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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2008

Dann ist die Moderne also doch nicht gut?

Goethes berühmtestes Drama gilt gemeinhin als Affirmation des Fortschritts. Michael Jaeger unternimmt nun eine konservative, verblüffende Revolution des Faust-Bildes.

Zweihundert Jahre nach dem Erscheinen von Goethes "Faust. Der Tragödie erster Teil" inspiriert ein schmales, aufregendes Buch von Michael Jaeger dazu, das berühmteste Drama der deutschen Literatur neu zu verstehen. "Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart" ist ein vielfach einleuchtender, glänzend geschriebener Essay. Der stilistische Glanz verführt freilich dazu, manche Fragwürdigkeiten zu verkennen.

Als Prototyp des modernen, emanzipierten Subjekts wurde Goethes Faust lange Zeit bewundert: vorwärtsgerichtet in seinem Wissensdurst, tatkräftig und leidenschaftlich, selbstbewusst trotz aller melancholischen Zweifel und Verzweiflungsanfälle, vorbildlich in seinem rastlosen Drang nach Vervollkommnung, auch wenn er selbst und andere darunter zu leiden haben. Eine tragische, schuldige Figur zwar, aber eben doch ein Held, mit dem man sich identifizieren kann. Das Vergehen, das er auf Tod und Teufel vermeiden möchte, ist der Stillstand: "Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, / So sei es gleich um mich getan!" Im zweiten Teil, den Goethe unter dem Eindruck der Pariser Julirevolution von 1830 vollendete, gleicht sich Fausts Bewegungsdrang den ökonomisch-sozialen Ideen einer neuen Epoche an. Er agiert als Wasserbauingenieur, als, wie Jaeger formuliert, "energisch-rastloser Unternehmer einer weltweit operierenden Handelsgesellschaft - gleichsam als früher ,global player' - und zuletzt als Raum- und Staatsplaner".

Als Faust mit seinem Projekt der Naturbeherrschung und Gesellschaftsordnung auf "freiem Grund mit freiem Volke" im Vorgefühl des Gelingens den höchsten Augenblick genießt, umgehend stirbt und die Wette mit Mephisto eigentlich verloren hat, wird seine Seele von den Engeln gerettet. "Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen." Der Mann mag Fehler gemacht haben, sogar große, aber die Strafe der Hölle verdient er nicht.

Wer Goethes "Faust" so liest, der irrt und hat die Botschaft, die der Autor vermitteln wollte, missverstanden. Das zumindest versucht Jaeger uns plausibel zu machen. Die Worte der Engel: pure Ironie, die Fausts profanem Selbst- und Welterlösungsvorhaben eine spirituelle Erlösung entgegensetzt. Und die ist seinem eigenen Willen entzogen. Die Utopie der Naturbeherrschung, des Dammbaus und der Trockenlegung von Sümpfen: der Versuch ihrer Realisierung geht über Leichen. Zwei alte, freundliche, einfache und fromme Menschen, Philemon und Baucis, Repräsentanten vormoderner Zeit, sind ihre Opfer. Fausts Zukunftsvision vom freien Volk auf freiem Grund: eine Illusion. Die Schaufeln, die er klirren hört und mit denen Arbeiter den Wellen des Meeres Grenzen zu setzen scheinen, bereiten ihm das Grab. Fausts Blindheit: kein Attribut eines Sehers, sondern das der Verblendung und Ignoranz gegenüber jenen kontemplativen, spirituellen und mystischen Angeboten, die nicht nur die Schlussverse des Dramas bereithalten.

Für Jaeger ist Goethes Figur, im Bunde mit dem Teufel, die Verkörperung aller negativen Aspekte jener gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die der Weimarer in den sechzig Jahren seiner Arbeit an den beiden Tragödienteilen als tiefgreifenden Epochenbruch erfahren hat, die ihm hochgradig suspekt waren und deren destruktive Folgen erst heute richtig sichtbar werden. Der Held ist eine "veritable Unglücksfigur, die die Negation der gesamten Philosophie Goethes und aller seiner Zivilisationsideale personifiziert". Das Verbot der Ruhe und des Verweilens, das sich Faust auferlegt, ist eine pathologische Verirrung, spiegelt den Kult der Geschwindigkeit und der rastlosen Innovation in der Moderne, die Entwertung des Gegenwärtigen und Vorhandenen zugunsten der Attraktivität zukünftiger Möglichkeiten, den Wechsel von Bildern und Sensationen. Es ist Abbild eines "phobisch angetriebenen Konsumrausches", der nichts mehr fürchtet als die Ruhe und dem nichts mehr verhasst ist als die Geduld.

