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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2001

Mitspieler der Evolution
Epochal: Kurt Hübner justiert die Pole von Glauben und Denken

Hier wagt noch einmal einer das Ganze. Die Bibel Alten und Neuen Testaments wird "zusammengedacht" mit der Geschichte der abendländischen Metaphysik von Platon bis Habermas und Lyotard. Es entsteht ein steiles, kühnes, wissensschwangeres Gebilde. Einsam steht es da, dem Turm von Laboe nahe der Kieler Wirkungsstätte des am 1. September achtzigjährigen Kurt Hübner nicht unähnlich. Was ist die Botschaft dieser auf über sechshundert Seiten zusammengedrängten Wissensmasse? Hübner will die Bereiche der Transzendenz und des Mythischen entschieden emanzipieren gegenüber der Sphäre der Wissenschaft. Insofern setzt diese "Summa" die vorangehenden Bücher Hübners unter den Titeln "Die Wahrheit des Mythos" und "Kritik der wissenschaftlichen Vernunft" ganz konkret fort.

Zwei große Teile hat das Buch. Auf den "Logos der Offenbarung" folgt der "Logos der Metaphysik". Die beiden Teile entsprechen den beiden biblischen Paradiesbäumen: Beim Logos der Offenbarung ißt man vom Baum des Lebens, beim Logos der Metaphysik hingegen vom Baum der Erkenntnis (des Guten und Bösen). Schon diese interessante Zweiteilung ist ein Teil des Programms. Denn ganz gewiß ist die Rede von diesen beiden Bäumen eine mythische. Unter Mythos versteht der Philosoph Hübner eine Art überzeitlicher Weisheit, eine Ursprungsgeschichte, die sich immer und immer wiederholt. Dabei hat die Weisheit des Mythischen für Hübner eine Faszination, die jene insbesondere der neuzeitlichen Philosophien weit überstrahlt. Der Leser kann diese Begeisterung an der Durchsichtigkeit des Stils in diesen Fällen sehr gut nachvollziehen. So sind auch bei der Darstellung der biblischen Offenbarung die Passagen am überzeugendsten, in denen Hübner zeigt, wie intensiv die biblische Offenbarung von mythischen Elementen durchwoben ist. Immer wieder richtet sich der Blick auf den mythischen Anfang. Daher spielen die Paradiesgeschichte und die Jesuserzählungen als Darstellungen des mythischen Anfangs eine zentrale Rolle.

So kann Hübner das Abendmahl als heilspendende Mahlzeit dem Essen von den Paradiesbäumen entgegenstellen - das taten auch einst die Kirchenväter mit ihren Typologien - und zum anderen Male auf die mythische Dimension des Essens verweisen. Es gelingt Hübner, wichtige Grundbegriffe des christlichen Glaubens mythisch darzustellen, so etwa Sündenfall und Personalität, Gebet und christliche Kunst, Schuldbegriff und Sündenbock, Christi Leib und Gewissensängste. Um Hübner hier würdigen zu können, muß man wissen, daß die vergangenen fünfzig Jahre christlicher Erforschung der Bibel von der Entmythisierung der Texte bestimmt waren. Diese bestand, grob gesagt, darin, daß man versuchte, von einem abstrakten Kerngehalt der Texte alles zu subtrahieren, was das Göttliche allzu welthaft und leibhaft darstellte. Maßgeblich blieb dann allein der Kern, die mythologische Schale entfiel, ja sie mußte zertrümmert werden. So wurde das Abendmahl und vieles andere reduziert auf den rechten Glauben, das Essen war unwesentlich. Konträr dazu Hübner: Er stellt das Abendmahl neben die Theoxenie (Gastmahl bei und mit Göttern) der antiken Mythen und sieht dessen Substanz in der gleichfalls mythischen Dimension der Teilhabe.

Den besten Zugang zu Hübners Denken gewinnt man hier und wohl auch sonst von der Musik her. Jede neue Aufführung eines Musikstücks ist eine neue Wiederholung des mythischen Urgeschehens und doch ein Ereignis für sich - so wie jedes Abendmahl die Reinszenierung und wirkliche Wiederholung des letzten Mahles Jesu (nicht: seines Todes) ist. Dabei gilt für das musikalische Ereignis, daß das abstrakt Allgemeine und das konkret Individuelle (der konkreten Aufführung) hier vollkommen eins sind. Nun hat man Hübner gerade wegen dieser archaischen Einheit des Individuellen und des Allgemeinen im mythischen Geschehen heftig attackiert und ihm eine faschistoide Glorifizierung des Mythischen vorgeworfen. Diese Verdächtigungen erweisen sich freilich angesichts dieses großen Buches als einigermaßen haltlos. Denn zumindest ein Ziel dieser großen Veranstaltung ist es, das Christentum "aus der Degenerierung ins Sozial-Humane in das ursprüngliche Mysterium zurückzuführen".

