1976, im Dresdner Vorort Gittersee: Karin ist 16, hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter im Haushalt, die ihrer Zeit als Blitzmädel hinterhertrauert. Karins Vater verzweifelt an der Reparatur seines Skodas wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht bei der Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen.
In diesem eindringlichen Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
In diesem eindringlichen Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2023Her mit dem Generationenkonflikt!
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension
Letztes Jahr diskutierten die Feuilletons darüber, ob Charlotte Gneuß' in ihrem Roman "Gittersee" die DDR historisch akkurat dargestellt hat. Der zweite große DDR-Roman jener Saison war Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück", an dem der Literaturprofessor Stefan Müller nun in der Berliner Zeitung scharfe Kritik übt. Rabes These, dass die DDR-Gesellschaft einen ausgeprägten Hang zu einer gewaltvollen Erziehung und sozialer Kälte hatte, wodurch sich etwa rechtsextreme Exzesse im Osten seit der Wiedervereinigung und bis zur Gegenwart erklären ließen, hält er für nicht stichhaltig: "Viele Details, die zeigen, wie schlimm es damals war, waren im Westen genau so. Die Trennung von Mutter und Kind direkt nach der Geburt, die Isolation der Kinder, damit sie durchschlafen lernen. ... Die Prügelstrafe in Schulen wurde in der DDR ab 1949 abgeschafft. In der BRD war sie auch 1973 noch erlaubt, in Bayern sogar bis 1983. Erst jetzt wird die physische und psychische Gewalt in den zum Teil kirchlichen Heimen der Kinderlandverschickung im Westen aufgearbeitet. ... Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahre 2021 mit 5836 Teilnehmern hat gezeigt, dass emotionale Vernachlässigung, emotionale, physische und sexuelle Gewalt im Westen weiter verbreitet waren als im Osten. Wäre diese Studie in den gängigen Medien diskutiert worden, wäre Anne Rabes Buch vielleicht nie erschienen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2023Verführerische Funktionäre
Charlotte Gneuß’ Coming-of-Age-Story in der DDR: „Gittersee“
Gittersee ist einer der äußeren Stadtteile von Dresden, im Südwesten gelegen. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an wurde in den Schächten unter Gittersee Steinkohle abgebaut, bevor das Bergwerk von 1967 an zur Förderung von Uranerzen weiterbetrieben wurde. Ein Arbeiterstadtteil, tief im Osten. Da kann die Sonne verstauben.
„Gittersee“ ist außerdem der Titel eines Debütromans, der in diesem Jahr von der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wird, deren Literatur-Preis schon Ausgangspunkt vieler erfolgreicher Autorenkarrieren war. Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren. Ihre Eltern sind in der DDR aufgewachsen; sie selbst hat zunächst in Dresden studiert und ging dann an das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Im Nachwort ihres Romans bedankt sich Gneuß bei ihren Eltern und ihren Großmüttern für das Teilen von Erinnerungen. Man darf also davon ausgehen, dass in „Gittersee“ sowohl eigene Anschauung als auch authentisch Erlebtes eingeflossen sind.
Karin, ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin, ist zu Beginn des Romans 16 Jahre alt, geht zur Schule und lebt mit ihrer Großmutter, den Eltern und ihrer kleinen Schwester, einer zwei Jahre alten Nachzüglerin, in eher beengten Verhältnissen in Gittersee. Es ist das Jahr 1976. Die Biografien der Erwachsenen werden nicht bis ins Letzte auserzählt, doch aus Andeutungen und Gesprächen, aus Streitereien unter den Eltern wird deutlich, dass deren intellektuelle Fertigkeiten einmal die Aussicht auf andere Lebensläufe zugelassen haben als die der täglichen Plackerei im Schichtdienst. Der Vater ist zum Trinker geworden, die noch junge Mutter schmiedet Ausbruchspläne. In seinen Milieuschilderungen ließe sich „Gittersee“ auch als Gegenentwurf zum großbürgerlichen Szenario in Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ lesen.
Der Sog des Romans entsteht aus dem Kontrast zwischen der Atmosphäre der Enge, der staatlichen Restriktionen und dem Freiheitswillen, der sich in unterschiedlichen Figuren Bahn bricht. Dafür findet Charlotte Gneuß eine schlüssige Perspektive: Sie bleibt dicht am Bewusstsein ihrer jugendlichen Protagonistin, die einen scharfen Blick für Details hat, aber Zusammenhänge nicht erkennen kann oder nicht erkennen will. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist eine ungeheuerliche, die man mit den Schlagworten Flucht, Verrat, Mord umreißen könnte, wollte man es sich einfach machen. Und doch bleibt darin vieles undurchsichtig, weil das System, ohne das dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können, die Undurchschaubarkeit zum Funktionsprinzip erhoben hat.
Karin verbringt viel Zeit mit ihrem Freund Paul und dessen Freund Rühl. Paul und Rühl arbeiteten gemeinsam im Schacht. Karin mag Rühl nicht sonderlich und umgekehrt. Paul träumt von einer Künstlerexistenz, aber nicht in Gittersee, in einer anderen Welt. Einmal will Paul mit Rühl und Karin einen Ausflug machen, auf seinem Mofa, seiner Schwalbe, für ein Wochenende rüber nach Tschechien. Er zeigt ihr Geld, das er gespart und im Reifen seines Mofas versteckt hat. Sie versteht nicht. Ihre Eltern erlauben ihr den Ausflug nicht, dafür steht wenige Tage später die Staatssicherheit vor der Tür und will Karin befragen. Rühl ist alleine zurückgekommen und hüllt sich in Schweigen über das, was geschehen ist. Man darf all das guten Gewissens verraten, weil es nicht das Ende und auch nicht die Pointe von „Gittersee“ ist, sondern lediglich der Auftakt, der eine Kettenreaktion in Gang setzt.
Der heimliche oder eher unheimliche Treiber des Geschehens ist eine weitere von Charlotte Gneuß ambivalent gezeichnete Figur: Wickwalz hat keinen Vornamen, aber eine Funktion bei der Staatssicherheit. Gerüchte ranken sich um ihn bei Karin und ihren Mitschülerinnen. Mitschüler gibt es kaum, die Männer arbeiten unter Tage. Wickwalz hat ein Motorrad und sieht gut aus, vielleicht sei er schwul, wird gemunkelt. Er selbst erzählt von seinen Kindern, im Eissalon beugt er sich freundlich zu Karins kleiner Schwester hinunter, und aus unbestimmten Gründen wird einem beim Lesen frostig zumute. Wickwalz umschmeichelt Karin. Was er von ihr will, ist den Lesern früher klar als ihr selbst. Mehr als zehn Prozent der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter, so weiß man heute, waren minderjährig. In „Gittersee“ lässt sich nachlesen, wie verführerisch sich das damit verbundene Gemisch aus jugendlicher Abenteuerlust, Naivität und dem Gefühl, behilflich sein zu wollen, anfühlen kann.
Charlotte Gneuß beschönigt nichts, schon gar nicht ist „Gittersee“ der Versuch, eine Diktatur und deren Praktiken reinzuwaschen. In dem Alltags- und Realitätsgeflecht, dem emotionalen Durcheinander der Protagonistin zwischen Schul- und Freundinnenärger, Trauer um den verschwundenen Freund und Sorge um die auseinanderfallende Familie kommen die gelegentlichen Treffen mit dem Stasi-Verbindungsmann gleichrangig vor. „Gittersee“ erzählt vom systemimmanenten Verlust der Unschuld, bis es am Ende zu einer überraschenden, aber glaubhaften Wendung kommt. Doch der Tonfall, in dem Karin sich selbst beim erzwungenen Erwachsenwerden zuschaut, bleibt unpathetisch. Sollte dieses Buch bald verfilmt werden, wäre das keine schlechte Idee. Es dürfte nur keine dramatischen Geigen in der Tonspur geben.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Die 1992 geborene Autorin Charlotte Gneuß.
Foto: Alena Schmick/S. Fischer
Charlotte Gneuß:
Gittersee. Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2023.
240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Charlotte Gneuß’ Coming-of-Age-Story in der DDR: „Gittersee“
Gittersee ist einer der äußeren Stadtteile von Dresden, im Südwesten gelegen. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an wurde in den Schächten unter Gittersee Steinkohle abgebaut, bevor das Bergwerk von 1967 an zur Förderung von Uranerzen weiterbetrieben wurde. Ein Arbeiterstadtteil, tief im Osten. Da kann die Sonne verstauben.
„Gittersee“ ist außerdem der Titel eines Debütromans, der in diesem Jahr von der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wird, deren Literatur-Preis schon Ausgangspunkt vieler erfolgreicher Autorenkarrieren war. Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren. Ihre Eltern sind in der DDR aufgewachsen; sie selbst hat zunächst in Dresden studiert und ging dann an das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Im Nachwort ihres Romans bedankt sich Gneuß bei ihren Eltern und ihren Großmüttern für das Teilen von Erinnerungen. Man darf also davon ausgehen, dass in „Gittersee“ sowohl eigene Anschauung als auch authentisch Erlebtes eingeflossen sind.