Fausts "Fluch vor allem der Geduld" verkehrt sich in der faustfernen Perspektive Goethes oder zumindest seines Interpreten Jaeger zu einem Fluch auf eine für die Moderne charakteristische Ungeduld, zu einem Plädoyer für Entschleunigung, für kontemplative Ruhe in Traditionen der Mystik, für Winkelmanns Ideal des stillen, verweilenden, zu sich selbst kommenden Bewusstseins im Anblick des Schönen, für antike Übungen zum Erfassen glücksbringender Gelegenheiten. So ganz neu und überraschend ist Michael Jaegers Lesart des "Faust" allerdings nicht. Die intensiven Moderne- und Postmoderne-Debatten der 1980er Jahre, in denen Sten Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" ein zeitsymptomatisches Schlagwort lieferte, haben auch in der Faust-Forschung Spuren hinterlassen. Zahlreiche Anregungen verdankt der Essay dem 1999 erschienenen Lehrbuch über "Goethes Faust" von Jochen Schmidt. Der Freiburger Literaturwissenschaftler hatte eine 2002 publizierte Dissertation von Richard Meier über die "Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken" inspiriert und wohl ebenso Manfred Ostens ein Jahr später mit großer Resonanz aufgenommenem Essay über Goethes modernisierungskritische Entdeckung der Langsamkeit. Sie alle greifen, wie jüngst noch Martin Walsers Roman "Ein liebender Mann", auf Goethes Wortschöpfung "veloziferisch" zurück, die gewitzte Zusammenfügung von Velocitas (Schnelligkeit) und Luzifer in den "Maximen und Reflexionen". Als das "größte Unheil unserer Zeit" wird dort beklagt, dass "alles luziferisch" zugeht.

Michael Jaeger selbst hat die Thesen seines Essays bereits vor vier Jahren in seiner Habilitationsschrift "Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne" dargelegt und wurde dafür sowohl im Feuilleton als auch in literaturwissenschaftlichen Rezensionsorganen hoch gelobt. Die freiere Form des Essays erlaubte es ihm, sein Anliegen noch pointierter zu artikulieren und einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren.

Fausts Plan zur Schöpfung einer zweiten, zukünftigen Welt, deren neu konstruierte Realität das Produkt industrieller Arbeit sein soll, finde heute "in den allgegenwärtigen Artefakten der Medien-, Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie" seine Erfüllung. Der Drei-Schluchten-Staudamm in China sei "ohne Zweifel ein Musterbeispiel für den faustisch-modernen Aktivismus" und symbolisiere seine sozialistischen wie kapitalistischen Ausprägungen. "Faust", so wird in diesem Essay nun noch deutlicher, fungiert als Bibel für eine kulturkritische Abrechnung mit der Moderne in der Gegenwart, Goethe als Gott oder Prophet mit "prognostischen Qualitäten", seine "klassische Philosophie" als Heilslehre mit therapeutischen Anleitungen zum Glücklichsein im pathologischen Unglück der Moderne.

Wie sehr sich Jaeger damit problematischen Traditionen antimoderner Kulturkritik nähert, die sich immer gerne auf Goethe berief, scheint ihm bewusst zu sein. Drei Zeilen deuten eine differenzierte Einschätzung des Moderneprojekts an: "Sosehr wir auch heute allen Anlaß haben, die enormen (Aufbau-)Leistungen der Moderne und die emanzipatorischen Errungenschaften ihrer konstruktivistischen Utopien zu bewundern ..." Im ganzen Essay ist davon nie mehr die Rede, nur noch vom krankhaften Unheil, das die Moderne angerichtet hat.

Auf die fatale Wirkungsgeschichte von Goethes kulturdiagnostischem Gebrauch der Begriffe "gesund" und "krank", der sich vor allem, aber nicht nur gegen die Romantik richtete, geht Jaeger nicht ein. Auf sie berief sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Goethe-Verehrer Max Nordau in seinem einflussreichen Erfolgsbuch "Entartung". Der Titel, mit dem der Kulturkritiker die jüngste Kultur seiner Gegenwart pathologisierte, lieferte den Nationalsozialisten das Stichwort im Kampf gegen die moderne Kunst. In den Dekadenz-Verdikten, mit denen die literarische Moderne im Namen eines sozialistischen Realismus angefeindet wurde, fand er seine Entsprechung.

