Studieren im Ausland: humanitäre Krisen, Solidarität und die Formierung eines globalen Handlungsfelds.Studieren im Ausland ist heute scheinbar normal. Die meisten Programme versehen dies dabei mit dem Auftrag, internationale Verständigung zu fördern. Isabella Löhr analysiert, wie diese Verbindung von Bildungsmobilität und Verständigung im Verlauf des Ersten Weltkriegs entstand. Die Europäische Studentenhilfe war eine aus der studentischen Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts kommende humanitäre Organisation, die ab 1920 in den Universitätsstädten im östlichen Europa tätig wurde. Sie verband Bildungsmobilität mit humanitärer Hilfe und transformierte studentische Mobilität in ein gesellschaftspolitisches Sujet, das innerhalb weniger Jahre zu einem Gegenstand bildungspolitischer Interventionen auf globaler Ebene aufrückte. Die humanitäre Sorge für Studierende diente nach dem Krieg als Modell für eine Verständigungspolitik, die ein Denken in Kategorien von Nation, Minderheiten und Rasse/race als großes Problem der Zeit ansah und das Ideal einer globalen studentischen Gemeinschaft als Lösung propagierte. Ein wesentliches Element der modernen Universitätsausbildung - Mobilität für den Wissenserwerb - wurde damit von religiösen und humanitären Handlungslogiken und Weltsichten geprägt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jürgen Osterhammel hätte sich eine etwas lebendigere Darstellung akademischer Mobilität gewünscht. Isabella Löhrs Buch als Ableger einer Habilschrift macht Osterhammel dagegen das Leben schwer mit Ausführungen zum Forschungsstand. Dennoch hält der Band für den Rezensenten aber interessante Einsichten bereit. In die Ursprünge gelehrter Austausch- und Reisetätigkeit vor dem ersten Weltkrieg, die Zusammenhänge zwischen "Bildungstourismus", Wirtschaft und Kommunikation sowie die Anwerbungsversuche christlicher Organisationen. Dass Akademiker bald wieder fröhlich reisen dürfen, kann der Rezensent nur hoffen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2022Es ging um mehr als die Steigerung des eigenen Marktwerts
Keine studentische Selbsthilfe ohne christliche Mission: Isabella Löhr beschreibt, wie akademische Auslandsaufenthalte zur Normalität wurden
Bis zur Corona-Pandemie war es für Studentinnen und Studenten selbstverständlich zu "migrieren". Sie wechselten den Studienort im eigenen Land, absolvierten Erasmus-Semester und machten Abschlüsse im Ausland. Manche verfolgten dort ihre weiteren Karrieren und gliederten sich in Arbeitsmarkt und Wissenschaftssystem der neuen Heimat ein. All dies dürfte bald wieder möglich sein. Kaum ein anderer Bereich der Weltgesellschaft war und bleibt mobiler als Universitätserziehung und Wissenschaft.
Gelehrte waren immer schon unterwegs. Wann aber wurde studentische Mobilität zu einem Massenphänomen? Isabella Löhr lenkt den Blick auf die vier Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. In einer Epoche wirtschaftlichen Wachstums und neuer Verkehrs- und Kommunikationstechnologien nahm die Zahl der Auswandernden dramatisch zu. Westeuropäer strömten nach Nordamerika und Russland, Inder in die britische Karibik, Chinesen nach Nordostasien und an die amerikanische Westküste. Zu dieser neuen Migrationslandschaft gehörten auch Studierende. Ihre Ziele waren nicht Fabriken, Farmen oder Plantagen, sondern Universitäten. Anders als Handwerker, Dienstmägde oder landwirtschaftliche "Kulis" machten sie sich nicht zu Hunderttausenden oder gar Millionen auf den Weg. "Massenphänomen" kann bei Elitenmigration nur heißen, dass ein akademischer Auslandsaufenthalt erstmals zu einer attraktiven und realisierbaren Option wurde.
