Als Maureen Phelan nachts in ihrer Küche einen Einbrecher überrascht und ihn mit einer Devotionalie erschlägt, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Reihe von fatalen Ereignissen in Gang setzt. Natürlich muss zunächst der Leichnam entsorgt und der Küchenboden geschrubbt werden, allerdings hat Maureen eine ausgesprochene Abneigung gegen Hausarbeiten jedweder Art, weshalb sie ihren Sohn Jimmy einbestellt. Der kontrolliert das organisierte Verbrechen der Stadt, die Geldverleiher und Buchmacher, die Drogenkuriere und Zuhälter. Natürlich will auch Jimmy sich nicht die Hände schmutzig machen, das überlässt er in der Regel anderen - beispielsweise seinem alten Kumpel Tony Cusack, Trinker, Vater von sechs Kindern, alleinerziehend, wenn man überhaupt von Erziehung sprechen kann. Der älteste Sohn Ryan hat mit seinen fünfzehn Jahren schon eine beachtliche Karriere als Dealer hingelegt. Eine seiner Klientinnen ist die junge Prostituierte Georgie. Deren Freund Robbie steigt gerne mal in Häuser ein und ist seit Kurzem spurlos verschwunden ...Lisa McInerneys Debütroman ist eine bitterböse Komödie über die Macht des Zufalls und das Leben in einem krisengeschüttelten Land, das geprägt ist von Gewalt und Bigotterie. Eine literarische Tour de Force, fulminant erzählt, voller Empathie und groteskem Humor.
buecher-magazin.deCork City, Irland. Es ist der Tag, an dem sich für Ryan alles ändert. Zum ersten Mal wird er Sex mit seiner Freundin Karine haben. Er kann sein Glück kaum fassen: Karine ist eine hübsche, beliebte Schülerin und sie hat sich in ihn verliebt, den Jungen aus einer Sozialsiedlung, der vom Vater misshandelt wird und mit Drogen dealt. Doch das ist es nicht, was in dem Debüt der irischen Autorin Lisa McInerney alles in Gang setzt. Vielmehr ist Ryan ein Kollateralschaden einer Gesellschaft, in der Ignoranz, wirtschaftliche Rezession und die "Familienpolitik" der katholischen Kirche ihre Spuren hinterlassen haben. Verwicklungen werden durch ein Tötungsdelikt ausgelöst, das Maureen verübt, die Mutter des örtlichen Gangsters JP, die einen Eindringling mit einem heiligen Stein niederschlägt. Sie fordert JP Ryans Vater Tony auf, bei der Beseitigung der Leiche zu helfen - und die jugendliche Prostituierte Georgie sucht fortan nach ihrem verschwundenen Freund. Mit sehr viel Biss und Komik, eigenwilligen Sprachbildern und wunderbar widerspenstigen Charakteren entwickelt Lisa McInerney ein hintersinniges Porträt der Verlorenen und Verlassenen einer irischen Kleinstadt, in dem der Mord nur eine extreme Abweichung von dem darstellt, was eventuell ein Weg zur Erlösung sein könnte.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2018Beichtstuhlbekenntnisse
Bei Lisa McInerney scheitern die Figuren am Zufall
Hegel hat in einem seiner schwächeren Momente geschrieben, die philosophische Betrachtung habe "keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen". Für die Literatur gilt das Gegenteil, oft lebt sie von ungeplanten, absichtslosen Ereignissen, die jäh über das Personal hereinbrechen. Schriftsteller sind daher gut beraten, das Zufällige nicht nur nicht zu entfernen, sondern besonders zu berücksichtigen. Zur falschen Zeit am falschen Ort: Viele gelungene Krimis verdanken sich dieser Prämisse, einer davon ist "Glorreiche Ketzereien", der Debütroman der Irin Lisa McInerney.