Um die Romantik und um die Kunst der Moderne geht es in Jaegers Moderne-Kritik zwar nur beiläufig; aber die medizinisch grundierte Metaphorik und Argumentation in der Kritik an den Modernisierungssymptomen, die ihn interessieren, ist die gleiche. Sie beruft sich auf Goethe, allerdings auf fragwürdige Weise. Goethes Krisen- und Krankheitsbegriff und damit auch seine Einschätzung der krisenhaften Moderne in Kunst und Gesellschaft waren weit vielschichtiger, als es die diejenigen wahrhaben wollten, die sich der Autorität seiner Urteile in kulturkritischer Absicht bedienten. Schon die zentrale Bedeutung pathologischer Motive in seinem Werk und die lange Reihe kranker Figuren, denen der Autor viel Sympathie entgegenbrachte - Werther, Tasso, Orest, Mignon, der Harfner, Ottilie -, hätten ihnen zu denken geben müssen. Denn durchaus ähnlich wie seine romantischen Zeitgenossen wertete Goethe Krankheiten positiv auf, indem er sie zur Bedingung einer differenzierten Form der Gesundheit erklärte. Individuelle Bildungs- und kulturelle Evolutionsprozesse werden aus seiner Sicht durch Krisen und Krankheiten entscheidend gefördert.

Jaeger kommt gelegentlich nicht umhin, sich auf Mephistos Einsichten zu berufen. Auch im Umgang mit dem Begriff der Moderne, die er wiederholt "irrational" nennt und der er Goethes Aufgeklärtheit entgegensetzt, als ob die Aufklärung nicht zur Moderne gehörte, verstrickt er sich in Widersprüche. Der Blick auf Goethes "Faust" wird in diesem Essay durch das kulturkritische Anliegen seines Interpreten immer wieder verzerrt. Die Lektüre lohnt sich trotzdem. Auch weil sie auf Vorzüge einer Literaturwissenschaft verweist, die nicht darum bemüht ist, sich ihre Untersuchungsgegenstände in theoretisch oder historisch distanzierter Beobachtung möglichst weit vom Leibe zu halten. Eine solche Literaturwissenschaft muss nicht gleich zu ihren theologischen Ursprüngen zurückkehren, indem sie literarische Texte zu heiligen Schriften verklärt, von deren Auslegung das Heil des Einzelnen und der Welt abhängt. Aber sie mag zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur der Vergangenheit uns gegenwärtig existentiell betreffen kann. Und dass es ein Gewinn ist, über sie zu streiten. Dies ist Michael Jaeger gelungen.

THOMAS ANZ

Michael Jaeger: "Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes". Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 2008. 134 S., geb., 18,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Richtig aufregend findet Thomas Anz diese Lektüre. Wie sollte er auch nicht, schließlich geht es darum, Goethes "Faust" einer Revision zu unterziehen und das in einem pointiert und in blitzendem Stil verfassten Essay. Aufmerksam folgt Anz Michael Jaegers Auslegung und stellt mit dem Autor und in Erinnerung an die Moderne- und Postmoderne-Debatten der 80er und Jochen Schmidts "Faust"-Lehrbuch fest: Faust ist ein wahrhaft Unglücklicher, Inkarnation sämtlicher negativen Momente der Moderne und Goethes Anliegen eine Abrechnung mit derselben. So weit, so toll. Doch dann sieht sich der Rezensent mit Widersprüchen konfrontiert, die ihn an die Problematik antimoderner Kulturkritik gemahnen und an die Vielschichtigkeit von Goethes Begriff der Moderne. Ein "Plädoyer für Entschleunigung", findet er, hat darin Platz, aber auch eine Sympathie fürs Pathologische. Auf einmal erscheint Anz des Autors Blick auf den "Faust" nicht mehr ganz so lupenrein, subjektiv kulturkritisch verzerrt in etwa. Doch darüber, so schließt der Rezensent versöhnlich, lässt sich trefflich streiten.

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