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Das deutsche Kaiserreich und die Globalisierung
Die Globalisierung ist kein neues Phänomen. Vor allem die Zeit zwischen etwa 1880 und dem Ersten Weltkrieg kann als eine frühe Hochphase der Globalisierung verstanden werden. Sebastian Conrad zeigt, daß die besondere Form des Nationalismus, wie sie sich vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich herausgebildet hat, nicht nur aus der deutschen Geschichte heraus, sondern auch als Reaktion auf die globalen Vernetzungen der Zeit verstanden werden muß.
Dieses Buch untersucht den Einfluß der Globalisierung auf das Deutsche Kaiserreich. Ab etwa
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Produktbeschreibung
Das deutsche Kaiserreich und die Globalisierung

Die Globalisierung ist kein neues Phänomen. Vor allem die Zeit zwischen etwa 1880 und dem Ersten Weltkrieg kann als eine frühe Hochphase der Globalisierung verstanden werden. Sebastian Conrad zeigt, daß die besondere Form des Nationalismus, wie sie sich vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich herausgebildet hat, nicht nur aus der deutschen Geschichte heraus, sondern auch als Reaktion auf die globalen Vernetzungen der Zeit verstanden werden muß.

Dieses Buch untersucht den Einfluß der Globalisierung auf das Deutsche Kaiserreich. Ab etwa 1880 nahmen transnationale Beziehungen erheblich zu, führten jedoch nicht zur Einebnung nationaler Differenzen, im Gegenteil: Die globale Vernetzung vor dem Ersten Weltkrieg ging mit einer Verfestigung nationaler Abgrenzungen einher. Das besondere Verständnis von Nation in Deutschland, wie es vor dem Ersten Weltkrieg zu beobachten ist, muß daher auch als Reaktion auf die globalen Vernetzungen verstanden werden.

Der Autor verfolgt hier eine explizit transnationale Perspektive und blickt von den afrikanischen Kolonien, den polnischen Gebieten in Osteuropa, aus China und Südamerika auf das Deutsche Kaiserreich. Er kann dabei überzeugend zeigen, daß die deutsche Geschichte nicht an den Grenzen des Reiches haltmachte und zugleich die Bezüge zur Welt in der wilhelminischen Gesellschaft gegenwärtig waren.

Rezension:
Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich.
München: C.H. Beck Verlag 2006. ISBN 3-406-54965-9; 445 S.; EUR 39,90.

Rezensiert für geschichte.transnational und H-Soz-u-Kult von:
Ulf Engel, Institut für Afrikanistik, Universität Leipzig
E-Mail:

Bei der hier anzuzeigenden Monographie handelt es sich um die 2005 eingereichte Habilitation eines Vertreters des noch jungen Zweiges der deutschen Globalgeschichtsschreibung: Sebastian Conrad, der von 2003 bis
2007 eine Juniorprofessor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin innehatte und nunmehr auf eine Professur zum Department für Geschichte und Zivilisation des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz wechselt, hat ein umfangreiches, vor allem aber ein ambitioniertes Werk vorgelegt. Auf 445 Seiten will der 40-jährige am Beispiel des Deutschen Kaiserreichs um 1900 das Programm der Globalgeschichtsschreibung entfalten. Für diese Arbeit ist Conrad jüngst mit dem mit EUR 25.000 dotierten Philip-Morris-Forschungspreis ausgezeichnet worden. In der Begründung heißt es unter anderem, dass Conrad „... seine Forscherkollegen und die Gesellschaft heraus [fordere], die Globalisierung nicht nur als wichtigste wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre zu betrachten, sondern als eine grundlegende kulturelle, soziale und geschichtliche Veränderung unserer Welt.“