Maureen Phelan, neunundfünfzig Jahre alt und "kaum mehr als eine Sumpffee", zertrümmert einem Einbrecher den Schädel mit einer Devotionalie. Ohne Natron, Bleiche und ein gewisses Knowhow wird sich die Sudelei nicht beseitigen lassen. Die Totschlagsnovizin konsultiert ihren Sohn Jimmy, der dem organisierten Verbrechen in der irischen Stadt Cork vorsteht, auf die Putzaktion allerdings überhaupt keine Lust hat. Deswegen schleppt er als Helfer seinen Kompagnon Tony an, dessen Leben sich hauptsächlich um Alkohol und nebensächlich um die Erziehung der sechs Kinder dreht. Tonys ältester Sohn Ryan erarbeitet sich gerade einen respektablen Ruf als Drogendealer, unter anderem bei der jungen Prostituierten Georgie. Und deren Freund ist erst neulich losgezogen, um in ein Haus einzubrechen - seitdem fehlt von ihm jede Spur.
McInerney fabriziert aus diesem Beziehungsgeflecht durchweg gescheiterter Gestalten einen Roman, den man als Krimi bezeichnen kann, aber nicht muss. Er ist genauso Coming-of-Age-Geschichte und Sozialstudie, Milieuporträt und Sittenbild. Ob Christencamp, dysfunktionale Familie oder Teenagerliebe: was die Autorin auch schildert, entsteht sofort vor unserem inneren Auge, weil sie souverän über einen auf Anschaulichkeit angelegten Ausdruck verfügt.
Die Dynamik ihrer Vergegenwärtigungskunst zeigt sich unter anderem, wenn sie ungewöhnliche Bilder heraufbeschwört: "Da saßen Eltern, still und bedrückt, wie Steckrüben in einer Gemüsekiste." Das zerbrechliche, weil auf Verblüffung gründende Hochgefühl des schwerverliebten Ryan beschreibt sie so: "Sein Herz tat einen Sprung und versuchte ihn glauben zu machen, dass es vielleicht mehr war: Glück und Vertrauen. Sie vertraute ihm. Himmel! Sie mochte ihn!"
Von dieser Wonne bleibt am Ende nicht viel übrig: "Was war aus ihm geworden auf seiner Reise durch die Unterwelt? Nichts weiter als ein weiteres betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher." Fazit: "Alles war Hass, Hass, Hass." Und da fragt sich nun, ob aus dem anfangs regierenden Zufall im Laufe der Handlung eine Art Vorsehung wird, der sich gar nicht entkommen lässt. Ist ein Lebensweg letztlich vorgezeichnet, wenn der Vater Säufer ist, das Umfeld aus Kriminellen besteht, sich die allenthalben ausbreitende soziale Kälte in asozialen Frost verwandelt?
Einfache Antworten hierauf erlaubt sich McInerney kaum, weil sie Literatur nicht als Zettelkasten für moralphilosophische und gesellschaftstheoretische Thesen begreift. Lieber malt und tupft und skizziert sie Szenen, deren Deutung selten auf der Hand liegt.
Eine Ausnahme bilden jene galligen Passagen, in denen die Kirche im Mittelpunkt steht: "Sie beugte sich mit einem zusammengerollten Fünfer über die Bibel und zog sich eine Line." Wenn Maureen im Beichtstuhl sitzt und bekennt, den Einbrecher erschlagen zu haben, steht ihr der Priester mit Phrasen bei, vor denen sich kein Horoskop verstecken muss: "Die Zeiten ändern sich, und die Kinder Gottes sahen und sehen sich immer anderen, einzigartigen Herausforderungen gegenüber." Am Ende wirft Maureen der katholischen Kirche vor, sie habe mit ihrer Moral, ihrem Beichtgeheimnis und ihren Lügen zahllose Leben zerstört. "Kein Wunder, dass Sie sagen, der Heilige Gott ist voll der Gnade", poltert sie los, "denn wie sonst sollte irgendeiner von euch Dreckskerlen nachts schlafen können?"
