Produktdetails
- Manesse Bibliothek der Weltgeschichte
- Verlag: Manesse
- Seitenzahl: 430
- Abmessung: 175mm
- Gewicht: 314g
- ISBN-13: 9783717582205
- Artikelnr.: 25575497
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.1997Eine Flotte ist noch keine Seemacht
Land und Meer: Die geheime Aktualität der weltgeschichtlichen Betrachtungen Ludwig Dehios
Die Neuauflage dieses Klassikers der internationalen Machtgeschichte kommt zur rechten Zeit. Die vom Epochenjahr 1989 ausgehende Entwicklung macht es dringlich, sich wieder der Historie internationaler Beziehungen anzunehmen. In den Jahrzehnten zuvor fristete dieser Gegenstand historischer Forschung eher ein Nischendasein - oder wurde in den Bereich der politischen Wissenschaften abgedrängt. Diese disziplinäre Verschiebung war Ausdruck der Systemlogik von Kaltem Krieg und nuklear bewehrter Bipolarität. Die Rückkehr historischen Denkens erwächst gleichsam notwendig dem Niedergang einer Epoche, die keine über sich selbst hinausweisenden Deutungspotentiale auszubilden vermochte. Erfahrungsgeschichtlich gesprochen ist die Zeit des Kalten Krieges tote Zeit.
Vor dem Hintergrund eines solchen Befundes stellen indes weiter zurückliegende Zeiten jene Deutungspotentiale bereit, an denen es heutzutage mangelt. So kann man die Erweiterung der Nato als Fortsetzung der vom sechzehnten Jahrhundert ausgehenden atlantischen Revolution verstehen, als neue Stufe der Universalisierung westlicher parlamentarischer wie demokratischer Verkehrs- und Regierungsformen und der Zurückdrängung kontinentaler Traditionen von Herrschaft. Gleichzeitig offenbaren die Reaktionen auf die Erweiterung des atlantischen Bündnisses historische Zählebigkeiten wie die Wiederkehr der polnischen Frage - obgleich diese nicht mehr als klassische Teilungsfrage aufscheint, sondern als Frage nach dem russischen Selbstverständnis und den Grenzen Europas.
Mit solchen Fragen befaßt sich das zentrale Werk Ludwig Dehios. "Gleichgewicht oder Hegemonie" - 1948 erstmals erschienen und insofern auch als Kriegsschrift eines seiner Herkunft wegen im "Dritten Reich" kujonierten Gelehrten zu lesen - reflektiert die Geschichte des europäischen Staatensystems von der frühen Neuzeit bis zum Epochenjahr 1945. Im Zentrum der Überlegungen Dehios zur "Großen Politik" steht die zivilisatorische Entgegensetzung von Land und Meer - einerseits die auf territorialer Ausdehnung beruhende Machtentfaltung des kontinentalen Staates, seiner Armee und seiner Bürokratie samt seiner monarchistischen Legitimation; andererseits die zur ozeanischen Weltgeltung sich aufschwingende Seemacht, die das monarchische Element zurückdrängt, den Primat der Flotte vor dem Heer und den der Selbstverwaltung vor der zentralisierten Bürokratie durchsetzt.
Das Ordnungsprinzip des Gleichgewichts in Europa war der führenden Seemacht England kein Selbstzweck gewesen, sondern vielmehr Voraussetzung für ihre Hegemonie jenseits der Ozeane. Der große Gegensatz zwischen kontinentalem und insularem Wesen fand sich in die Räume der Neuen Welt projiziert. Die "Macht" wanderte ab aus Europa, um von der vormaligen Peripherie aus um so nachhaltiger auf die Geschicke des Kontinents einzuwirken.
Für Ludwig Dehio ist der Zusammenstoß der jeweiligen Vormacht des alten Erdteils mit dem Träger der westlichen Seemacht ein seit Philipp II. durchgehendes Kennzeichen der Hegemonialkämpfe bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Die Dialektik von Einheit und Vielheit der europäischen Geschichte entwickelt Dehio am Muster des italienischen Staatensystems. Er stellt die Sonderrolle Venedigs heraus; sie weist voraus auf die spätere Charakterisierung Englands. Des weiteren folgt er der klassischen Periodisierung der Machtgeschichte; er beginnt mit Karl V., fährt mit Philipp II. fort und führt anhand des Hegemonialstrebens Ludwigs XIV. die französische Variante ein, die später revolutioniert und doch nicht verändert wurde: Frankreich suchte auch die ideologische Vorherrschaft.