In einer Epoche, in der nur wenige Menschen einen Lebensabschnitt an Universitäten verbrachten, bildeten die im Ausland Studierenden eine Minderheit innerhalb der Minderheit der Gebildeten und Bildungssuchenden. Im Unterschied zu den jungen Adligen, die sich im achtzehnten Jahrhundert samt ihren Hofmeistern auf eine individuell entworfene Grand Tour begeben hatten, waren die mobilen Studenten - vorwiegend Männer - um 1900 keine frei schweifenden Bildungstouristen. Sie profitierten von neuen Ermöglichungsstrukturen. Regierungen in unabhängigen Ländern ebenso wie in manchen Kolonien betrieben eine Politik der externen Nachwuchsqualifizierung. Begabte junge Leute wurden in die wissenschaftlichen Zentren Europas und Nordamerikas entsandt, um die Jahrhundertwende auch von China nach Japan. Nach einigen Jahren sollten sie, das wurde erwartet, als "returned students" ihren Heimatländern nützlich sein, vorzugsweise im Staatsdienst.
Umgekehrt wurden Studieninteressierte angeworben. Darin sah die christliche Mission eine vielversprechende neue Strategie: Während weiterhin Missionare in die Gefilde des "Heidentums" entsandt wurden, sprach umgekehrt einiges dafür, potentielle Konvertiten in die christlichen Länder zu holen und dort für den Glauben zu gewinnen. Dies wurde erleichtert, wenn christliche - in diesem Buch geht es um protestantische - Empfangsorganisationen sich um die Ankömmlinge kümmerten.
Die Geschichte, die Isabella Löhr aus den Quellen rekonstruiert hat, beginnt mit dieser Nähe von christlicher Mission und studentischer Selbsthilfe. Beide beruhten auf universalistischen Grundlagen: einerseits der Idee der Gleichheit aller Menschen oder zumindest aller Gläubigen, andererseits der Vorstellung von der weltweiten Maßstäblichkeit der aufstrebenden Wissenschaft und überhaupt des modernen Denkens, wie es von Europa in die Welt ausstrahlte. Dieser doppelte Universalismus stand im Widerspruch zu den hierarchischen Realitäten im Zeitalter des Imperialismus: Man zog von der "rückständigen" Peripherie in die "fortschrittlichen" Metropolen. Verdeckt wurde diese Spannung allerdings durch die Bedeutung von universitärer Bildung als "Ressource im globalen Wettbewerb". Auch Gegnern des Kolonialismus konnte die Aneignung westlichen Wissens nichts schaden.
Der Erste Weltkrieg zerriss keineswegs die in der Belle Époque gesponnenen Fäden unter der protestantischen Jugend aller Kontinente. Die studentischen Organisationen, allen voran der 1895 gegründete Christliche Studentenweltbund, verweigerten den nationalen Amtskirchen dort die Gefolgschaft, wo diese sich in den Dienst eines militarisierten Patriotismus stellten. Im Krieg entstand eine weithin autonome protestantische Studentenbewegung. Lokale Initiativen wurden wichtiger als zentral gesteuerte Missionsstrategien. Die konkrete Nothilfe, konfessions- und nationsübergreifend angelegt, ließ keinen Raum für theologische Visionen.
Während eines "langen" Weltkriegs, der sich über den Herbst 1918 hinaus in eine mehrjährige Phase von Revolutionen und Bürgerkriegen fortsetzte, gab es an mehreren Stellen der Welt, etwa in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten, gestrandete und materiell bedürftige Studierende, manche von ihnen sogar staatenlos. Das Sammeln von Spenden und ihre Verteilung wurden wichtiger als die Sorge um das Seelenheil. Als 1925, am Ende der langen Erschütterungsperiode, das Weltstudentenwerk gegründet wurde, hatte sich ein karitativer Internationalismus von seinen religiösen Ursprüngen weit entfernt.
Abermals eine jener Säkularisierungsgeschichten, die in der Geschichtsschreibung oft mit Skepsis betrachtet werden? Ja, aber eine solide untermauerte. Isabella Löhr zeigt, wie im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus einer Glaubensgemeinschaft imperialer Führungskräfte ein Bottom-up-Netzwerk von Studierenden wurde. Es blieb zwar elitär, wandte sich aber gegen Nationalismus und Imperialismus und verpflichtete sich auf Solidarität, Frieden und internationale Verständigung. Bildungsmobilität sollte höheren Zwecke dienen als bloß der Selbstverwirklichung, der Steigerung des eigenen Marktwerts oder der Stärkung der Herkunftsnation.
Das Buch hat sich der Spuren seiner Entstehung als historische Habilitationsschrift nicht ganz entledigt. Ausführliche Diskussionen des Forschungsstandes, gewiss nützlich für Fachleute, machen die Lektüre zuweilen mühsam. Am Ende ist doch mehr Organisations- und Programmgeschichte herausgekommen, als beabsichtigt war. Vielleicht liegt das daran, dass Briefe und Tagebücher von Studierenden selten den Weg in die Archive finden. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Isabella Löhr: "Globale Bildungsmobilität 1850 -1930". Von der Bekehrung der Welt zur globalen studentischen Gemeinschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 413 S., geb., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keine studentische Selbsthilfe ohne christliche Mission: Isabella Löhr beschreibt, wie akademische Auslandsaufenthalte zur Normalität wurden
Bis zur Corona-Pandemie war es für Studentinnen und Studenten selbstverständlich zu "migrieren". Sie wechselten den Studienort im eigenen Land, absolvierten Erasmus-Semester und machten Abschlüsse im Ausland. Manche verfolgten dort ihre weiteren Karrieren und gliederten sich in Arbeitsmarkt und Wissenschaftssystem der neuen Heimat ein. All dies dürfte bald wieder möglich sein. Kaum ein anderer Bereich der Weltgesellschaft war und bleibt mobiler als Universitätserziehung und Wissenschaft.
Gelehrte waren immer schon unterwegs. Wann aber wurde studentische Mobilität zu einem Massenphänomen? Isabella Löhr lenkt den Blick auf die vier Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. In einer Epoche wirtschaftlichen Wachstums und neuer Verkehrs- und Kommunikationstechnologien nahm die Zahl der Auswandernden dramatisch zu. Westeuropäer strömten nach Nordamerika und Russland, Inder in die britische Karibik, Chinesen nach Nordostasien und an die amerikanische Westküste. Zu dieser neuen Migrationslandschaft gehörten auch Studierende. Ihre Ziele waren nicht Fabriken, Farmen oder Plantagen, sondern Universitäten. Anders als Handwerker, Dienstmägde oder landwirtschaftliche "Kulis" machten sie sich nicht zu Hunderttausenden oder gar Millionen auf den Weg. "Massenphänomen" kann bei Elitenmigration nur heißen, dass ein akademischer Auslandsaufenthalt erstmals zu einer attraktiven und realisierbaren Option wurde.
In einer Epoche, in der nur wenige Menschen einen Lebensabschnitt an Universitäten verbrachten, bildeten die im Ausland Studierenden eine Minderheit innerhalb der Minderheit der Gebildeten und Bildungssuchenden. Im Unterschied zu den jungen Adligen, die sich im achtzehnten Jahrhundert samt ihren Hofmeistern auf eine individuell entworfene Grand Tour begeben hatten, waren die mobilen Studenten - vorwiegend Männer - um 1900 keine frei schweifenden Bildungstouristen. Sie profitierten von neuen Ermöglichungsstrukturen. Regierungen in unabhängigen Ländern ebenso wie in manchen Kolonien betrieben eine Politik der externen Nachwuchsqualifizierung. Begabte junge Leute wurden in die wissenschaftlichen Zentren Europas und Nordamerikas entsandt, um die Jahrhundertwende auch von China nach Japan. Nach einigen Jahren sollten sie, das wurde erwartet, als "returned students" ihren Heimatländern nützlich sein, vorzugsweise im Staatsdienst.
Umgekehrt wurden Studieninteressierte angeworben. Darin sah die christliche Mission eine vielversprechende neue Strategie: Während weiterhin Missionare in die Gefilde des "Heidentums" entsandt wurden, sprach umgekehrt einiges dafür, potentielle Konvertiten in die christlichen Länder zu holen und dort für den Glauben zu gewinnen. Dies wurde erleichtert, wenn christliche - in diesem Buch geht es um protestantische - Empfangsorganisationen sich um die Ankömmlinge kümmerten.
Die Geschichte, die Isabella Löhr aus den Quellen rekonstruiert hat, beginnt mit dieser Nähe von christlicher Mission und studentischer Selbsthilfe. Beide beruhten auf universalistischen Grundlagen: einerseits der Idee der Gleichheit aller Menschen oder zumindest aller Gläubigen, andererseits der Vorstellung von der weltweiten Maßstäblichkeit der aufstrebenden Wissenschaft und überhaupt des modernen Denkens, wie es von Europa in die Welt ausstrahlte. Dieser doppelte Universalismus stand im Widerspruch zu den hierarchischen Realitäten im Zeitalter des Imperialismus: Man zog von der "rückständigen" Peripherie in die "fortschrittlichen" Metropolen. Verdeckt wurde diese Spannung allerdings durch die Bedeutung von universitärer Bildung als "Ressource im globalen Wettbewerb". Auch Gegnern des Kolonialismus konnte die Aneignung westlichen Wissens nichts schaden.
Der Erste Weltkrieg zerriss keineswegs die in der Belle Époque gesponnenen Fäden unter der protestantischen Jugend aller Kontinente. Die studentischen Organisationen, allen voran der 1895 gegründete Christliche Studentenweltbund, verweigerten den nationalen Amtskirchen dort die Gefolgschaft, wo diese sich in den Dienst eines militarisierten Patriotismus stellten. Im Krieg entstand eine weithin autonome protestantische Studentenbewegung. Lokale Initiativen wurden wichtiger als zentral gesteuerte Missionsstrategien. Die konkrete Nothilfe, konfessions- und nationsübergreifend angelegt, ließ keinen Raum für theologische Visionen.
Während eines "langen" Weltkriegs, der sich über den Herbst 1918 hinaus in eine mehrjährige Phase von Revolutionen und Bürgerkriegen fortsetzte, gab es an mehreren Stellen der Welt, etwa in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten, gestrandete und materiell bedürftige Studierende, manche von ihnen sogar staatenlos. Das Sammeln von Spenden und ihre Verteilung wurden wichtiger als die Sorge um das Seelenheil. Als 1925, am Ende der langen Erschütterungsperiode, das Weltstudentenwerk gegründet wurde, hatte sich ein karitativer Internationalismus von seinen religiösen Ursprüngen weit entfernt.
Abermals eine jener Säkularisierungsgeschichten, die in der Geschichtsschreibung oft mit Skepsis betrachtet werden? Ja, aber eine solide untermauerte. Isabella Löhr zeigt, wie im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus einer Glaubensgemeinschaft imperialer Führungskräfte ein Bottom-up-Netzwerk von Studierenden wurde. Es blieb zwar elitär, wandte sich aber gegen Nationalismus und Imperialismus und verpflichtete sich auf Solidarität, Frieden und internationale Verständigung. Bildungsmobilität sollte höheren Zwecke dienen als bloß der Selbstverwirklichung, der Steigerung des eigenen Marktwerts oder der Stärkung der Herkunftsnation.
Das Buch hat sich der Spuren seiner Entstehung als historische Habilitationsschrift nicht ganz entledigt. Ausführliche Diskussionen des Forschungsstandes, gewiss nützlich für Fachleute, machen die Lektüre zuweilen mühsam. Am Ende ist doch mehr Organisations- und Programmgeschichte herausgekommen, als beabsichtigt war. Vielleicht liegt das daran, dass Briefe und Tagebücher von Studierenden selten den Weg in die Archive finden. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Isabella Löhr: "Globale Bildungsmobilität 1850 -1930". Von der Bekehrung der Welt zur globalen studentischen Gemeinschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 413 S., geb., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Abermals eine jener Säkularisierungsgeschichten, die die in der Geschichtsschreibung oft mit Skepsis betrachtet werden? Ja, aber eine solide untermauerte.« (Jürgen Osterhammel, FAZ, 04.03.2022) »Einladung und Wegweiser zugleich« (Marino Ferri, H-Soz-Kult, 17.03.2022)