Karin, ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin, ist zu Beginn des Romans 16 Jahre alt, geht zur Schule und lebt mit ihrer Großmutter, den Eltern und ihrer kleinen Schwester, einer zwei Jahre alten Nachzüglerin, in eher beengten Verhältnissen in Gittersee. Es ist das Jahr 1976. Die Biografien der Erwachsenen werden nicht bis ins Letzte auserzählt, doch aus Andeutungen und Gesprächen, aus Streitereien unter den Eltern wird deutlich, dass deren intellektuelle Fertigkeiten einmal die Aussicht auf andere Lebensläufe zugelassen haben als die der täglichen Plackerei im Schichtdienst. Der Vater ist zum Trinker geworden, die noch junge Mutter schmiedet Ausbruchspläne. In seinen Milieuschilderungen ließe sich „Gittersee“ auch als Gegenentwurf zum großbürgerlichen Szenario in Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ lesen.
Der Sog des Romans entsteht aus dem Kontrast zwischen der Atmosphäre der Enge, der staatlichen Restriktionen und dem Freiheitswillen, der sich in unterschiedlichen Figuren Bahn bricht. Dafür findet Charlotte Gneuß eine schlüssige Perspektive: Sie bleibt dicht am Bewusstsein ihrer jugendlichen Protagonistin, die einen scharfen Blick für Details hat, aber Zusammenhänge nicht erkennen kann oder nicht erkennen will. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist eine ungeheuerliche, die man mit den Schlagworten Flucht, Verrat, Mord umreißen könnte, wollte man es sich einfach machen. Und doch bleibt darin vieles undurchsichtig, weil das System, ohne das dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können, die Undurchschaubarkeit zum Funktionsprinzip erhoben hat.
Karin verbringt viel Zeit mit ihrem Freund Paul und dessen Freund Rühl. Paul und Rühl arbeiteten gemeinsam im Schacht. Karin mag Rühl nicht sonderlich und umgekehrt. Paul träumt von einer Künstlerexistenz, aber nicht in Gittersee, in einer anderen Welt. Einmal will Paul mit Rühl und Karin einen Ausflug machen, auf seinem Mofa, seiner Schwalbe, für ein Wochenende rüber nach Tschechien. Er zeigt ihr Geld, das er gespart und im Reifen seines Mofas versteckt hat. Sie versteht nicht. Ihre Eltern erlauben ihr den Ausflug nicht, dafür steht wenige Tage später die Staatssicherheit vor der Tür und will Karin befragen. Rühl ist alleine zurückgekommen und hüllt sich in Schweigen über das, was geschehen ist. Man darf all das guten Gewissens verraten, weil es nicht das Ende und auch nicht die Pointe von „Gittersee“ ist, sondern lediglich der Auftakt, der eine Kettenreaktion in Gang setzt.
Der heimliche oder eher unheimliche Treiber des Geschehens ist eine weitere von Charlotte Gneuß ambivalent gezeichnete Figur: Wickwalz hat keinen Vornamen, aber eine Funktion bei der Staatssicherheit. Gerüchte ranken sich um ihn bei Karin und ihren Mitschülerinnen. Mitschüler gibt es kaum, die Männer arbeiten unter Tage. Wickwalz hat ein Motorrad und sieht gut aus, vielleicht sei er schwul, wird gemunkelt. Er selbst erzählt von seinen Kindern, im Eissalon beugt er sich freundlich zu Karins kleiner Schwester hinunter, und aus unbestimmten Gründen wird einem beim Lesen frostig zumute. Wickwalz umschmeichelt Karin. Was er von ihr will, ist den Lesern früher klar als ihr selbst. Mehr als zehn Prozent der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter, so weiß man heute, waren minderjährig. In „Gittersee“ lässt sich nachlesen, wie verführerisch sich das damit verbundene Gemisch aus jugendlicher Abenteuerlust, Naivität und dem Gefühl, behilflich sein zu wollen, anfühlen kann.
Charlotte Gneuß beschönigt nichts, schon gar nicht ist „Gittersee“ der Versuch, eine Diktatur und deren Praktiken reinzuwaschen. In dem Alltags- und Realitätsgeflecht, dem emotionalen Durcheinander der Protagonistin zwischen Schul- und Freundinnenärger, Trauer um den verschwundenen Freund und Sorge um die auseinanderfallende Familie kommen die gelegentlichen Treffen mit dem Stasi-Verbindungsmann gleichrangig vor. „Gittersee“ erzählt vom systemimmanenten Verlust der Unschuld, bis es am Ende zu einer überraschenden, aber glaubhaften Wendung kommt. Doch der Tonfall, in dem Karin sich selbst beim erzwungenen Erwachsenwerden zuschaut, bleibt unpathetisch. Sollte dieses Buch bald verfilmt werden, wäre das keine schlechte Idee. Es dürfte nur keine dramatischen Geigen in der Tonspur geben.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Die 1992 geborene Autorin Charlotte Gneuß.
Foto: Alena Schmick/S. Fischer
Charlotte Gneuß:
Gittersee. Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2023.
240 Seiten, 22 Euro.
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