Manchmal kommt alles anders. Und das muss noch nicht einmal schlecht sein.
Eigentlich will Isabelle nur für ein paar unbeschwerte Tage in den Urlaub nach Italien fliegen. Doch dann bricht der ältere Herr, der ihr am Bahnhof zum Flughafen freundlicherweise den Koffer zu den Gleisen hinaufträgt, plötzlich tot zusammen. An Urlaub ist daraufhin für Isabelle nicht mehr zu denken. Denn nicht nur fühlt sie sich unschuldig schuldig an dem Tod des Unbekannten, sondern sie möchte auch unbedingt herausfinden, wer der Verstorbene gewesen ist. Und damit gerät sie in eine ebenso ungeheuerliche wie geheimnisvolle Geschichte, die ihr gewohntes Leben völlig durcheinander rüttelt.
Eigentlich will Isabelle nur für ein paar unbeschwerte Tage in den Urlaub nach Italien fliegen. Doch dann bricht der ältere Herr, der ihr am Bahnhof zum Flughafen freundlicherweise den Koffer zu den Gleisen hinaufträgt, plötzlich tot zusammen. An Urlaub ist daraufhin für Isabelle nicht mehr zu denken. Denn nicht nur fühlt sie sich unschuldig schuldig an dem Tod des Unbekannten, sondern sie möchte auch unbedingt herausfinden, wer der Verstorbene gewesen ist. Und damit gerät sie in eine ebenso ungeheuerliche wie geheimnisvolle Geschichte, die ihr gewohntes Leben völlig durcheinander rüttelt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2014Der Verdingbub
Ein Schweizer Lebensrätsel: Franz Hohlers Roman „Gleis 4“
Die Leserinnen seien gewarnt: Falls Ihnen demnächst ein freundlicher Herr am Bahnsteig mit dem Gepäck behilflich sein will, sollten Sie besser noch einmal innehalten und sich an Isabelle, die Protagonistin in Franz Hohlers jüngstem Roman, erinnern. Die, gerade von einer Gallenoperation genesend und auf dem Weg in den Italien-Urlaub, nimmt am Zürcher Hauptbahnhof das Angebot eines älteren Mannes an, ihren Koffer zum Gleis zu tragen. „Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden.“ Der hilfsbereite Mann nämlich überlebt die galante Geste nicht. Er erleidet vor ihren Augen einen tödlichen Herzinfarkt, und damit beginnt auch schon der ganze Schlamassel.
Nicht nur, dass Isabelle ihren Zug verpasst. Die Nichtsahnende wird von der Polizei ausführlich befragt. Und im Trubel der Ereignisse kommt sie schließlich – als hätte sie durch das letzte Wort des Mannes, das „Bitte“ lautete, einen moralischen Auftrag empfangen – an das Handy des Toten. Das beginnt auch prompt zu klingeln, als sie wieder zu Hause ist. Ein unwirscher Mann am anderen Ende der Leitung macht unmissverständlich klar, dass er auf den Verstorbenen, den er noch unter den Lebenden wähnt, nicht gut zu sprechen ist. Immer wieder ruft er an und stößt dabei Drohungen gegen die Unbeteiligte aus.
Natürlich wecken solche Anrufe eher die Neugier, als dass sie einen vor weiterem Tatendrang bewahren. Man möchte ja wissen, in welche Zwistigkeiten man unverschuldet hineingezogen wird. Und so kommt eins zum andern: Isabelle, die Stationsleiterin eines Altenheims, nutzt ihre Urlaubstage nicht zur Rekonvaleszenz, sondern kümmert sich um die Witwe der Bahnsteigbekanntschaft, die aus Kanada anreist. Und gerät in ein fremdes Leben, das erst posthum all seine Rätsel offenbart.
Der Verstorbene mit Namen Martin Blancpain stammte nämlich aus der Schweiz, hieß einst Marcel Wyssbrod und gelangte vor Jahrzehnten illegal nach Kanada. Nicht einmal seiner Frau hatte er diese Geschichte anvertraut, und so macht sich das Duo, unterstützt von Isabelles Jura studierender Tochter, mit detektivischer Hartnäckigkeit auf die Suche nach dem vormaligen Leben des Mannes von Gleis 4.
Franz Hohler, der in der Schweiz als Kabarettist mindestens so bekannt ist wie als Autor zahlreicher Romane, Hörspiele und Kinderbücher, erzählt in einem ruhigen, angenehm zurückgenommenen, gemächlichen Ton. Glaubt man zunächst, er inszeniere ein kurioses, literarisches Gedankenspiel über die Rolle des Zufalls in einer durchrationalisierten Welt, fühlt man sich zwischenzeitlich in einen Kriminalroman versetzt, um am Ende bei einem Kapitel unrühmlicher Schweizer Sozialpolitik zu landen: Marcel nämlich wurde als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen und als Verdingbub einer Bauernfamilie anvertraut, in der es rabiat zuging.
Es sind die Vierziger-, Fünfzigerjahre, und die waren auch in der Schweiz keine gute Zeit für alternative Lebensentwürfe. Der Junge wurde damals nicht nur fortdauernd schikaniert, sondern auch eines schlimmen Vergehens bezichtigt, was die Einweisung in ein Erziehungsheim nach sich zog – keine Anstalt, in der sich ein Kind liebevoll aufgenommen fühlen konnte. Marcel hielt das Heim, das seinen Gefängnischarakter kaum kaschierte, nicht aus. Ihm gelang die Flucht; er heuerte als Seemann an, schaffte es bis nach Montreal, wurde Schiffskapitän und heiratete. Seine Vergangenheit aber ließ ihn verständlicherweise niemals los.