Zauber der Ökologie

Doch nicht nur das Christentum, auch die ökologische Bewegung hat ihren Anteil an der Vitalität des Mythischen, redet sie doch von Bewahrung der "Schöpfung", und in ihrem Umkreis spricht man vom Zauber der Natur. Darüber hinaus ist ebendem wissenschaftlichen Zeitalter auch die Poesie im allgemeinen und die Rede vom Mysterium des Todes erhalten geblieben.

Philosophisch das Interessanteste sind die ontologischen Grundlegungen in den Anfangsabschnitten. Freilich kann man hier auch die meisten Anfragen stellen, zumindest an die Art der Durchführung. Völlig zu Recht stellt Hübner dar, daß der mythische Zugang zur Wirklichkeit ein eigener und gleichberechtigter neben dem wissenschaftlichen ist. Denn zugrunde liegen unterschiedliche und unverrechenbare Ontologien (inklusive Auffassungen von Zeit und Psyche). Diese Selbständigkeit des mythischen Bereichs geht so weit, daß er von der Wissenschaft her nicht kritisierbar ist. Hübner bezeichnet dieses als "Toleranzprinzip", wonach Toleranz von den Vertretern der einen Ontologie gegenüber denen der anderen geübt werden müsse. So geht es hier zunächst um zwei selbständige Anläufe, die Wirklichkeit zu erklären. Doch Kurt Hübner setzt nicht einfach den Bereich Gottes mit dem des Mythischen gleich, sondern er unterscheidet mindestens drei Bereiche: die Transzendenz (der dreifaltige Gott; Gericht), das Feld des Mythischen (grundlegende Anfangsgeschehnisse; Dämonen und Engel) und die profanen Erscheinungen.

Konkret durchgeführt wird das am Schöpfungs- und Evolutionsbegriff. Hübner versucht daran zu zeigen, daß ein leicht geläutertes biblisches Verständnis immer noch sehr viel weiter führt als die selbst innerhalb der exakten Wissenschaften kaum beweisbaren Theorien von Urknall und angeblich zur Evolution addierten Kleinmutationen. Richtig sieht Hübner, daß es bei der biblischen Schöpfungsgeschichte um eine Beschreibung der bestehenden Ordnung geht, nicht um ein Seitenstück zur Evolution. Denn die Schöpfung ist "das Haus des Menschen". Vor allem die Gerichtetheit eines Evolutionsprozesses ist für die Naturwissenschaft ein großes Problem. Nun hat Hübner sicher darin recht, daß die wirkliche Erforschung der Genese des Alls noch ganz in den Anfängen steckt. Doch seine Darstellung liest sich streckenweise wie Schulbücher amerikanischer Sekten, die eine wörtlich genommene Bibel aller teuflischen (das sagt Hübner nicht) Naturwissenschaft entgegensetzen wollen.

Gehetztes Schifflein

Für diesen Eindruck, der wohl am Ende auf einem Mißverständnis beruhen dürfte, sorgen zwei Dinge, aus denen man Einwände gegen Hübners Werk schmieden kann. Zum einen liest Hübner die Bibel "naiv", ohne für das Alte wie das Neue Testament die Fachexegese zur Kenntnis zu nehmen, von drei knappen Namensnennungen moderner Exegeten abgesehen. Zwar ist Hübner ein in Prag geborener Katholik, aber seine Jesus- und Paulusdeutung entsprechen tendenziell neulutherischer Kieler Richtung - nur in dem Abschnitt über die Freude hat eher Theresa von Avila das Sagen. Ein wenig mehr Interdisziplinarität in der Beachtung der Exegese hätte dem Buch sicher gutgetan. Denn Exegese treibt nicht nur Entmythologisierung. Die Texte mögen inhaltlich noch so mythisch sein - es gibt eine wissenschaftliche Erforschung derselben, die eben auch ihr eigenes Recht hat.