Die zentrale These des Buches lautet, dass die seit etwa 1880 erheblich zunehmenden transnationalen Beziehungen, die Deutschland mit der Welt verbanden, nicht zur Einebnung nationaler Differenzen geführt hätten, sondern dass im Gegenteil die globale Vernetzung vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Verfestigung nationaler Abgrenzungen einher ging.
Das spezifisch deutsche Verständnis der Nation könne daher auch als Reaktion auf globale Vernetzungen interpretiert werden. Conrad entwickelt diese These im Kern mit Blick auf den Topos der „Deutschen Arbeit“ und die Mobilität von Arbeit. Als Arenen einer transnationalen Dialektik dienen ihm Ostafrika und Ostwestfalen, Preußen und Polen, China und Brasilien. Unter Berufung auf Shalini Randeria geht es ihm um die Rekonstruktion eines Geflechts von „geteilten Geschichten“, um die „Überwindung des Tunnelblicks, der nationale Gesellschaften unter Ausschluß ihrer regionalen und globalen Vernetzung ins Visier nimmt“ (S.
11). Nationalismus und nationale Selbstverständigung, so Conrad, können vor diesem Hintergrund „auch als Produkt und Effekt von Interaktionen, Austausch und Zirkulation innerhalb einer zunehmend vernetzten Welt“ (S.
20) verstanden werden. Der deutsche Nationalismus sei von Anfang an ein transnationaler Nationalismus gewesen (S. 24).

Das methodische Postulat der Globalgeschichtsschreibung, das Conrad als Mitherausgeber auch in der Buchreihe „Globalgeschichte“ verfolgt, setzt der Privilegierung der nationalstaatlichen Perspektive und der Meistererzählung der Modernisierung, in der auf die Nationalisierung die Globalisierung folgt, eine Forschungsperspektive entgegen, in der die wechselseitige Durchdringung und Konstituierung dieser Prozesse in den Vordergrund gerückt wird. Die Agenda wurde von Conrad bereits 2004 in einem gemeinsam mit Jürgen Osterhammel (Konstanz) herausgegebenen Sammelband „Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914“ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) skizziert. Die methodologische Programmatik wird auch in der von Conrad mitverantworteten und 2006 veröffentlichten Festsschrift für Jürgen Kocka „Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien“
(Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) wiederholt.

International knüpft diese Form der Globalgeschichtsschreibung als Ausdruck des so genannten spatial turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften an die histoire croiseé oder die entangled histories an, also an die Neubewertung des Raumes als einer analytischen Kategorie. Unter den deutschen Historikern verbindet ihn diese Agenda einer Transfer- und Verflechtungsgeschichte mit Kollegen wie Andreas Eckert (HU Berlin), Matthias Middell (Leipzig), Harald Fischer-Tiné (IU Bremen), Klaus Mühlhahn (Indiana) und Dominic Sachsenmair (Duke) – etwa in dem gemeinsamen DFG-geförderten Projekt „World Orders: global structures and alternative visions of the world (1880-1935)“.

Conrads Monographie hat die Rezensenten bislang jedoch nur teilweise zu überzeugen vermocht. Während Jörg Später in der Süddeutschen Zeitung
(4.10.2006) Conrads Werk als „ebenso innovativ und originell [einschätzt] wie Wehlers sozialgeschichtlicher Zugriff in den siebziger Jahren“ und er auch bei Martin Wein in der Frankfurter Rundschau
(13.12.2006) weitgehend Zustimmung erfährt, drücken etwa Ulrich Teusch (Neue Züricher Zeitung 19.6.2007) oder Dieter Langewiesche (Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.1.2007) eine grundsätzliche Skepsis aus, die sich aus drei Quellen speist. Erstens wird über das Verhältnis einer traditionellen, im nationalen Containerdenken verhafteten Geschichtsschreibung zur Globalgeschichtsschreibung spekuliert. Will die neue Globalgeschichtsschreibung die älteren Zugriffe ersetzten oder lediglich ergänzen? Insbesondere Langewiesche (Universität Tübingen), der sich in seinen Schriften vor allem mit dem politischen Liberalismus und dem entstehenden Nationalstaat in Deutschland und Europa beschäftigt hat, lässt hier erkennen, dass er von Conrads Antworten auf die Postulate einer Globalgeschichtsschreibung nicht überzeugt ist. Zweitens kritisieren die Rezensenten die unterschiedliche Qualität und Fundierung der Fallstudien (wobei die empirische Tiefe und die Originalität insbesondere des Kapitels zu China allenthalben gelobt, das Kapitel zu Preußen und Polen jedoch als eher schwächer eingestuft wird). Als ein dritter Punkt der Kritik gilt diesen Rezensenten die mangelnde Rückbindung der Ergebnisse aus den Fallstudien auf nationale Selbstverständigungsdiskurse.