Besonders eindringlich stellt Dehio den Zusammenhang von Gleichgewicht und gesellschaftlichem wie nationalem Status quo in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auf dem Kontinent heraus. Die Gründung Griechenlands etwa, geboren aus dem Gedanken des Gleichgewichts, stellt als Realisierung des Nationalitätenprinzips die Grundfesten in Frage, auf denen das System des Gleichgewichts damals fußte. Natürlich wird die deutsche Frage von Dehio breit verhandelt. Dem Historiker preußisch-deutscher Geschichte ist sie ein besonderes Anliegen - geheimer Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Problem von Hegemonie und Gleichgewicht.
Im chronologischen Fortgang reflektiert Dehio die zivilisatorische Entgegensetzung von seegestützten und landgestützten politischen Kulturen. Eine schlagkräftige Flotte allein macht noch keine Seemacht. Über gewaltige Seestreitkräfte geboten zu ihrer Zeit auch kontinentale Mächte wie Spanien, Frankreich und Deutschland - und zuletzt auch die Sowjetunion. Seemächte bilden eine besondere politische Kultur - nach innen wie nach außen. Hier zeigt sich eine Wahlverwandtschaft zwischen dem inneren Prinzip der Gewaltenteilung und dem äußeren des Gleichgewichts. Beide blockieren in ihren jeweiligen Kontexten hegemoniale Überformungen von Macht und Herrschaft.
Aus demokratietheoretischer Perspektive und angesichts ihres Erscheinungsjahres 1948 lassen sich Dehios Betrachtungen durchaus auch als Beitrag zur geistigen wie politischen Rekonstruktion Europas nach 1945 lesen: Das Telos der von Dehio erzählten Staatengeschichte ist die englischsprechende Welt. Welche Orientierung hält Ludwig Dehios "Gleichgewicht oder Hegemonie" für die zeitgenössische Historie bereit? Allem Anschein nach führt das Werk zurück zu einer Art des historischen Denkens, das sich vordergründig einer vereinfachenden Metaphorik bedient - und dies, um hochkomplexe Entwicklungen in außerordentlicher Klarheit zu vermitteln.
Das Ranke wie Burckhardt gleichermaßen verpflichtete Werk, dessen geheimen geographischen Determinismus Klaus Hildebrand in seinem Nachwort als Herausgeber vorsichtig in Frage stellt, mag - ebenso wie der geradezu personalisierende Zugang der Beschreibung - angesichts des methodischen Fortgangs in der Geschichtswissenschaft auf den ersten Blick naiv anmuten. Paradoxerweise bezieht es gerade aus der ausgesprochen bildhaften Darstellung seine durchschlagende Kraft. Dehio gelingen nämlich durch konsequentes Durchhalten von Stilfiguren Reduktionen gewaltiger Zeiträume auf das historisch Wesentliche.
Mögen die zur Beschreibung herangezogenen Bilder und Figuren dem Bereich der Geologie oder der individuellen Charakterlehre entliehen sein - sie werden derart treffend zur Geltung gebracht, daß die Abläufe der großen Geschichte sich in ebenjener Anlage der Tropen gleichsam widerspiegeln. Was also in der Beschreibung auf den ersten Blick traditionell daherkommen mag, gibt bei näherem Hinsehen die Sicht frei auf die Struktur einer Darstellung, die sich sonst analytischer Hilfsmittel aus dem Arsenal der Sozialgeschichte oder der historischen Anthropologie zu bedienen hätte. Dehio genügen statt komplexer Theorien wenige Pinselstriche. Dabei kommt ihm freilich die Klarheit seiner These von der Entgegensetzung insularer und kontinentaler politischer Kulturen entgegen - hier wiederholt sich nämlich die Geschichte.