Im Original ist "Glorreiche Ketzereien" bereits 2015 erschienen. Der Roman hat trotz mancher Längen mehrere Preise gewonnen. Sein Nachfolger, "The Blood Miracles", liegt bereits auf Englisch vor, und eine Fernsehserie über den Stoff ist längst in der Mache. Bei der Vermarktung dieses Buchs über den Zufall wird man nun gewiss nichts mehr demselben überlassen.
KAI SPANKE
Lisa McInerney: "Glorreiche Ketzereien".
Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag,
München 2018.
448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei Lisa McInerney scheitern die Figuren am Zufall
Hegel hat in einem seiner schwächeren Momente geschrieben, die philosophische Betrachtung habe "keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen". Für die Literatur gilt das Gegenteil, oft lebt sie von ungeplanten, absichtslosen Ereignissen, die jäh über das Personal hereinbrechen. Schriftsteller sind daher gut beraten, das Zufällige nicht nur nicht zu entfernen, sondern besonders zu berücksichtigen. Zur falschen Zeit am falschen Ort: Viele gelungene Krimis verdanken sich dieser Prämisse, einer davon ist "Glorreiche Ketzereien", der Debütroman der Irin Lisa McInerney.
Maureen Phelan, neunundfünfzig Jahre alt und "kaum mehr als eine Sumpffee", zertrümmert einem Einbrecher den Schädel mit einer Devotionalie. Ohne Natron, Bleiche und ein gewisses Knowhow wird sich die Sudelei nicht beseitigen lassen. Die Totschlagsnovizin konsultiert ihren Sohn Jimmy, der dem organisierten Verbrechen in der irischen Stadt Cork vorsteht, auf die Putzaktion allerdings überhaupt keine Lust hat. Deswegen schleppt er als Helfer seinen Kompagnon Tony an, dessen Leben sich hauptsächlich um Alkohol und nebensächlich um die Erziehung der sechs Kinder dreht. Tonys ältester Sohn Ryan erarbeitet sich gerade einen respektablen Ruf als Drogendealer, unter anderem bei der jungen Prostituierten Georgie. Und deren Freund ist erst neulich losgezogen, um in ein Haus einzubrechen - seitdem fehlt von ihm jede Spur.
McInerney fabriziert aus diesem Beziehungsgeflecht durchweg gescheiterter Gestalten einen Roman, den man als Krimi bezeichnen kann, aber nicht muss. Er ist genauso Coming-of-Age-Geschichte und Sozialstudie, Milieuporträt und Sittenbild. Ob Christencamp, dysfunktionale Familie oder Teenagerliebe: was die Autorin auch schildert, entsteht sofort vor unserem inneren Auge, weil sie souverän über einen auf Anschaulichkeit angelegten Ausdruck verfügt.
Die Dynamik ihrer Vergegenwärtigungskunst zeigt sich unter anderem, wenn sie ungewöhnliche Bilder heraufbeschwört: "Da saßen Eltern, still und bedrückt, wie Steckrüben in einer Gemüsekiste." Das zerbrechliche, weil auf Verblüffung gründende Hochgefühl des schwerverliebten Ryan beschreibt sie so: "Sein Herz tat einen Sprung und versuchte ihn glauben zu machen, dass es vielleicht mehr war: Glück und Vertrauen. Sie vertraute ihm. Himmel! Sie mochte ihn!"
Von dieser Wonne bleibt am Ende nicht viel übrig: "Was war aus ihm geworden auf seiner Reise durch die Unterwelt? Nichts weiter als ein weiteres betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher." Fazit: "Alles war Hass, Hass, Hass." Und da fragt sich nun, ob aus dem anfangs regierenden Zufall im Laufe der Handlung eine Art Vorsehung wird, der sich gar nicht entkommen lässt. Ist ein Lebensweg letztlich vorgezeichnet, wenn der Vater Säufer ist, das Umfeld aus Kriminellen besteht, sich die allenthalben ausbreitende soziale Kälte in asozialen Frost verwandelt?