Hinter dieser Kritik wird vor allem die Schwierigkeit deutlich, die inhaltlich ja auch von Langewiesche im Prinzip unwidersprochenen Ansprüche einer Globalgeschichtsschreibung im Detail dann auch umzusetzen. Die Arbeit von Conrad mag hier im Einzelfall in der Tat noch Optimierungspotenzial haben. Dennoch handelt es sich um ein forschungspolitisch wichtiges Buch, das mit gut geschriebenen und spannend erzählten Episoden eine Geschichte der Verflechtung des deutschen Kaiserreichs in eine transnationale Arena von Arbeit und Mobilität entfaltet. Als solches stellt es einen wichtigen Ausgangspunkt und Baustein für eine Neubewertung Deutschlands beim Eintritt in das 20.
Jahrhundert in seinen transnationalen Bezügen dar.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Matthias Middell

URL zur Zitation dieses Beitrages


Diese Rezension enstand im Rahmen des Fachforums geschichte.transnational.
http://geschichte-transnational.clio-online.net
Autorenporträt
Sebastian Conrad , geb. 1966, ist Juniorprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zuletzt veröffentlichte er: Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt. 1871-1914 (Hrsg. zus. mit Jürgen Osterhammel, 2004).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit gemischten Gefühlen hat Rezensent Ulrich Teusch diese Fallstudien Sebastian Conrads über die frühe Phase der Globalisierung im deutschen Kaiserreich gelesen. So scheint ihm die Qualität und Fundierung der einzelnen Studien recht unterschiedlich. Auch sieht er nicht immer den Zusammenhang zum Grundthema Globalisierung, etwa wenn es um polnische Saisonarbeiter in Preußen geht. Problematisch findet er auch, dass fast alle Studien mit der imperialistischen Expansion des Kaiserreichs zu tun haben. Diese als eine Erscheinungsform der Globalisierung zu interpretieren, scheint ihm zwar durchaus berechtigt. Zugleich verweist er aber auf schwerwiegende Einwände gegen diese vermeintliche Evidenz, die schon hellsichtige Zeitgenossen formuliert hätten. Grundsätzlich krankt Conrads Arbeit für ihn unter ihrem schwammigen Verständnis von Globalisierung. Statt eines aufgeblähten "modischen Allerweltsbegriffs" von Globalisierung hätte er sich einfach eine "klare und praktikable Definition" gewünscht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Warum die Weltgesellschaft völkisch wurde
Die Wiederkehr der Dialektik: Sebastian Conrad erklärt den Nationalismus des Kaiserreichs aus der Praxis der Globalisierung / Von Jörg Später
Der Begriff „Deutsche Arbeit” weckt Gedanken an den Nationalsozialismus, die Deutsche Arbeitsfront, den Gegensatz von „raffendem und schaffendem Kapital”. Historiker, die sich mit diesem Begriff beschäftigen, suchen gewöhnlich nach Vorläufern in der völkischen Bewegung oder anderen früheren Manifestationen eines nationalistischen Sozialismus. Sebastian Conrad spürt dagegen dem Zusammenhang zwischen „Deutscher Arbeit” und globaler Ökonomie nach. Er konstatiert weniger Veränderungen in der Zeit als Verflechtungen im Raum. Conrad steht für eine neue Generation von Historikern, die in weltgeschichtlichen Bezügen denkt und die deutsche Geschichte im Kontext der Globalisierung neu beleuchtet wissen will.
Conrad interessiert das Verhältnis von Nationalisierung und Globalisierung, die um 1900 durch Weltwirtschaft, Weltpolitik und die Mobilität von Menschen, Ideen und sozialen Praktiken einen beträchtlichen Schub erfahren habe. Er will zeigen, dass beide Prozesse gleichzeitig stattfanden und aufeinander bezogen waren. Die Universalisierung der industriellen Produktion ging demnach einher mit Prozessen der Abgrenzung. Die Globalisierung war also im Grunde eine „Glokalisierung” – eine spezifisch lokale Aneignung globaler Phänomene.
So sieht Conrad den Begriff der „Deutschen Arbeit” als Teil der Konstituierung eines planetarischen Bewusstseins. Er wurde ein Faktor bei der wirtschaftlichen Erschließung anderer Kontinente und der Behauptung der eigenen Volkswirtschaft auf dem entstehenden Weltmarkt. Er fasste Wurzeln, als es darum ging, sich vor vermeintlich bedrohlichen Einwanderern zu schützen und Auswanderer der Nation zu erhalten. Was „deutsch” sein sollte, wurde in Abgrenzung zu einer als bedrohlich wahrgenommenen Welt entschieden. Die Radikalisierung des Nationalismus und die Rede von der „Deutschen Arbeit” waren somit Effekte der Globalisierung um 1900.
Die Globalisierung der Arbeit beschreibt Conrad, indem er Menschen und Bedeutungen auf ihrer Wanderschaft begleitet. Er sieht sich in Ostafrika wie in Ostwestfalen um und vergleicht, wie die „Eingeborenen” hier wie dort zur Arbeit erzogen wurden. Er analysiert die Diskurse über Deutschlands „eigentliche Kolonie”, Polen, oder beobachtet, wie der Alldeutsche Verband die Auswanderung nach Brasilien zum Jungbrunnen der Nation stilisierte. Bei seinen Streifzügen durch vermeintlich periphere Landschaften des Kaiserreichs stellt Conrad fest, wie die massenhafte Mobilität von Menschen und ihrer Ware Arbeitskraft zu einer Festigung nationaler Identitäten geführt habe.
Hier präsentiert sich ein neues Deutungsmuster: Geschichtsschreibung jenseits des Nationalstaates. Die transnationale Perspektive auf das Kaiserreich wird am empirischen Material erprobt, in einem konkreten Zeitraum und unter einer klar ausgewiesenen Prämisse: Das Nation-Building wird in einem Zeitalter der Globalisierung von Arbeitskraft und ihren Bedeutungen verortet. Conrads Buch weist dabei einige bemerkenswerte Dimensionen auf:
Erstens kommt dialektisches Denken wieder zu seinem Recht. Nicht obwohl, sondern gerade weil man die von Nationen bestimmte Ordnung der Welt in Frage stellte, wurde der Nationalismus völkisch. Es geht um die gegensätzliche Einheit von Universalem und Partikularem: Im Zeitalter der Globalisierung erfolge eine Nationalisierung der Dinge, wie etwa der Arbeit, also eine Zuschreibung von Identität im Moment ihrer standardisierten Ununterscheidbarkeit. Die Entstehung einer Weltgesellschaft bedeutet eben nicht nur Anpassung, sondern ebenso Abgrenzung und Fragmentierung – und meistens alles zugleich.