Angesichts der grundlegend veränderten Parameter internationaler Politik nach 1989 wird es zunehmend wichtiger, sich unterschiedlicher Traditionen von Macht und Herrschaft im internationalen Zusammenhang historisch zu versichern. Eine neue politische Geschichte ist nötig, der es darauf ankommt, die Kulturen, Traditionen, Mentalitäten und Strukturen politischen Denkens und Handelns zusammenzuführen. Liest man Ludwig Dehios "Gleichgewicht oder Hegemonie" als Antwort auf diese Frage, könnte das Werk in der Tat neue Wege weisen. DAN DINER
Ludwig Dehio: "Gleichgewicht oder Hegemonie". Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Hildebrand. Manesse Verlag, Zürich 1996. 430 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Land und Meer: Die geheime Aktualität der weltgeschichtlichen Betrachtungen Ludwig Dehios
Die Neuauflage dieses Klassikers der internationalen Machtgeschichte kommt zur rechten Zeit. Die vom Epochenjahr 1989 ausgehende Entwicklung macht es dringlich, sich wieder der Historie internationaler Beziehungen anzunehmen. In den Jahrzehnten zuvor fristete dieser Gegenstand historischer Forschung eher ein Nischendasein - oder wurde in den Bereich der politischen Wissenschaften abgedrängt. Diese disziplinäre Verschiebung war Ausdruck der Systemlogik von Kaltem Krieg und nuklear bewehrter Bipolarität. Die Rückkehr historischen Denkens erwächst gleichsam notwendig dem Niedergang einer Epoche, die keine über sich selbst hinausweisenden Deutungspotentiale auszubilden vermochte. Erfahrungsgeschichtlich gesprochen ist die Zeit des Kalten Krieges tote Zeit.
Vor dem Hintergrund eines solchen Befundes stellen indes weiter zurückliegende Zeiten jene Deutungspotentiale bereit, an denen es heutzutage mangelt. So kann man die Erweiterung der Nato als Fortsetzung der vom sechzehnten Jahrhundert ausgehenden atlantischen Revolution verstehen, als neue Stufe der Universalisierung westlicher parlamentarischer wie demokratischer Verkehrs- und Regierungsformen und der Zurückdrängung kontinentaler Traditionen von Herrschaft. Gleichzeitig offenbaren die Reaktionen auf die Erweiterung des atlantischen Bündnisses historische Zählebigkeiten wie die Wiederkehr der polnischen Frage - obgleich diese nicht mehr als klassische Teilungsfrage aufscheint, sondern als Frage nach dem russischen Selbstverständnis und den Grenzen Europas.
Mit solchen Fragen befaßt sich das zentrale Werk Ludwig Dehios. "Gleichgewicht oder Hegemonie" - 1948 erstmals erschienen und insofern auch als Kriegsschrift eines seiner Herkunft wegen im "Dritten Reich" kujonierten Gelehrten zu lesen - reflektiert die Geschichte des europäischen Staatensystems von der frühen Neuzeit bis zum Epochenjahr 1945. Im Zentrum der Überlegungen Dehios zur "Großen Politik" steht die zivilisatorische Entgegensetzung von Land und Meer - einerseits die auf territorialer Ausdehnung beruhende Machtentfaltung des kontinentalen Staates, seiner Armee und seiner Bürokratie samt seiner monarchistischen Legitimation; andererseits die zur ozeanischen Weltgeltung sich aufschwingende Seemacht, die das monarchische Element zurückdrängt, den Primat der Flotte vor dem Heer und den der Selbstverwaltung vor der zentralisierten Bürokratie durchsetzt.
Das Ordnungsprinzip des Gleichgewichts in Europa war der führenden Seemacht England kein Selbstzweck gewesen, sondern vielmehr Voraussetzung für ihre Hegemonie jenseits der Ozeane. Der große Gegensatz zwischen kontinentalem und insularem Wesen fand sich in die Räume der Neuen Welt projiziert. Die "Macht" wanderte ab aus Europa, um von der vormaligen Peripherie aus um so nachhaltiger auf die Geschicke des Kontinents einzuwirken.
Für Ludwig Dehio ist der Zusammenstoß der jeweiligen Vormacht des alten Erdteils mit dem Träger der westlichen Seemacht ein seit Philipp II. durchgehendes Kennzeichen der Hegemonialkämpfe bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Die Dialektik von Einheit und Vielheit der europäischen Geschichte entwickelt Dehio am Muster des italienischen Staatensystems. Er stellt die Sonderrolle Venedigs heraus; sie weist voraus auf die spätere Charakterisierung Englands. Des weiteren folgt er der klassischen Periodisierung der Machtgeschichte; er beginnt mit Karl V., fährt mit Philipp II. fort und führt anhand des Hegemonialstrebens Ludwigs XIV. die französische Variante ein, die später revolutioniert und doch nicht verändert wurde: Frankreich suchte auch die ideologische Vorherrschaft.