Einfache Antworten hierauf erlaubt sich McInerney kaum, weil sie Literatur nicht als Zettelkasten für moralphilosophische und gesellschaftstheoretische Thesen begreift. Lieber malt und tupft und skizziert sie Szenen, deren Deutung selten auf der Hand liegt.
Eine Ausnahme bilden jene galligen Passagen, in denen die Kirche im Mittelpunkt steht: "Sie beugte sich mit einem zusammengerollten Fünfer über die Bibel und zog sich eine Line." Wenn Maureen im Beichtstuhl sitzt und bekennt, den Einbrecher erschlagen zu haben, steht ihr der Priester mit Phrasen bei, vor denen sich kein Horoskop verstecken muss: "Die Zeiten ändern sich, und die Kinder Gottes sahen und sehen sich immer anderen, einzigartigen Herausforderungen gegenüber." Am Ende wirft Maureen der katholischen Kirche vor, sie habe mit ihrer Moral, ihrem Beichtgeheimnis und ihren Lügen zahllose Leben zerstört. "Kein Wunder, dass Sie sagen, der Heilige Gott ist voll der Gnade", poltert sie los, "denn wie sonst sollte irgendeiner von euch Dreckskerlen nachts schlafen können?"
Im Original ist "Glorreiche Ketzereien" bereits 2015 erschienen. Der Roman hat trotz mancher Längen mehrere Preise gewonnen. Sein Nachfolger, "The Blood Miracles", liegt bereits auf Englisch vor, und eine Fernsehserie über den Stoff ist längst in der Mache. Bei der Vermarktung dieses Buchs über den Zufall wird man nun gewiss nichts mehr demselben überlassen.
KAI SPANKE
Lisa McInerney: "Glorreiche Ketzereien".
Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag,
München 2018.
448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2018Gott, ist
es hier still
Lisa McInerneys Roman
„Glorreiche Ketzereien“
Erst im Mai dieses Jahres wurde in Irland per Referendum das Abtreibungsverbot gekippt. Das Land ist wegen Tausender Tech-Konzerne, die auf der Insel steuergünstig ihre europäischen Niederlassungen eröffnet haben, eines der wohlhabendsten und fortschrittlichsten der Welt. Zugleich ist die irische Gesellschaft aber in vielem, auch, was die Rolle von Mann und Frau angeht, zutiefst katholisch und konservativ. Dazu kommt ein brutaler neoliberaler Kurs der Regierung, der das Land aus der Wirtschaftskrise geführt hat, aber alle, die es nicht in einen der gläsernen Bürotürme geschafft haben, Lebenshaltungskosten aus der Welt des Silicon Valley aufbürdet.
Die fast 450 Seiten des Debütromans der irischen Bloggerin Lisa McInerney lesen sich wie eine wutschäumende Generalabrechnung mit diesen dunklen Seiten der schönen neuen irischen Welt, vor allem mit dem Erbe des selbstgerechten Katholizismus und mit dem Drogenproblem, das die Provinz plagt und zum ersten Toten dieses Buches führt. „Aber so geht das in einer Stadt: Ein Mann nimmt den Platz eines anderen ein, der auf dem frisch gebohnerten Küchenboden verblutet.“
Die Stadt ist Cork und die Grausamkeiten ihrer Bewohner jagen einander in diesem Roman im gleichgültigen Plauderton. Robbie ist bei der falschen alten Dame eingestiegen, denn Maureen Phelan ist die Mutter des örtlichen Oberkriminellen Jimmy, der seinen Handlanger, den minderbemittelten Alkoholiker Tony, mit der Beseitigung der Leiche beauftragt. Der ahnt natürlich nicht, dass Robbi mit denselben Leuten abhing wie sein ältester Sohn Ryan, der schon als Schüler einen florierenden Drogenhandel aufgebaut hat.