Zum anderen aber weckt aufgrund der strikt positivistischen Aneignung biblischer Aussagen - oder was Hübner eben dafür hält - doch der Grundsatz einigen Verdacht, nichts in der Offenbarung sei von außen her kritisierbar. Das führt zu so kuriosen Auskünften, als sei der Mythos vom Engelfall (zur Entstehung des Bösen) biblisch, wo es sich doch in Wahrheit um Erklärungsversuche der Kirchenväter handelt. So wird aus der Bibel ein dogmatisches System, das als per se unanfechtbar erklärt wird. Auf diese Weise wird Kieler Normalprotestantismus durch die Hintertür unfehlbar, weil eben die Wahrheit der Bibel mit der Weise verwechselt wird, in der man sie liest. Die Bibel mag ja die Wahrheit enthalten, aber der Weg, auf dem wir diese Wahrheit dann finden, wird von Hübner zuwenig problematisiert.

Diese Einwände führen zu grundsätzlicheren Zweifeln an Hübners Weg. Sollte man nicht, statt den Bereich mythischer Aussagen für unanfechtbar zu erklären, von einem Konkurrenzmodell ausgehen? Das sähe dann so aus: Hübners großes Verdienst ist es, die Autonomie des mythischen Bereichs zu verteidigen. Aber wenn auch die Naturwissenschaft ihrerseits autonom ist, höre ich im Zweifelsfalle dem zu, der im Ganzen und auf Dauer die "Welt" besser erklärt. So kann sich keiner auf das zurückziehen, was er als depositum besitzt. Es gilt, immer wieder neu diesen Wettkampf zu bestehen, die Spannung zwischen den Polen zu halten. Was die Bibel betrifft, so genügt es dabei gewiß nicht, ihren Wortlaut zu wiederholen - das tut auch Hübner nicht, aber er tut zumindest so -, sondern es bedarf einer biblischen Hermeneutik.

Gerade diese notwendige Diskussion weist auf die großen Stärken von Hübners Buch. Es ist epochemachend darin, daß nun die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Religion umgekehrt wird. Seit Jahrhunderten war die Religion auf dem Rückzug und sah sich in die Ecke gedrängt. Eine Position nach der anderen mußte aufgegeben werden, und dies besonders im Zeichen des siegreichen Vordringens der Evolutionslehre. Kaum jemand dürfte es wagen, öffentlich auf deren Schwachstellen hinzuweisen und zu sagen, daß sie mehr Probleme geschaffen als gelöst habe. Der alte Gegensatz von Profanem und Numinosem war ein komplementärer. Unversöhnbar dagegen erschien der zwischen Wissenschaft und Mythos. Prominentestes Opfer wurde das Neue Testament im Streit um die Entmythologisierung seit den fünfziger Jahren. Mittlerweile ist die Position ihres Vorkämpfers Rudolf Bultmann zur "mittleren Orthodoxie" aller größeren Kirchen in Deutschland geworden.

Doch nun erhebt die Religion - und das kann so offen wohl nur ein Philosoph leisten - selbstbewußt ihr Haupt. Die Religion ist nicht länger das gehetzte Schifflein, das seine Ladung Stück um Stück ins Meer werfen muß, um sich zu retten. Und vielleicht ist es ja wahr, daß der Verlust des Glaubens Menschen unserer Kultur in Verwirrung geführt hat. Daß Kurt Hübner, um den Glauben zu rehabilitieren, auch am hell leuchtenden Nimbus der Naturwissenschaften kratzen muß, wird von daher geradezu verständlich. Und daß Hübners Weg nicht billige Polemik ist, sondern über Hunderte von Seiten geführte materialreiche gediegene Auseinandersetzung mit der gesamten abendländischen Metaphysik, das ist nun eine Herausforderung an das Niveau jeder künftigen Auseinandersetzung über dieses Thema.

KLAUS BERGER

Kurt Hübner: "Glaube und Denken". Dimensionen der Wirklichkeit. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2001. 625 S., geb., 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Nicht weniger als "ein epochales philosophisches Ereignis" und die Abrundung eines Lebenswerkes stellt dieses Buch für den Rezensenten dar. Das von Huber auf seinem Weg der Konfrontation des Offenbarungsglaubens mit dem Denken der modernen Naturwissenschaft verfolgte Toleranzprinzip ist Dieter Borchmeyer von Anfang an sympathisch. Staunend steht er zudem vor der universalen Kompetenz eines Autors, der es vermag, über Natur- und Kunstwissenschaften, Einstein und Goethe, das mosaische Gesetz und die Genom-Entzifferung gleichermaßen überzeugend zu urteilen und dem es darüber hinaus gelingt, die selbstsichere naturwissenschaftliche Vernunft sowie eine Theologie zu erschüttern, "die mit ihren Entmythologisierungs- und Rationalisierungstendenzen auf den Bahnhof des Zeitgeistes eilt."

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