Brasilien als Jungbrunnen
Zweitens ist der globalgeschichtliche Ansatz ein Produkt der Dritte-Welt-Bewegung. Seine Vorläuferinnen und Wegbereiterinnen waren die Dependenz- und Weltsystemtheorien, die im Gefolge der 68er-Bewegung entstanden. Heute wie damals steht die Kritik des westlichen Entwicklungsparadigmas auf der Agenda, insbesondere die Modernisierungstheorie, die einem Telos huldigt, das eine folgerichtige zeitliche Abfolge von Entwicklungsstadien vorsieht. Conrad und andere haben diese Kritik von marxistischen Prämissen losgelöst und sie stattdessen mit postkolonialen Theorien angereichert. Zudem haben sie die postkoloniale Perspektive mit den Methoden professioneller Geschichtswissenschaft vereint. Leute wie Conrad wissen sehr genau, dass sie von der etablierten Zunft in Deutschland kritisch beäugt werden.
Drittens wird hier eine Debatte nachgeholt, die in anderen ehemaligen Kolonialmächten, allen voran Großbritannien, Tradition hat. Gestritten wird um die Frage, welche Bedeutung der Kolonialismus für die europäischen Gesellschaften selbst hatte. Früher war sie verbunden mit der Frage, ob die so genannte Dritte Welt so arm ist, weil wir so reich sind. Heute wird, zumal hierzulande, eher darüber diskutiert, inwieweit die koloniale Erfahrung den Weg in den Nationalsozialismus mitvorbereitet hat, ob also etwa ein Weg von der „Deutschen Arbeit” zur „Vernichtung durch Arbeit” führt.
Dabei bezieht Conrad sich auf Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”, in dem der Imperialismus und mit ihm verbunden der Rassismus als Vorgeschichte der totalen Herrschaft präsentiert wird. Arendt sprach wohlweislich nicht von Ursachen, sondern von Ursprüngen. Die gleiche Umsicht legt Conrad an den Tag. Es geht ihm nicht um ein neues Paradigma, sondern um eine ergänzende Perspektive, nämlich deutsche Geschichte im kolonialen Kontext. So postuliert er, dass zwar schon in den kolonialen Plänen und Projekten des Kaiserreichs radikale Ausschlussstrategien denk- und sagbar geworden seien, es bis zur „Vernichtung durch Arbeit” allerdings weiterer, vom kolonialen Kontext unabhängiger Radikalisierungsschübe benötigt habe.
Conrad entwickelt sein Anliegen sehr reflektiert. Der Ansatz einer Geschichte jenseits des Nationalstaates erhält allmählich Beine. Aber noch befindet er sich im Experimentierstadium. Darauf verweist schon der fragmentarische Aufbau des Buches. Der Autor studiert Fälle, anhand derer er das Verhältnis von Globalisierung und Nationalisierung verdeutlicht. Er erzählt keine kohärente Geschichte des Kaiserreichs. Zudem scheint Conrad seiner Überzeugungskraft nicht uneingeschränkt zu trauen, denn dem Leser werden Ansatz und These geradezu preußisch eingebimst. Dessen ungeachtet ist Conrads Kaiserreichbuch ebenso innovativ und originell wie Wehlers sozialgeschichtlicher Zugriff in den siebziger Jahren.
Sebastian Conrad
Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich
Verlag C.H. Beck, München 2006. 445 Seiten, 39, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2007