Besonders eindringlich stellt Dehio den Zusammenhang von Gleichgewicht und gesellschaftlichem wie nationalem Status quo in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auf dem Kontinent heraus. Die Gründung Griechenlands etwa, geboren aus dem Gedanken des Gleichgewichts, stellt als Realisierung des Nationalitätenprinzips die Grundfesten in Frage, auf denen das System des Gleichgewichts damals fußte. Natürlich wird die deutsche Frage von Dehio breit verhandelt. Dem Historiker preußisch-deutscher Geschichte ist sie ein besonderes Anliegen - geheimer Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Problem von Hegemonie und Gleichgewicht.
Im chronologischen Fortgang reflektiert Dehio die zivilisatorische Entgegensetzung von seegestützten und landgestützten politischen Kulturen. Eine schlagkräftige Flotte allein macht noch keine Seemacht. Über gewaltige Seestreitkräfte geboten zu ihrer Zeit auch kontinentale Mächte wie Spanien, Frankreich und Deutschland - und zuletzt auch die Sowjetunion. Seemächte bilden eine besondere politische Kultur - nach innen wie nach außen. Hier zeigt sich eine Wahlverwandtschaft zwischen dem inneren Prinzip der Gewaltenteilung und dem äußeren des Gleichgewichts. Beide blockieren in ihren jeweiligen Kontexten hegemoniale Überformungen von Macht und Herrschaft.
Aus demokratietheoretischer Perspektive und angesichts ihres Erscheinungsjahres 1948 lassen sich Dehios Betrachtungen durchaus auch als Beitrag zur geistigen wie politischen Rekonstruktion Europas nach 1945 lesen: Das Telos der von Dehio erzählten Staatengeschichte ist die englischsprechende Welt. Welche Orientierung hält Ludwig Dehios "Gleichgewicht oder Hegemonie" für die zeitgenössische Historie bereit? Allem Anschein nach führt das Werk zurück zu einer Art des historischen Denkens, das sich vordergründig einer vereinfachenden Metaphorik bedient - und dies, um hochkomplexe Entwicklungen in außerordentlicher Klarheit zu vermitteln.
Das Ranke wie Burckhardt gleichermaßen verpflichtete Werk, dessen geheimen geographischen Determinismus Klaus Hildebrand in seinem Nachwort als Herausgeber vorsichtig in Frage stellt, mag - ebenso wie der geradezu personalisierende Zugang der Beschreibung - angesichts des methodischen Fortgangs in der Geschichtswissenschaft auf den ersten Blick naiv anmuten. Paradoxerweise bezieht es gerade aus der ausgesprochen bildhaften Darstellung seine durchschlagende Kraft. Dehio gelingen nämlich durch konsequentes Durchhalten von Stilfiguren Reduktionen gewaltiger Zeiträume auf das historisch Wesentliche.
Mögen die zur Beschreibung herangezogenen Bilder und Figuren dem Bereich der Geologie oder der individuellen Charakterlehre entliehen sein - sie werden derart treffend zur Geltung gebracht, daß die Abläufe der großen Geschichte sich in ebenjener Anlage der Tropen gleichsam widerspiegeln. Was also in der Beschreibung auf den ersten Blick traditionell daherkommen mag, gibt bei näherem Hinsehen die Sicht frei auf die Struktur einer Darstellung, die sich sonst analytischer Hilfsmittel aus dem Arsenal der Sozialgeschichte oder der historischen Anthropologie zu bedienen hätte. Dehio genügen statt komplexer Theorien wenige Pinselstriche. Dabei kommt ihm freilich die Klarheit seiner These von der Entgegensetzung insularer und kontinentaler politischer Kulturen entgegen - hier wiederholt sich nämlich die Geschichte.
Angesichts der grundlegend veränderten Parameter internationaler Politik nach 1989 wird es zunehmend wichtiger, sich unterschiedlicher Traditionen von Macht und Herrschaft im internationalen Zusammenhang historisch zu versichern. Eine neue politische Geschichte ist nötig, der es darauf ankommt, die Kulturen, Traditionen, Mentalitäten und Strukturen politischen Denkens und Handelns zusammenzuführen. Liest man Ludwig Dehios "Gleichgewicht oder Hegemonie" als Antwort auf diese Frage, könnte das Werk in der Tat neue Wege weisen. DAN DINER
Ludwig Dehio: "Gleichgewicht oder Hegemonie". Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Hildebrand. Manesse Verlag, Zürich 1996. 430 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main