch im Haus - eine strenge Matriarchin, die immer noch von ihren Kriegsabenteuern als Blitzmädel ("erst Minsk, dann Paris und schließlich die ganze Welt") schwärmt und ihren verstorbenen Mann dafür verachtet, dass er aus Feigheit, nicht aus Heldentum, desertiert ist. Vor Oma nimmt man sich lieber in Acht. Wenn "Vati", den Gneuß als sanften Versager mit einer Neigung zum Alkohol skizziert, mal wieder überfordert unter dem Skoda liegt, sagt Oma: "Wenn du wo anpackst, ist's, wie wenn zwei loslassen."
Auch wenn sich die Erzählerin auf Fragmente der Erinnerung verlässt, bekommt man bald ein realistisches Bild von diesem Familienleben, in dem man Zärtlichkeit kennt, aber auch Frust über ein falsches Leben im richtigen. Lust auf ein Abenteuer hat Karin deshalb, aber es geht gerade nicht, sagt sie Paul. "Ich nickte, und er nickte auch. Und du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe, flüsterte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann meinte er, dass Rühle bald käme. Ich lachte und sagte, bin ja schon weg, nahm sein Gesicht in beide Hände, küsste ihn auf den Mund und dachte, was ist er schön."
Am nächsten Tag klingelt ein Stasimann bei den Köhlers. "Wickwalz zupfte sich einen Fussel von der Hose und sagte, wir führen hier einen Krieg gegen ein tödliches Wirtschaftssystem, und dein Freund beschließt, Kunst zu studieren. Findest du das in Ordnung?" Es ist der Beginn einer Arbeitsbeziehung, in der sich die ganze perfide Dynamik der Manipulation entrollt. Wickwalz ist ein Mephisto von der attraktiven Gestalt. Man munkelt, er sei "vom anderen Ufer". Wenn Karin in Wickwalz' Auto sitzt, dort wie eine Erwachsene Zigaretten raucht, schiebt er den Beifahrersitz weiter nach hinten -"so ist es bequemer" - und schafft damit eine therapeutische Situation, in der eine sechzehnjährige mit Liebeskummer und Krach sich zu Hause, verstanden fühlen kann.
Vor allem Rühle sei, so Wickwalz, im Auge zu behalten. Karin erinnert sich jetzt an Arbeitseinsätze auf dem Feld. Da hatten Paul und die anderen Jungs Radio-Eriwan-Witze gerissen. "Anfrage an Radio Eriwan, bekommt man wirklich zehn Jahre, wenn man sagt, Stalin war ein Idiot. Im Prinzip ja, es ist schließlich ein Staatsgeheimnis. Anfrage an Radio Eriwan, was ist Chaos. Fragen aus der Landwirtschaft werden nicht beantwortet."
Später entdeckt Karin Notizhefte, die sie Wickwalz übergibt: "Er ging Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, Satzzeichen für Satzzeichen durch das Heft. Er sprach von Hohlräumen zwischen den Worten, er prüfte ihre Länge, ihr Maß, ihren Takt. Er fragte die Sätze nach ihrem Sinn, kettete die Anfangsbuchstaben der Verben, der Substantive, der Adjektive aneinander und schrieb neue Worte in sein altes Heft. Er strich die Satzzeichen und gab den Sätzen neue Sinne. Er strich die Kommas, er sagte, Kommas seien die Sollbruchstellen der Sätze, die Wendepunkte der Gedanken. Wickwalz sprach von Baumgraphen wie von alten Freunden und strich wie ein Magier übers Papier, als ob da nun ein Kaninchen heraushüpfte oder ein Hut oder Paul gar selbst."
Die Unterredungen mit der Staatsgewalt gehören zu den großen Schwebepartien dieses Buchs, in dem nie klar wird, ob ein Verrat vorliegt, und wenn, ob es ein Verrat an Paul ist oder einer am Staat oder einer an den Eltern oder einfach nur einer an sich selbst. Wie Charlotte Gneuß hier Informationen souverän dosiert, es aber auch versteht, Szenen wieder abbrechen zu lassen, ist bewunderungswürdig. In lässigem Rhythmus verknüpft sie die Erinnerungen an verliebte Nachmittage mit Paul und den Schulalltag mit Karins bester Freundin Marie, deren Vater vor dem Mauerbau im Westen geblieben ist, mit Situationen in Karins Elternhaus und Treffen mit Wickwalz. Aber sie zoomt auch in die Biographien von Eltern und Großeltern hinein. Dabei trifft sie den Ton der Siebzigerjahrejugend perfekt: "Nach der Schule ging ich zu Wismut. Rühles Moped stand bei den anderen. Ich klemmte den Brief zwischen Sitz und Motor. Ein älterer Mann stand um die Ecke und rauchte. Er zwinkerte mir zu. Sie haben da was am Auge, rief ich ihm zu, so Zuckungen, würd ich behandeln lassen."
Bis zum Schluss ist dieser Roman spannend, seine Figuren sind einprägsam, und sein Ende kommt völlig überraschend. Charlotte Gneuß hat mit ihrer Heldin Karin eine im entscheidenden Moment mutig entschlossene Figur geschaffen, der man noch einmal ins Leben der Anderen folgt, vor allem aber durch ihr eigenes sechzehnjähriges. KATHARINA TEUTSCH
Charlotte Gneuß: "Gittersee". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 237 S,. geb. 22,- Euro.
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