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Globalhistorische Informationsversuche zur deutschen Gesellschaft in der Wilhelminischen Epoche

Geschichtssicherheit erzeugt Zukunftsvertrauen. Deshalb verlangt das noch unfertige "Haus Europa" nach einem tragfähigen Geschichtsfundament. Nationalgeschichten genügen nicht mehr, sie scheinen ihren Wert für die Gegenwart zu verlieren, wenn sie nicht europäisiert und globalisiert werden. Mit dieser Überzeugung hat Sebastian Conrad sein Buch über das Deutsche Kaiserreich geschrieben. Ob er die nationalgeschichtliche Geschichtsschreibung, der er einen "Tunnelblick" zuschreibt, ergänzen oder ersetzen will, lässt er offen. Er kann sich nicht entscheiden, verspricht hier das eine, dort das andere. Was bietet er? "Unterminiert" sein "transnationaler" Zugang die "Kategorie der ,Deutschen Geschichte'"? Das verkündet die Einleitung. Gemeint ist: Die Wirkungen des Globalisierungsschubes um 1900 auf die deutsche Gesellschaft der Wilhelminischen Epoche sollen erkundet werden. Das klingt bescheidener, formuliert dennoch eine große Aufgabe. Sie anzupacken ist dringlich. Deshalb verdient dieses Buch Aufmerksamkeit und Respekt, selbst wenn das, was versprochen wird, nicht eingelöst werden kann.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Die fünf Hauptkapitel mit Detailstudien werden eingerahmt durch einen kundigen Einblick in den Stand der historischen Globalisierungsforschung, mit dem das Buch einsetzt, und durch eine generelle Einschätzung der Globalisierungsprozesse um 1900, die es beschließt. Dieser Rahmen umspannt den hohen Anspruch des Autors: ein neues Bild vom ersten deutschen Nationalstaat; die deutsche Gesellschaft und ihr Staat im Netz der Globalisierung. In kluger Auswahl werden Entwicklungen skizziert, die in Nationalgeschichten meist nur am Rande erwähnt werden. Zum Beispiel, wie die Kriterien für deutsche Staatsbürgerschaft verändert wurden, um die grenzüberschreitende Mobilität und den Erwerb von Kolonien einbinden zu können. Globalisierung und nationalstaatliche Territorialisierung reagierten wechselseitig aufeinander und veränderten das Selbstverständnis der Nationen. Dies erfährt der Leser in den beiden Kapiteln, mit denen das Buch beginnt und endet. Deutschland steht hier nicht im Zentrum. Es kommt vor. Mehr nicht. Um die damaligen Globalisierungsprozesse zu betrachten, scheint Deutschland nicht den besten Standort zu bieten. Das überrascht nicht; es gehörte nur auf wenigen Feldern zur Spitzenliga der global players. Deshalb muss sich der Autor immer wieder auf eine Höhe stellen, von der aus Deutschland nur schemenhaft sichtbar wird. In den fünf Hauptkapiteln ist das anders.

Zunächst wird die deutsche "Eingeborenenpolitik" als ein Instrument der "Erziehung zur Arbeit" betrachtet, in den Kolonien, aber auch in Deutschland, in Ostafrika wie in Ostwestfalen. Conrad eröffnet überraschende Zusammenhänge, wenn er in der Rhetorik einen "globalen Assoziationsraum" sichtbar macht. Dieses Kapitel zeigt aber auch die Kosten, die diese Art des Blickes in die Welt verlangt: die Zeit wird ausgeblendet. Für Historiker als Hüter der Zeit ein heikles Unterfangen. Gesucht wird nach dem global Gleichzeitigen, dem eine höhere Bedeutung als dem zeitlichen Nacheinander zugemessen wird. Wer den zeitlichen Verlauf untersucht, gerät in den Verdacht nationaler Verengung.

Der globale Blick schaut in die Weite, suggeriert Conrad, der nationale in die Zeit. Das kann so sein, muss aber nicht. Wie eine Geschichte der Arbeit in Europa als ein Jahrhunderte übergreifender Prozess geschrieben werden kann, ohne nationalgeschichtlich verengt zu argumentieren, demonstriert der französische Soziologe Robert Castel. Dessen Buch "Die Metamorphosen der sozialen Frage" liest sich wie ein Widerspruch gegen den Anspruch Conrads, die Erziehung zur Arbeit lasse sich nur in der Perspektive von Globalisierung verstehen. Nicht nur die Nationsforschung, auch der spatial turn, den Conrad ihr verordnen möchte, hat seine Scheuklappen.

Die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs von den Peripherien her zu erhellen ist auch das Programm der drei folgenden Kapitel: die Germanisierungspolitik gegenüber den Polen im Inland und die Abwehr polnischer Zuwanderer als Kolonisierung im Innern; die Debatten um Nutzen und Gefahren einer Anwerbung chinesischer Arbeiter; die Imaginationen über ein vermeintlich unverfälschtes, nicht durch die Moderne angekränkeltes "Deutschtum" unter den deutschen Auswanderern in Brasilien. Schließlich folgt ein Kapitel über den Begriff der "Deutschen Arbeit" als ein Instrument nationaler Abgrenzung in einer Zeit intensivierter globaler Verflechtungen.

Die Hoffnungen und die Furcht, die sich mit den chinesischen Arbeitern verbanden, die nicht kamen, stellt Conrad erstmals in dieser Eindringlichkeit vor. Hier schöpft er aus unveröffentlichtem Archivmaterial. Die anderen Themen verbinden die Diskussionen, welche die Zeitgenossen in der Öffentlichkeit geführt haben, mit den Ergebnissen einer breiten Forschung. Das ist informativ, voller anschaulicher Fälle, gekoppelt mit theoretischen Erörterungen auf hohem Niveau, die internationale Forschung ist stets gegenwärtig. Der Blick auf das Deutsche Kaiserreich wird erweitert, vertraute Entwicklungen werden in globale Zusammenhänge eingeordnet, die deutsche Entwicklungsdynamik wird mit der "Dynamik des indischen, chinesischen oder japanischen Nationalismus" parallelisiert, und vieles mehr. Das ist aufschlussreich. Allerdings nur für den, der das Kaiserreich bereits kennt. Ein neues Bild von der deutschen Gesellschaft in der Wilhelminischen Epoche entsteht nicht - mehr noch: die Beobachtungen des Autors lassen beim Leser überhaupt kein Gesamtbild entstehen, es sei denn, er besaß es schon vor der Lektüre.

Sebastian Conrad betrachtet Peripherien der zeitgenössischen Debatten über die deutsche Nation, und seine Untersuchung verharrt in ihnen. Es wird nicht analysiert, ob und wie das, was dort geredet und geschrieben wurde, die Nationsvorstellungen derer verändert hat, die sich nicht über die Aussicht auf chinesische Arbeiter in Deutschland erregt oder gefreut haben und die in den deutschen Auswanderern in Brasilien keinen Jungbrunnen für die deutsche Nation sahen. Wie wirkten diese Diskussionen zurück auf die Nationsvorstellungen im deutschen Katholizismus, Protestantismus und Judentum, unter Sozialisten, Konservativen oder Liberalen? Um nur einige der Weltanschauungsgruppen zu nennen, in deren Umfeld sich entschied, was "die" Deutschen um 1900 vor Augen hatten, wenn sie von deutscher Nation sprachen. Wer dieses Buch über Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich liest, erfährt es nicht. Er muss Nationalgeschichten gelesen haben, um in deren Bild die globalhistorischen Informationen, die hier geboten werden, einfügen zu können.

Die Nationalgeschichte ergänzen oder ersetzen? Die Entscheidung, zu der sich der Autor nicht durchringen kann, fällt sein Buch. Dies festzustellen und sich damit zu begnügen würde jedoch dem Anspruch und den Leistungen der neuen Form von Weltgeschichte, wie sie zur Zeit aufblüht, nicht gerecht. Conrads Werk lässt die Probleme erkennen, vor denen Weltgeschichte und Nationalgeschichte gleichermaßen stehen, wenn sie miteinander verbunden werden sollen. Dass dies notwendig ist, lässt sich vernünftig nicht bestreiten. Es gibt bereits gelungene Beispiele, etwa zur Geschichte der Sklaverei oder der Migration. Von solchen Studien, die eine staatenübergreifende Darstellung erzwingen, zu einer Nationalgeschichte in globaler Perspektive ist ein weiter Weg. Sie darf die Geschichte einer einzelnen Nation nicht weltgeschichtlich zerfließen lassen. Sonst wird sie zu einer Expertenhistorie, die nicht in das Geschichtsbild der vielen eingehen wird.

DIETER LANGEWIESCHE.

Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. Verlag C. H. Beck, München 2006. 445 S., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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