Franz Hohler beschreibt das mit großer Sensibilität für das Unrecht, das dem Jungen widerfahren ist. Und er erzählt mit entlarvendem Gespür für die Absurditäten des sehr gründlichen Schweizer Amtswesens. Im Laufe dieses Romans drängt sich der aufklärerische, sozialkritische Aspekt seiner Geschichte allerdings ein wenig zu stark in den Vordergrund – da bleibt nicht mehr allzu viel Raum für ein literarisches Geheimnis. Aber das große Geheimnis eines gestohlenen und dann doch noch gelebten Lebens bleibt, und es kommt in diesem Roman zu seinem Recht.
ULRICH RÜDENAUER
Franz Hohler: Gleis 4.
Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 220 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Schweizer Lebensrätsel: Franz Hohlers Roman „Gleis 4“
Die Leserinnen seien gewarnt: Falls Ihnen demnächst ein freundlicher Herr am Bahnsteig mit dem Gepäck behilflich sein will, sollten Sie besser noch einmal innehalten und sich an Isabelle, die Protagonistin in Franz Hohlers jüngstem Roman, erinnern. Die, gerade von einer Gallenoperation genesend und auf dem Weg in den Italien-Urlaub, nimmt am Zürcher Hauptbahnhof das Angebot eines älteren Mannes an, ihren Koffer zum Gleis zu tragen. „Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden.“ Der hilfsbereite Mann nämlich überlebt die galante Geste nicht. Er erleidet vor ihren Augen einen tödlichen Herzinfarkt, und damit beginnt auch schon der ganze Schlamassel.
Nicht nur, dass Isabelle ihren Zug verpasst. Die Nichtsahnende wird von der Polizei ausführlich befragt. Und im Trubel der Ereignisse kommt sie schließlich – als hätte sie durch das letzte Wort des Mannes, das „Bitte“ lautete, einen moralischen Auftrag empfangen – an das Handy des Toten. Das beginnt auch prompt zu klingeln, als sie wieder zu Hause ist. Ein unwirscher Mann am anderen Ende der Leitung macht unmissverständlich klar, dass er auf den Verstorbenen, den er noch unter den Lebenden wähnt, nicht gut zu sprechen ist. Immer wieder ruft er an und stößt dabei Drohungen gegen die Unbeteiligte aus.
Natürlich wecken solche Anrufe eher die Neugier, als dass sie einen vor weiterem Tatendrang bewahren. Man möchte ja wissen, in welche Zwistigkeiten man unverschuldet hineingezogen wird. Und so kommt eins zum andern: Isabelle, die Stationsleiterin eines Altenheims, nutzt ihre Urlaubstage nicht zur Rekonvaleszenz, sondern kümmert sich um die Witwe der Bahnsteigbekanntschaft, die aus Kanada anreist. Und gerät in ein fremdes Leben, das erst posthum all seine Rätsel offenbart.
Der Verstorbene mit Namen Martin Blancpain stammte nämlich aus der Schweiz, hieß einst Marcel Wyssbrod und gelangte vor Jahrzehnten illegal nach Kanada. Nicht einmal seiner Frau hatte er diese Geschichte anvertraut, und so macht sich das Duo, unterstützt von Isabelles Jura studierender Tochter, mit detektivischer Hartnäckigkeit auf die Suche nach dem vormaligen Leben des Mannes von Gleis 4.
Franz Hohler, der in der Schweiz als Kabarettist mindestens so bekannt ist wie als Autor zahlreicher Romane, Hörspiele und Kinderbücher, erzählt in einem ruhigen, angenehm zurückgenommenen, gemächlichen Ton. Glaubt man zunächst, er inszeniere ein kurioses, literarisches Gedankenspiel über die Rolle des Zufalls in einer durchrationalisierten Welt, fühlt man sich zwischenzeitlich in einen Kriminalroman versetzt, um am Ende bei einem Kapitel unrühmlicher Schweizer Sozialpolitik zu landen: Marcel nämlich wurde als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen und als Verdingbub einer Bauernfamilie anvertraut, in der es rabiat zuging.
Es sind die Vierziger-, Fünfzigerjahre, und die waren auch in der Schweiz keine gute Zeit für alternative Lebensentwürfe. Der Junge wurde damals nicht nur fortdauernd schikaniert, sondern auch eines schlimmen Vergehens bezichtigt, was die Einweisung in ein Erziehungsheim nach sich zog – keine Anstalt, in der sich ein Kind liebevoll aufgenommen fühlen konnte. Marcel hielt das Heim, das seinen Gefängnischarakter kaum kaschierte, nicht aus. Ihm gelang die Flucht; er heuerte als Seemann an, schaffte es bis nach Montreal, wurde Schiffskapitän und heiratete. Seine Vergangenheit aber ließ ihn verständlicherweise niemals los.
Franz Hohler beschreibt das mit großer Sensibilität für das Unrecht, das dem Jungen widerfahren ist. Und er erzählt mit entlarvendem Gespür für die Absurditäten des sehr gründlichen Schweizer Amtswesens. Im Laufe dieses Romans drängt sich der aufklärerische, sozialkritische Aspekt seiner Geschichte allerdings ein wenig zu stark in den Vordergrund – da bleibt nicht mehr allzu viel Raum für ein literarisches Geheimnis. Aber das große Geheimnis eines gestohlenen und dann doch noch gelebten Lebens bleibt, und es kommt in diesem Roman zu seinem Recht.
ULRICH RÜDENAUER
Franz Hohler: Gleis 4.
Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 220 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.
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