Die irische Provinz ist bei McInerney ein kompliziertes Netzwerk der unschönen Bekanntschaften. Gemeinsam haben alle diese Dealer, Prostituierten und Kleinkriminellen, dass ihnen die Orientierung in diesem Untergrundnetzwerk so schwerfällt wie zuweilen auch dem Leser. Denn das zeigt dieser mit einer selbstverständlichen Rasanz erzählte Text sehr eindrücklich: Für jeden sehen die Dinge etwas anders aus und das, was eigentlich eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens bilden sollte, wie zum Beispiel der katholische Glaube, ist keinen Deut besser als die Weltsicht der Junkies und Einbrecher.
Dass eine ledergebundene Bibel eine super Unterlage zum Koksen ist, gehört wie der Ausraster einer Hauptfigur an einem Infostand von Abtreibungsgegnern zu den kirchenkritischen Pointen dieses Romans. Wie tief das gesellschaftliche Problem geht, das sich am Abtreibungsparagrafen beispielhaft zeigt, deutet der Besuch Maureens in der Ruine einer jener berüchtigten Magdalenen-Wäschereien an, in denen, oft unter dem Deckmantel der Kirche, Prostituierte und ungewollt schwanger gewordene Frauen praktisch interniert und von ihren Kindern getrennt wurden. Manche Frauen verschwanden einfach oder gingen nach London ins Exil. Auch die Kinder verschwanden oft.
Gerade erst hat die irische Regierung die Aufarbeitung eines realen Fundes von 800 Kinderleichen angeordnet, die in einem ehemaligen Heim der katholischen Kirche entdeckt worden waren. „Gott, war es hier still. Maureen blieb stehen, den Rücken den Ziegeln zugewandt, den Blick auf den Fluss gerichtet.“
Die Ganoven und Nutten in McInerneys Debüt, das den Auftakt zu einer Trilogie bilden soll, wirken dagegen auch in dem bitteren und sarkastischen Ton dieses Romans wie Engel. Was moralisch, normal und legal ist, wird hier immer wieder neu verhandelt. Der Kriminalroman ist in der Regel eine Bestätigung der bestehenden Verhältnisse. Die durch ein Verbrechen aus den Fugen geratene Ordnung soll wiederhergestellt werden. Lisa McInerney hat mit „Glorreiche Ketzereien“ einen Anti-Krimi geschrieben.
NICOLAS FREUND
Lisa McInerney: Glorreiche Ketzereien. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag, München 2018. 448 S., 24 Euro.
Der katholische Glaube scheint
keinen Deut besser zu sein als
die Weltsicht der Junkies
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
es hier still
Lisa McInerneys Roman
„Glorreiche Ketzereien“
Erst im Mai dieses Jahres wurde in Irland per Referendum das Abtreibungsverbot gekippt. Das Land ist wegen Tausender Tech-Konzerne, die auf der Insel steuergünstig ihre europäischen Niederlassungen eröffnet haben, eines der wohlhabendsten und fortschrittlichsten der Welt. Zugleich ist die irische Gesellschaft aber in vielem, auch, was die Rolle von Mann und Frau angeht, zutiefst katholisch und konservativ. Dazu kommt ein brutaler neoliberaler Kurs der Regierung, der das Land aus der Wirtschaftskrise geführt hat, aber alle, die es nicht in einen der gläsernen Bürotürme geschafft haben, Lebenshaltungskosten aus der Welt des Silicon Valley aufbürdet.
Die fast 450 Seiten des Debütromans der irischen Bloggerin Lisa McInerney lesen sich wie eine wutschäumende Generalabrechnung mit diesen dunklen Seiten der schönen neuen irischen Welt, vor allem mit dem Erbe des selbstgerechten Katholizismus und mit dem Drogenproblem, das die Provinz plagt und zum ersten Toten dieses Buches führt. „Aber so geht das in einer Stadt: Ein Mann nimmt den Platz eines anderen ein, der auf dem frisch gebohnerten Küchenboden verblutet.“
Die Stadt ist Cork und die Grausamkeiten ihrer Bewohner jagen einander in diesem Roman im gleichgültigen Plauderton. Robbie ist bei der falschen alten Dame eingestiegen, denn Maureen Phelan ist die Mutter des örtlichen Oberkriminellen Jimmy, der seinen Handlanger, den minderbemittelten Alkoholiker Tony, mit der Beseitigung der Leiche beauftragt. Der ahnt natürlich nicht, dass Robbi mit denselben Leuten abhing wie sein ältester Sohn Ryan, der schon als Schüler einen florierenden Drogenhandel aufgebaut hat.
Die irische Provinz ist bei McInerney ein kompliziertes Netzwerk der unschönen Bekanntschaften. Gemeinsam haben alle diese Dealer, Prostituierten und Kleinkriminellen, dass ihnen die Orientierung in diesem Untergrundnetzwerk so schwerfällt wie zuweilen auch dem Leser. Denn das zeigt dieser mit einer selbstverständlichen Rasanz erzählte Text sehr eindrücklich: Für jeden sehen die Dinge etwas anders aus und das, was eigentlich eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens bilden sollte, wie zum Beispiel der katholische Glaube, ist keinen Deut besser als die Weltsicht der Junkies und Einbrecher.
Dass eine ledergebundene Bibel eine super Unterlage zum Koksen ist, gehört wie der Ausraster einer Hauptfigur an einem Infostand von Abtreibungsgegnern zu den kirchenkritischen Pointen dieses Romans. Wie tief das gesellschaftliche Problem geht, das sich am Abtreibungsparagrafen beispielhaft zeigt, deutet der Besuch Maureens in der Ruine einer jener berüchtigten Magdalenen-Wäschereien an, in denen, oft unter dem Deckmantel der Kirche, Prostituierte und ungewollt schwanger gewordene Frauen praktisch interniert und von ihren Kindern getrennt wurden. Manche Frauen verschwanden einfach oder gingen nach London ins Exil. Auch die Kinder verschwanden oft.
Gerade erst hat die irische Regierung die Aufarbeitung eines realen Fundes von 800 Kinderleichen angeordnet, die in einem ehemaligen Heim der katholischen Kirche entdeckt worden waren. „Gott, war es hier still. Maureen blieb stehen, den Rücken den Ziegeln zugewandt, den Blick auf den Fluss gerichtet.“
Die Ganoven und Nutten in McInerneys Debüt, das den Auftakt zu einer Trilogie bilden soll, wirken dagegen auch in dem bitteren und sarkastischen Ton dieses Romans wie Engel. Was moralisch, normal und legal ist, wird hier immer wieder neu verhandelt. Der Kriminalroman ist in der Regel eine Bestätigung der bestehenden Verhältnisse. Die durch ein Verbrechen aus den Fugen geratene Ordnung soll wiederhergestellt werden. Lisa McInerney hat mit „Glorreiche Ketzereien“ einen Anti-Krimi geschrieben.
NICOLAS FREUND
Lisa McInerney: Glorreiche Ketzereien. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag, München 2018. 448 S., 24 Euro.
Der katholische Glaube scheint
keinen Deut besser zu sein als
die Weltsicht der Junkies
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Lars Weisbrod hört den Sound der Pogues aus Lisa McInerneys Gangster-und-Säufer-Geschichte. Moosgrün bis schmutzig schwarz erzählt sie von einem Haufen Unglücksraben, die nicht gerade aufrecht, aber unaufhaltsam der großen Katastrophe entgegentorkeln. Wie der Rezensent erzählt, beginnt alles damit, dass die Mutter eines Gangsterboss in ihrer Küche einen Einbrecher erschlägt und der unglückselige Tony die Leiche wegschaffen soll. Schuldlos sind sie alle nicht, erkennt Weisbrod, aber doch versehrt von Alkohol, Finanzkrise und Katholizismus. Wie die irische Autorin ihren Landsleuten die verlogene Kirchenmoral austreibt, findet der Kritiker "todlustig und schreiend traurig zugleich".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH