Produktdetails
- Verlag: Duncker & Humblot
- Neuaufl.
- Seitenzahl: 364
- Erscheinungstermin: 31. Juli 2001
- Deutsch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 788g
- ISBN-13: 9783428071265
- ISBN-10: 3428071263
- Artikelnr.: 04412235
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.1999Unheimliche Nähe: Carl Schmitt liest Walter Benjamin
Das Spiel der Infamien und die Textkeller der Väter: Im Jahr 1967 treffen sich die extremen Denker der Weimarer Republik in der Zeitschrift "Alternative"
Das Wort "Infamie" ist außer Gebrauch geraten. Vorbei die Zeiten, in denen cum infamia relegiert, dem Ausgeschlossenen soziale Schande angeheftet wurde. Das galt in Gesellschaften, in denen Ehrlosigkeit die größte Schmach bedeutete. Merkwürdig genug findet man das Wort "infam" auch auf Seite 132 des Marbacher Katalogs "Protest! Literatur um 1968". Es scheint eine harmlose Sprachwendung zu sein. Doch im Zusammenhang mit dem Streit um die Walter-Benjamin-Nummer, die die Zeitschrift "Alternative" im Dezember 1967 herausgegeben hatte, zeigt sich in dieser Wendung die interessante und verdunkelte Seite eines Generationskonflikts.
In der Literaturkritik sei 1967 der Vorwurf erhoben worden, heißt es im Katalog, Adorno habe in Benjamins Werk den Marxisten unterdrückt und auch im Spätwerk die frühe theologische Seite forciert. Statt philosophisch zu argumentieren, hätten Kritiker wie Helmut Heissenbüttel und Peter Hamm dem Editor anzulasten versucht, was ihnen an Benjamin gefehlt habe. Diese Kritik habe den Verdacht erzeugt, der überlebende kontroverse Briefpartner, Adorno, habe seine eigene Auffassung durchsetzen wollen. Diesen Verdacht nennt der Katalog "eine infame Unterstellung", die Adorno hätte verletzen müssen. Anschließend wird der Brief Adornos an Heissenbüttel vom 14. Mai 1967 abgedruckt, in dem zu lesen ist, dass Adorno den dialektischen Materialismus gegen Benjamin, der - im Gegensatz zu Adorno - "den wesentlichen Gehalt der Marxschen Theorie nicht verstanden hatte", immer habe verteidigen wollen. Der Marbacher Katalog schlägt sich also auf die Seite der Herausgeber der Werke Benjamins. Folglich hat auch die Editionskritik der Zeitschrift "Alternative" keine Chance. Das leidige Kapitel der Editionskritik beendet der Katalog wiederum mit einem Dokument der Herausgeber Tiedemann und Adorno, die zusammen mit ihrem Verleger Unseld einen Interimsbescheid erlassen, der feststellt, dass die "Alternative ohne jede Sachkenntnis, allein aus Publizitäts- und Geschäftsinteresse" gegen die Editionen polemisiert habe.
Überprüft man diese Behauptung im Marbacher Katalog mit dem von der Benjamin-Philologie inzwischen einhellig verachteten Heft 56/57 der "Alternative", so kann man einige Überraschungen erleben. Neben der Editionskritik, die bekanntlich bis heute virulent ist, werden sowohl die sprachphilosophischen Frühschriften wie die theologische Dimension späterer Texte diskutiert. Im Aufsatz von Hans Heinz Holz etwa wird Benjamins Denken aus der Sprachphilosophie des Namens entwickelt. Benjamin sei "ein talmudischer Schriftgelehrter . . ., eine Art marxistischer Rabbi" gewesen. Heinz Dieter Kittsteiner schließt seinen Artikel über die "Geschichtsphilosophischen Thesen" mit der Einsicht, dass in jedem Eingedenken des Katastrophischen theologisch geprüft werden müsse, ob das fatale Geschichtskontinuum der Herrschaft gesprengt werden könne.
Der Kommentar im Marbacher Katalog vergisst, dass im Verdacht der verdorbenen Edition der archäologische Furor der sechziger Jahre arbeitet. Es waren einige Texte ausgegraben worden, aus denen Sätze beim Wiederabdruck gelöscht worden waren. Das Eindringen in die verborgenen Textkeller der Väter machte vor keinem Halt.
Es versteht sich, dass die Autoren der Zeitschrift "Alternative" in manchem Artikel die Komplexität von Benjamins Texten reduzierten. Es kam - ich gehörte damals zu den Beiträgern - auf die Bewegungssuggestion an, die Benjamins Texte ausstrahlten. Es gibt einen Grad an Komplexität, der zur Lähmung jeder Motorik führt. Zum Handeln, meinten wir, gehöre ein bestimmtes Vergessen der Komplexität - diese Spruchweisheit setzt freilich voraus, dass das Stadium der labyrinthischen Gedankengänge erst einmal durchschritten wurde. Dass Texte ein Medium der Meditation der Ohnmacht seien, hatten wir von der kritischen Theorie gelernt. Den Bann dieser Denkfigur wollten wir verlassen.
Der hier skizzierte Streit zwischen den Frankfurter Benjamin-Herausgebern und den Redakteuren der "Alternative" hatte einen unsichtbaren Kombattanten. Durch ihn erhielt die Auseinandersetzung eine unheimliche Dimension, von der die Beteiligten nicht träumten. Carl Schmitt schrieb im Januar 1968 auf das Titelblatt seines "Alternative"-Heftes - unter Verweis auf einen Artikel von Heinz Dieter Kittsteiner: "Faschismus nicht zu entziehen". Die Nähe der Notiz zum Foto auf dem Unschlag, das Benjamin in seiner Exilzeit präsentiert, macht sie makaber.
1994 wurde mir aus Grimbergen in Belgien ohne weiteren Kommentar die Kopie eines Artikels, den ich 1967 geschrieben hatte, zugeschickt. Sein Absender war Professor Piet Tommissen, der Archivar aller "Schmittiana" und Sammler aller Denkwürdigkeiten und Rezeptionsdokumente, die ein Licht auf den Rechtsgelehrten werfen. Er konfrontierte mich mit Schmitts Lesespuren in dem alten Artikel der "Alternative". In einer Wendung gegen Adorno hieß es dort: "Im Kontinuum der Herrschaft scheinen die Kulturkritiker die Insider, die - im hermetischen Rückzugsgebiet der Kunst - den Anspruch erheben, den Ausgeschlossenen die Treue zu wahren. Wer zu den Ausgeschlossenen überlief, weil nur Kampf das Kontinuum hätte sprengen können, brauchte für Ächtung nicht zu sorgen. Walter Benjamin hat damit gerechnet, dass der Typ des Aufklärers, den er darstellte, der Großbourgeoisie als ,Verräter seiner Ursprungsklasse' gelten würde." Diese Passage hatte es Schmitt besonders angetan. Sie ist dick unterstrichen. Am Rande ist mit Druckbuchstaben das Wort "Ächtung" wiederholt. Carl Schmitt, damals 79 Jahre alt, hatte das ganze Heft durchgearbeitet. Den zitierten Artikel versah er mit unmissverständlichen Zeichen der Zustimmung.
Meine anfängliche Begeisterung über den prominenten Leser wich dem Erschrecken. Wie konnte einer, den wir damals nur als Infamen kannten, meinen Artikel mit Zustimmung lesen? Die Antwort lag nahe: Der unheimliche Anschluss ergab sich aus unserer Sprache!
Mich schockierte weniger die bizarre Identifikation von Carl Schmitt mit dem "von der Großbourgeoisie ausgeschlossenen" jüdischen Intellektuellen. Schmitt empfand sich bekanntlich, da ihm das Recht einer Professur abgesprochen worden war, als "Exilant" im Sauerland. Die Identifikation mit dem Schicksal Walter Benjamins war angesichts des Antisemitismus, den sein Nachkriegs-Glossarium bezeugt, seltsam genug. Vielmehr erschreckte mich die Einsicht, dass der Kontakt über die Schlüsselbegriffe "Verrat" und "Ächtung" hergestellt worden war - über Schmitts Genugtuung, dass die neue Generation es noch kannte.
Erst jetzt ist es mir - durch die freundliche Intervention von Helmuth Kiesel, die Erlaubnis von Joseph Kaiser und die wie immer spontane Hilfe von Piet Tommissen - gelungen, eine Kopie des ganzen durchgearbeiteten Heftes aus dem Schmitt-Nachlass zu erhalten. Auf dem Titelblatt oben links steht die Notiz "Klittstein Seite 251". Dann eine Zeile in nicht zu entziffernder Kurzschrift und das Zitat "Faschismus nicht zu entziehen sei". Mit diesen Einschreibungen ist das Spiel der Infamien eröffnet. Seine Spannung bezieht es nicht aus den spärlichen Kommentaren auf den knapp bemessenen weißen Rändern der Seiten. Ins Auge fallen vielmehr aberhundert Unterstreichungen, die das Heftinnere durchfurchen, durchsticheln, perforieren.
Aufschlussreich wird die Lektüre, wenn man Schmitts Unterstreichungen wie links in einem Hypertext behandelt. Die unterstrichenen Stellen sind dann Orte, an denen sich verschiedene Textwelten kreuzen: Hier verknüpft sich Benjamins Denken mit Motiven der Konservativen Revolution, ver- und entmischen sich Esoterik und Dezision, der jüdische Messianismus berührt die politische Anthropologie, Schmitts Konzept des Ausnahmezustands rückt in die Nachbarschaft von Oskar Goldbergs "Plötzlichkeitscharakter der jüdischen Metaphysik". Die durch Schraffuren, Nachzeichnungen der Buchstaben und Ausrufezeichen hergestellten Verwandtschaften sind Schwindel erregend.
Carl Schmitt hatte die Auseinandersetzung mit Adornos Edition seit 1955 gesucht. In einem Brief an Rüdiger Altmann schreibt er: "In meiner Schrift Hamlet oder Hekuba, zu der Sie sich damals (1956) geäußert haben, ist auf Seite 64 ein Brief Walter Benjamins an meine (in der Adorno'schen Benjamin-Ausgabe von 1955 ausradierten) Person gerichteter Brief vom Dezember 1930 erwähnt. Im Zusammenhang mit der Benjamin-Kontroverse zwischen Ost und West (vgl. auch das Heft Dezember 1967 der Zeitschrift ,Alternative', die meinen Namen aber nicht beseitigt) interessiert Sie vielleicht Benjamins Brief an mich im Wortlaut, zumal darin von ,Diktatur' die Rede ist. Ich füge also eine Fotokopie bei."
1968 registriert der Jurist Schmitt aufmerksam den Kampf der Archive um die richtige Lesart von Benjamins Schriften. Das Staatsarchiv der DDR, das erst 1983 öffentlich zugänglich sein wird, aber schon 1966 von Gershom Scholem besucht worden war, gewährte der "Alternative" Einblick in wichtige Beweisstücke. Dagegen war das Frankfurter Benjamin-Archiv Privatbesitz und konnte seinerzeit der Öffentlichkeit auf unabsehbare Zeit nicht zugänglich gemacht werden, da es, wie es hieß, "noch weit von einer zulänglichen Ordnung und Katalogisierung entfernt" sei. Offensichtlich nicht ohne Sarkasmus vermerkt Schmitt die verworrene Rechtslage.
Ein erster Überblick über die Markierungen und Annotationen Schmitts ergibt fünf Aufmerksamkeitsfelder. Schmitt verfolgt mit den Redakteuren den Kriminalfall einer Fälschung. Er konzentriert sich auf Benjamins Kritik am liberalen Bürgertum. Er rekonstruiert die Chronik eines radikalen Denkens durch Republik und Nationalsozialismus hindurch. Er beobachtet, wie die Logik des Extrems bei Benjamin in theologischen Denkfiguren gefasst wird. Er registriert, dass in der NS-Diktatur auch von den jugendlichen Redakteuren das Element der Kontinuität der Herrschaft betont wird. Auf allen Ebenen entdeckt Schmitt seine Schlüsselworte. Er scheint sich in Benjamins Texten wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. Einiges freilich überschlägt er. "Das Proletarische Kindertheater" vermag ihn nicht zu fesseln.
Helmut Heissenbüttel hatte im "Merkur" lange vor den "Alternative"-Heften geschrieben: "In allem, was Adorno für das Werk Benjamins getan hat, bleibt die marxistisch-materialistische Seite gelöscht." Schmitt interessierte sich brennend für diese Arbeit des Löschens, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg zum Pathos des Infamen gehörte: nichts zu löschen. Von seinem Tagebuch hatte er gefordert, dass es "Photokopien der Palimpseste" des Denkens speichere. Sein "Glossarium" aus den Jahren 1947 bis 1951 zeigt, wie monströs und jeder Gedächtniskultur zuwiderlaufend das Nichtlöschen aussieht. Die Spuren von Hugo Balls Dadaismus sind im "Glossarium" ebenso präsent wie sein aggressiver Antisemitismus; die Liebe zu Däublers Nordlicht-Dichtung scheint nicht ferner als die Anthropologie Thomas Hobbes'; die Rechtfertigung der Freund-Feind-Formel findet sich neben Vermerken über obsessive Kafka-Lektüre; die Verachtung für den "gerechten Krieg", der mit dem Vokabular des Pazifismus geführt wird und den Gegner zum pathologischen Fall macht, steht neben Kinderreimen; der Hochmut seines Wahlspruchs "Distinguo, ergo sum" findet sich neben der Einsicht, der Gewalt der Lautdimension der Sprachwelt ausgeliefert zu sein.
Schmitt interessiert nur oberflächlich der Kriminalfall der eventuellen Fälschung durch die Edition. Wichtiger ist ihm der Kult des Vergessens, der im Namen des Humanismus Personen "ausradiert", deren Denken auf intrikate Weise mit dem der neuen Idole verwoben war. Unzweifelhaft lässt er sich durch Ressentiments leiten, wenn er mit den studentischen Redakteuren die "nahezu ausweglose materielle Situation Benjamins" mit der "günstigen Position" vergleicht, in der sich die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung befinden, oder wenn er ihre Charakteristik durch Gershom Scholem unterstreicht: "Die Leute sind alle sehr intelligent und alle ein bißchen unreell." Monomanisch aber versieht er Benjamins Sätze am Rande immer wieder mit den historischen Daten, um zu klären, wann Benjamin Blanqui und Baudelaire zusammendachte, wann es zur "einschneidenden Begegnung mit Brecht" kam; wann der gefeierte Intellektuelle dem Proletariat eine historische Mission zumutete; bis wann dessen "Jugendtheologie" durch die Texte strahlte. Daher neben Schlüsselzitaten die Wiederholung des Datums: Jede Denkfigur hat einen historischen Index in der Chronik der vergessenen Konstruktionen der Zukunft.
Wenn Benjamin an Max Rychner schreibt: "Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn", so überprüft Schmitt die Briefstelle und schreibt an den Rand: 7. 3. 1931. Dass Benjamins "Gedanken- und Bildermasse" theologischen Ursprungs ist und in der Verbindung mit marxistischen oder surrealistischen Elementen nicht weggeschmolzen wurde, leuchtet Schmitt ein, weil er dies auch für sein Denken beansprucht.
Wenn Adorno in einem Brief an Benjamin moniert, dieser tue sich Gewalt an, "um dem Marxismus Tribut zu zollen, die weder diesen noch Ihnen anschlagen", so ist das nicht nur eine Unterstreichung wert, sondern die Randbemerkung: "Politische Theologie". Denn nicht die restlose Verschmelzung von Politik und Theologie hat es Schmitt angetan, sondern er beansprucht für sich, was Benjamin zugebilligt wird: eine gewaltsame Konfiguration beider Elemente riskiert zu haben.
Daher ist seine Lage als Beobachter des von den Studenten neu inszenierten Streits zwischen Adorno und Benjamin paradox: Mit Adorno unterstreicht er die Wichtigkeit der Restitution des "theologischen Glutkerns". Diese soll freilich nicht in Kontemplation münden. Darum betont er mit Benjamin die theologische Denkfigur der Sprengung des Herrschaftskontinuums im schieren Jetzt. Im Übrigen düpiert es den Rechtsgelehrten keineswegs, dass Ernst Jünger von Walter Benjamin zu den "Habitués chthonischer Schreckensmächte" gerechnet wurde. Man weiß, dass er immer wieder Zeiten kannte, in denen ihm jedes Schmähwort für den Freund recht war.
Schmitt spürt in Benjamins Werk das Klima der Politischen Theologie, in dem er sich heimisch fühlt: Hier ist ein Raum ohne Psychologie und ohne die Austauschsphäre des liberalen Bürgertums. Ein Raum, in dem sich die Logik des Extrems imaginativ entfalten darf und "exzentrische Sprünge" in unmittelbare Praxis empfohlen werden. Schmitt findet im Denken der "Alternative" Denkfiguren, die ihm verteufelt vertraut vorkommen. Das ermöglicht seine sympathetische Lesart. Insofern wiederholt sich eine Konstellation der zwanziger Jahre, in denen ähnliche Denkfiguren alle politischen Lager durchquerten. Das "Denken in Extremen", das Walter Benjamin am Buch "Politik und Metaphysik" (1921) des jüdischen Gelehrten Erich Unger faszinierte, hatte demokratieferne Haltungen geprägt, die nicht an eine bestimmte Partei gebunden waren. Die Distanzierung vom Parlamentarismus als einem "Theater der Unentschlossenheit", die Kritik am "Chaotischen" der demokratischen Ordnungen und vor allem die Verachtung lebbarer Kompromisse: Das waren gleichsam die Erkennungszeichen einer intellektuellen Elite gewesen, an die Schmitt sich bei der Lektüre erinnert haben könnte.
Die kryptische Notiz auf dem Titelblatt der Zeitschrift bezieht sich auf den Artikel über die "Geschichtsphilosophischen Thesen" von Heinz Dieter Kittsteiner. Unter die Überschrift notiert Schmitt einen Haupteinwand gegen den Artikel: "verschweigt Methode der Weltpolitik Nihilismus. Illuminat. Seite 281. Aufgabe: Glück im Vergängnis". Schmitt bezieht sich auf die letzten Sätze des frühen "Theologisch-politischen Fragments", das in der Ausgabe der "Illuminationen", die Schmitt zugrunde legt, unmittelbar hinter den "Thesen" abgedruckt ist. In diesem Fragment wird Glück im "Rhythmus der messianischen Natur" der Vergänglichkeit gesucht: "Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat." Das sind dunkel raunende Sätze. Heute wird ihr Sinn im Kontext der jüdischen Gelehrten Oskar Goldberg, Erich Unger, Gershom Scholem und anderer mühsam rekonstruiert. Damals verbanden sich mit diesen Namen Textwelten, die in einem geheimen oder offenen Austausch zum politischen Denken der Zeit standen. In der Berliner Wohnung von Erich Unger (Uhlandstraße/Ecke Kurfürstendamm), dessen Buch "Politik und Metaphysik" Benjamin 1921 für "die bedeutendste Schrift über Politik" hielt, gingen bis 1933 jüdische und linke Theoretiker und Schriftsteller wie Karl Korsch, Alfred Döblin und Robert Musil ein und aus. Die Textwelten der radikalen Intelligenz der zwanziger Jahre sind solche offenen Häuser. Klingen heute die Sätze von Benjamins "Theologisch-politischem Fragment" undurchdringlich, hermetisch, so begreift Schmitt sie als einen Denkraum, den er begehen kann, weil er sich mit seiner Politischen Theologie berührt. Die Austauschsphäre der Weimarer Republik muss in all ihren Monstrositäten rekonstruiert werden, auch wenn diese Erinnerungsarbeit der jakobinischen Gedächtnispolitik widerspricht.
Da in Kittsteiners Artikel als einzigem "Faschismus-Analysen" abgehandelt werden, verspricht die Stellungnahme Schmitts hier besonders interessant zu werden. Aber: Carl Schmitt unterstreicht. Er unterstreicht alle Passagen, in denen die NS-Diktatur als Kontinuum der Herrschaft begriffen, in ihm kein magischer Einschnitt, sondern Fortsetzung des kapitalistischen Alltags erkannt wird. Er unterstreicht doppelt, wenn Kittsteiner formuliert: Der Faschismus habe den Ausnahmezustand "gefeiert" - mit der expressiven Fassung des Ausnahmezustands mag er am allerwenigsten gerechnet haben. Er scheint es auch - wie Kittsteiner - für möglich zu halten, dass der Satz, den Adorno gelöscht hatte, sich in der NS-Diktatur hatte verwirklichen können. Benjamin hatte in dem inkriminierten Satz davon gesprochen, dass das Proletariat "das nüchterne Kind" sei, "das in der Technik einen Schlüssel zum Glück" finden könne. Aber Schmitt unterstreicht auch die völlige Andersheit des Nationalsozialismus, der, Benjamin zufolge, auch die Toten ausrotten will, um jedes Element der Erlösung auszulöschen.
Nachdem Kittsteiner ein Textbild theologischer Denkfiguren der Kontemplation anheim gestellt hat, springt er am Schluss des Artikels in die Jetztzeit. Wenn es um die Unterbrechung des lähmenden Kontinuums der Geschichtszeit ging, für die der "Historismus" verantwortlich gemacht wurde, durfte die Theologie dienstbar gemacht werden.
Carl Schmitts Interesse entzündet sich augenscheinlich an der "Prävalenz der Theologie" in Benjamins Denken. Schlecht zu unterscheiden, ob Schmitt im Zuge der Unterstreichungen die Differenzen verwischen will, ob er mit der Einverleibung des fremden Konzepts sein eigenes revitalisieren möchte oder ob er, im Bewusstsein der Unterschiede, sein eigenes Konzept auf Spiel setzt.
Die Verwischung der Grenzen wird besonders deutlich, wenn er den Terminus "Ausnahmezustand" jedes Mal wie einen alten Bekannten begrüßt. Für Benjamin bedeutete der "Ausnahmezustand" aber stets die Unterbrechung einer fatalen Kontinuität, er bildet bei ihm den Erwartungsraum einer neuen Ordnung. Bei Schmitt wird im "Ausnahmezustand" das Recht suspendiert, um die Kontinuität des Staats zu bewahren. Das bezeugen seine Kommentare zu den Meutereien und Rebellionen der Jahre 1917 und 1918; das erklärt seine Kommentar zu den Befugnissen des Reichspräsidenten. Während Walter Benjamin erkennt, dass die NS-Diktatur keine Unterbrechung, sondern die Kontinuität einer Wirtschaftsform bewirkt, bewährte sich Carl Schmitt auch hier als "Hüter des Kontinuums".
Dem neunundsiebzigjährigen Unterstreicher scheint das einerlei. Als ob er sich dem Schwindel der Familienähnlichkeit der Vokabeln überließe. Nicht ohne Neid wird er die Rezeption des jüdischen Schriftstellers in den sechziger Jahren verfolgt haben: Welches Glück widerfuhr Benjamin damit, während er, der verfemte Schmitt mit seinen Thesen, für ewig im Katastrophischen eingebettet bleiben soll.
Welches Glück widerfährt Benjamin, dass die theologische Dimension seines Denkens als Indiz einer "metaphysischen Konzeption" (Adorno) behandelt wurde, die den materialistisch Unbeschlagenen der schrecklichen Praxis der Radikalen entrückte, während Schmitt, der ebenfalls in allen wichtigen "spirituellen Dingen" säkularisierte Begriffe der Theologie erkannte, sich vom Schauplatz der Unentschlossenheit entfernte, freilich nicht, um zum einsamen Sprung des Dezisionisten anzusetzen, sondern um sich der Gefolgschaft der finster Entschlossenen anzuschließen und ihre Macht zu legitimieren. Eine kleine Differenz, würde Adorno ironisch sagen: aber "ein Unterschied ums Ganze".
Fixieren die Unterstreichungen einerseits Korrespondenzen und Differenzen beider Denker als "fixe Punkte im Gewesenen", bieten sie gleichzeitig in der Überschreibung zweier Texte die Chance, dass der eine Text, weil Ähnlichkeit behauptet wird, den anderen unterwandert.
Ich hatte vorgeschlagen, diesen von einem nicht implizierten Leser durchlöcherten Zeitschriften-Text nach der Art eines Hypertextes zu lesen, so dass sich von jedem unterstrichenen Wort und jeder unterstrichenen Zeile Traversen und Passagen zu anderen Textwelten erschließen. Allerdings kurven wir mit diesem Verfahren in einer Welt von Texten und bleiben in deren Horizonten, wenn wir sie nicht historistisch als "fixen Punkt im Gewesenen", sondern zum Einfallpunkt eines "erwachten Bewusstseins" machen. Dem mag eine Selbsthistorisierung dienen, die das Ausschlussspiel der Infamien aufatmend verlässt.
HELMUT LETHEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Spiel der Infamien und die Textkeller der Väter: Im Jahr 1967 treffen sich die extremen Denker der Weimarer Republik in der Zeitschrift "Alternative"
Das Wort "Infamie" ist außer Gebrauch geraten. Vorbei die Zeiten, in denen cum infamia relegiert, dem Ausgeschlossenen soziale Schande angeheftet wurde. Das galt in Gesellschaften, in denen Ehrlosigkeit die größte Schmach bedeutete. Merkwürdig genug findet man das Wort "infam" auch auf Seite 132 des Marbacher Katalogs "Protest! Literatur um 1968". Es scheint eine harmlose Sprachwendung zu sein. Doch im Zusammenhang mit dem Streit um die Walter-Benjamin-Nummer, die die Zeitschrift "Alternative" im Dezember 1967 herausgegeben hatte, zeigt sich in dieser Wendung die interessante und verdunkelte Seite eines Generationskonflikts.
In der Literaturkritik sei 1967 der Vorwurf erhoben worden, heißt es im Katalog, Adorno habe in Benjamins Werk den Marxisten unterdrückt und auch im Spätwerk die frühe theologische Seite forciert. Statt philosophisch zu argumentieren, hätten Kritiker wie Helmut Heissenbüttel und Peter Hamm dem Editor anzulasten versucht, was ihnen an Benjamin gefehlt habe. Diese Kritik habe den Verdacht erzeugt, der überlebende kontroverse Briefpartner, Adorno, habe seine eigene Auffassung durchsetzen wollen. Diesen Verdacht nennt der Katalog "eine infame Unterstellung", die Adorno hätte verletzen müssen. Anschließend wird der Brief Adornos an Heissenbüttel vom 14. Mai 1967 abgedruckt, in dem zu lesen ist, dass Adorno den dialektischen Materialismus gegen Benjamin, der - im Gegensatz zu Adorno - "den wesentlichen Gehalt der Marxschen Theorie nicht verstanden hatte", immer habe verteidigen wollen. Der Marbacher Katalog schlägt sich also auf die Seite der Herausgeber der Werke Benjamins. Folglich hat auch die Editionskritik der Zeitschrift "Alternative" keine Chance. Das leidige Kapitel der Editionskritik beendet der Katalog wiederum mit einem Dokument der Herausgeber Tiedemann und Adorno, die zusammen mit ihrem Verleger Unseld einen Interimsbescheid erlassen, der feststellt, dass die "Alternative ohne jede Sachkenntnis, allein aus Publizitäts- und Geschäftsinteresse" gegen die Editionen polemisiert habe.
Überprüft man diese Behauptung im Marbacher Katalog mit dem von der Benjamin-Philologie inzwischen einhellig verachteten Heft 56/57 der "Alternative", so kann man einige Überraschungen erleben. Neben der Editionskritik, die bekanntlich bis heute virulent ist, werden sowohl die sprachphilosophischen Frühschriften wie die theologische Dimension späterer Texte diskutiert. Im Aufsatz von Hans Heinz Holz etwa wird Benjamins Denken aus der Sprachphilosophie des Namens entwickelt. Benjamin sei "ein talmudischer Schriftgelehrter . . ., eine Art marxistischer Rabbi" gewesen. Heinz Dieter Kittsteiner schließt seinen Artikel über die "Geschichtsphilosophischen Thesen" mit der Einsicht, dass in jedem Eingedenken des Katastrophischen theologisch geprüft werden müsse, ob das fatale Geschichtskontinuum der Herrschaft gesprengt werden könne.
Der Kommentar im Marbacher Katalog vergisst, dass im Verdacht der verdorbenen Edition der archäologische Furor der sechziger Jahre arbeitet. Es waren einige Texte ausgegraben worden, aus denen Sätze beim Wiederabdruck gelöscht worden waren. Das Eindringen in die verborgenen Textkeller der Väter machte vor keinem Halt.
Es versteht sich, dass die Autoren der Zeitschrift "Alternative" in manchem Artikel die Komplexität von Benjamins Texten reduzierten. Es kam - ich gehörte damals zu den Beiträgern - auf die Bewegungssuggestion an, die Benjamins Texte ausstrahlten. Es gibt einen Grad an Komplexität, der zur Lähmung jeder Motorik führt. Zum Handeln, meinten wir, gehöre ein bestimmtes Vergessen der Komplexität - diese Spruchweisheit setzt freilich voraus, dass das Stadium der labyrinthischen Gedankengänge erst einmal durchschritten wurde. Dass Texte ein Medium der Meditation der Ohnmacht seien, hatten wir von der kritischen Theorie gelernt. Den Bann dieser Denkfigur wollten wir verlassen.
Der hier skizzierte Streit zwischen den Frankfurter Benjamin-Herausgebern und den Redakteuren der "Alternative" hatte einen unsichtbaren Kombattanten. Durch ihn erhielt die Auseinandersetzung eine unheimliche Dimension, von der die Beteiligten nicht träumten. Carl Schmitt schrieb im Januar 1968 auf das Titelblatt seines "Alternative"-Heftes - unter Verweis auf einen Artikel von Heinz Dieter Kittsteiner: "Faschismus nicht zu entziehen". Die Nähe der Notiz zum Foto auf dem Unschlag, das Benjamin in seiner Exilzeit präsentiert, macht sie makaber.
1994 wurde mir aus Grimbergen in Belgien ohne weiteren Kommentar die Kopie eines Artikels, den ich 1967 geschrieben hatte, zugeschickt. Sein Absender war Professor Piet Tommissen, der Archivar aller "Schmittiana" und Sammler aller Denkwürdigkeiten und Rezeptionsdokumente, die ein Licht auf den Rechtsgelehrten werfen. Er konfrontierte mich mit Schmitts Lesespuren in dem alten Artikel der "Alternative". In einer Wendung gegen Adorno hieß es dort: "Im Kontinuum der Herrschaft scheinen die Kulturkritiker die Insider, die - im hermetischen Rückzugsgebiet der Kunst - den Anspruch erheben, den Ausgeschlossenen die Treue zu wahren. Wer zu den Ausgeschlossenen überlief, weil nur Kampf das Kontinuum hätte sprengen können, brauchte für Ächtung nicht zu sorgen. Walter Benjamin hat damit gerechnet, dass der Typ des Aufklärers, den er darstellte, der Großbourgeoisie als ,Verräter seiner Ursprungsklasse' gelten würde." Diese Passage hatte es Schmitt besonders angetan. Sie ist dick unterstrichen. Am Rande ist mit Druckbuchstaben das Wort "Ächtung" wiederholt. Carl Schmitt, damals 79 Jahre alt, hatte das ganze Heft durchgearbeitet. Den zitierten Artikel versah er mit unmissverständlichen Zeichen der Zustimmung.
Meine anfängliche Begeisterung über den prominenten Leser wich dem Erschrecken. Wie konnte einer, den wir damals nur als Infamen kannten, meinen Artikel mit Zustimmung lesen? Die Antwort lag nahe: Der unheimliche Anschluss ergab sich aus unserer Sprache!
Mich schockierte weniger die bizarre Identifikation von Carl Schmitt mit dem "von der Großbourgeoisie ausgeschlossenen" jüdischen Intellektuellen. Schmitt empfand sich bekanntlich, da ihm das Recht einer Professur abgesprochen worden war, als "Exilant" im Sauerland. Die Identifikation mit dem Schicksal Walter Benjamins war angesichts des Antisemitismus, den sein Nachkriegs-Glossarium bezeugt, seltsam genug. Vielmehr erschreckte mich die Einsicht, dass der Kontakt über die Schlüsselbegriffe "Verrat" und "Ächtung" hergestellt worden war - über Schmitts Genugtuung, dass die neue Generation es noch kannte.
Erst jetzt ist es mir - durch die freundliche Intervention von Helmuth Kiesel, die Erlaubnis von Joseph Kaiser und die wie immer spontane Hilfe von Piet Tommissen - gelungen, eine Kopie des ganzen durchgearbeiteten Heftes aus dem Schmitt-Nachlass zu erhalten. Auf dem Titelblatt oben links steht die Notiz "Klittstein Seite 251". Dann eine Zeile in nicht zu entziffernder Kurzschrift und das Zitat "Faschismus nicht zu entziehen sei". Mit diesen Einschreibungen ist das Spiel der Infamien eröffnet. Seine Spannung bezieht es nicht aus den spärlichen Kommentaren auf den knapp bemessenen weißen Rändern der Seiten. Ins Auge fallen vielmehr aberhundert Unterstreichungen, die das Heftinnere durchfurchen, durchsticheln, perforieren.
Aufschlussreich wird die Lektüre, wenn man Schmitts Unterstreichungen wie links in einem Hypertext behandelt. Die unterstrichenen Stellen sind dann Orte, an denen sich verschiedene Textwelten kreuzen: Hier verknüpft sich Benjamins Denken mit Motiven der Konservativen Revolution, ver- und entmischen sich Esoterik und Dezision, der jüdische Messianismus berührt die politische Anthropologie, Schmitts Konzept des Ausnahmezustands rückt in die Nachbarschaft von Oskar Goldbergs "Plötzlichkeitscharakter der jüdischen Metaphysik". Die durch Schraffuren, Nachzeichnungen der Buchstaben und Ausrufezeichen hergestellten Verwandtschaften sind Schwindel erregend.
Carl Schmitt hatte die Auseinandersetzung mit Adornos Edition seit 1955 gesucht. In einem Brief an Rüdiger Altmann schreibt er: "In meiner Schrift Hamlet oder Hekuba, zu der Sie sich damals (1956) geäußert haben, ist auf Seite 64 ein Brief Walter Benjamins an meine (in der Adorno'schen Benjamin-Ausgabe von 1955 ausradierten) Person gerichteter Brief vom Dezember 1930 erwähnt. Im Zusammenhang mit der Benjamin-Kontroverse zwischen Ost und West (vgl. auch das Heft Dezember 1967 der Zeitschrift ,Alternative', die meinen Namen aber nicht beseitigt) interessiert Sie vielleicht Benjamins Brief an mich im Wortlaut, zumal darin von ,Diktatur' die Rede ist. Ich füge also eine Fotokopie bei."
1968 registriert der Jurist Schmitt aufmerksam den Kampf der Archive um die richtige Lesart von Benjamins Schriften. Das Staatsarchiv der DDR, das erst 1983 öffentlich zugänglich sein wird, aber schon 1966 von Gershom Scholem besucht worden war, gewährte der "Alternative" Einblick in wichtige Beweisstücke. Dagegen war das Frankfurter Benjamin-Archiv Privatbesitz und konnte seinerzeit der Öffentlichkeit auf unabsehbare Zeit nicht zugänglich gemacht werden, da es, wie es hieß, "noch weit von einer zulänglichen Ordnung und Katalogisierung entfernt" sei. Offensichtlich nicht ohne Sarkasmus vermerkt Schmitt die verworrene Rechtslage.
Ein erster Überblick über die Markierungen und Annotationen Schmitts ergibt fünf Aufmerksamkeitsfelder. Schmitt verfolgt mit den Redakteuren den Kriminalfall einer Fälschung. Er konzentriert sich auf Benjamins Kritik am liberalen Bürgertum. Er rekonstruiert die Chronik eines radikalen Denkens durch Republik und Nationalsozialismus hindurch. Er beobachtet, wie die Logik des Extrems bei Benjamin in theologischen Denkfiguren gefasst wird. Er registriert, dass in der NS-Diktatur auch von den jugendlichen Redakteuren das Element der Kontinuität der Herrschaft betont wird. Auf allen Ebenen entdeckt Schmitt seine Schlüsselworte. Er scheint sich in Benjamins Texten wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. Einiges freilich überschlägt er. "Das Proletarische Kindertheater" vermag ihn nicht zu fesseln.
Helmut Heissenbüttel hatte im "Merkur" lange vor den "Alternative"-Heften geschrieben: "In allem, was Adorno für das Werk Benjamins getan hat, bleibt die marxistisch-materialistische Seite gelöscht." Schmitt interessierte sich brennend für diese Arbeit des Löschens, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg zum Pathos des Infamen gehörte: nichts zu löschen. Von seinem Tagebuch hatte er gefordert, dass es "Photokopien der Palimpseste" des Denkens speichere. Sein "Glossarium" aus den Jahren 1947 bis 1951 zeigt, wie monströs und jeder Gedächtniskultur zuwiderlaufend das Nichtlöschen aussieht. Die Spuren von Hugo Balls Dadaismus sind im "Glossarium" ebenso präsent wie sein aggressiver Antisemitismus; die Liebe zu Däublers Nordlicht-Dichtung scheint nicht ferner als die Anthropologie Thomas Hobbes'; die Rechtfertigung der Freund-Feind-Formel findet sich neben Vermerken über obsessive Kafka-Lektüre; die Verachtung für den "gerechten Krieg", der mit dem Vokabular des Pazifismus geführt wird und den Gegner zum pathologischen Fall macht, steht neben Kinderreimen; der Hochmut seines Wahlspruchs "Distinguo, ergo sum" findet sich neben der Einsicht, der Gewalt der Lautdimension der Sprachwelt ausgeliefert zu sein.
Schmitt interessiert nur oberflächlich der Kriminalfall der eventuellen Fälschung durch die Edition. Wichtiger ist ihm der Kult des Vergessens, der im Namen des Humanismus Personen "ausradiert", deren Denken auf intrikate Weise mit dem der neuen Idole verwoben war. Unzweifelhaft lässt er sich durch Ressentiments leiten, wenn er mit den studentischen Redakteuren die "nahezu ausweglose materielle Situation Benjamins" mit der "günstigen Position" vergleicht, in der sich die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung befinden, oder wenn er ihre Charakteristik durch Gershom Scholem unterstreicht: "Die Leute sind alle sehr intelligent und alle ein bißchen unreell." Monomanisch aber versieht er Benjamins Sätze am Rande immer wieder mit den historischen Daten, um zu klären, wann Benjamin Blanqui und Baudelaire zusammendachte, wann es zur "einschneidenden Begegnung mit Brecht" kam; wann der gefeierte Intellektuelle dem Proletariat eine historische Mission zumutete; bis wann dessen "Jugendtheologie" durch die Texte strahlte. Daher neben Schlüsselzitaten die Wiederholung des Datums: Jede Denkfigur hat einen historischen Index in der Chronik der vergessenen Konstruktionen der Zukunft.
Wenn Benjamin an Max Rychner schreibt: "Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn", so überprüft Schmitt die Briefstelle und schreibt an den Rand: 7. 3. 1931. Dass Benjamins "Gedanken- und Bildermasse" theologischen Ursprungs ist und in der Verbindung mit marxistischen oder surrealistischen Elementen nicht weggeschmolzen wurde, leuchtet Schmitt ein, weil er dies auch für sein Denken beansprucht.
Wenn Adorno in einem Brief an Benjamin moniert, dieser tue sich Gewalt an, "um dem Marxismus Tribut zu zollen, die weder diesen noch Ihnen anschlagen", so ist das nicht nur eine Unterstreichung wert, sondern die Randbemerkung: "Politische Theologie". Denn nicht die restlose Verschmelzung von Politik und Theologie hat es Schmitt angetan, sondern er beansprucht für sich, was Benjamin zugebilligt wird: eine gewaltsame Konfiguration beider Elemente riskiert zu haben.
Daher ist seine Lage als Beobachter des von den Studenten neu inszenierten Streits zwischen Adorno und Benjamin paradox: Mit Adorno unterstreicht er die Wichtigkeit der Restitution des "theologischen Glutkerns". Diese soll freilich nicht in Kontemplation münden. Darum betont er mit Benjamin die theologische Denkfigur der Sprengung des Herrschaftskontinuums im schieren Jetzt. Im Übrigen düpiert es den Rechtsgelehrten keineswegs, dass Ernst Jünger von Walter Benjamin zu den "Habitués chthonischer Schreckensmächte" gerechnet wurde. Man weiß, dass er immer wieder Zeiten kannte, in denen ihm jedes Schmähwort für den Freund recht war.
Schmitt spürt in Benjamins Werk das Klima der Politischen Theologie, in dem er sich heimisch fühlt: Hier ist ein Raum ohne Psychologie und ohne die Austauschsphäre des liberalen Bürgertums. Ein Raum, in dem sich die Logik des Extrems imaginativ entfalten darf und "exzentrische Sprünge" in unmittelbare Praxis empfohlen werden. Schmitt findet im Denken der "Alternative" Denkfiguren, die ihm verteufelt vertraut vorkommen. Das ermöglicht seine sympathetische Lesart. Insofern wiederholt sich eine Konstellation der zwanziger Jahre, in denen ähnliche Denkfiguren alle politischen Lager durchquerten. Das "Denken in Extremen", das Walter Benjamin am Buch "Politik und Metaphysik" (1921) des jüdischen Gelehrten Erich Unger faszinierte, hatte demokratieferne Haltungen geprägt, die nicht an eine bestimmte Partei gebunden waren. Die Distanzierung vom Parlamentarismus als einem "Theater der Unentschlossenheit", die Kritik am "Chaotischen" der demokratischen Ordnungen und vor allem die Verachtung lebbarer Kompromisse: Das waren gleichsam die Erkennungszeichen einer intellektuellen Elite gewesen, an die Schmitt sich bei der Lektüre erinnert haben könnte.
Die kryptische Notiz auf dem Titelblatt der Zeitschrift bezieht sich auf den Artikel über die "Geschichtsphilosophischen Thesen" von Heinz Dieter Kittsteiner. Unter die Überschrift notiert Schmitt einen Haupteinwand gegen den Artikel: "verschweigt Methode der Weltpolitik Nihilismus. Illuminat. Seite 281. Aufgabe: Glück im Vergängnis". Schmitt bezieht sich auf die letzten Sätze des frühen "Theologisch-politischen Fragments", das in der Ausgabe der "Illuminationen", die Schmitt zugrunde legt, unmittelbar hinter den "Thesen" abgedruckt ist. In diesem Fragment wird Glück im "Rhythmus der messianischen Natur" der Vergänglichkeit gesucht: "Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat." Das sind dunkel raunende Sätze. Heute wird ihr Sinn im Kontext der jüdischen Gelehrten Oskar Goldberg, Erich Unger, Gershom Scholem und anderer mühsam rekonstruiert. Damals verbanden sich mit diesen Namen Textwelten, die in einem geheimen oder offenen Austausch zum politischen Denken der Zeit standen. In der Berliner Wohnung von Erich Unger (Uhlandstraße/Ecke Kurfürstendamm), dessen Buch "Politik und Metaphysik" Benjamin 1921 für "die bedeutendste Schrift über Politik" hielt, gingen bis 1933 jüdische und linke Theoretiker und Schriftsteller wie Karl Korsch, Alfred Döblin und Robert Musil ein und aus. Die Textwelten der radikalen Intelligenz der zwanziger Jahre sind solche offenen Häuser. Klingen heute die Sätze von Benjamins "Theologisch-politischem Fragment" undurchdringlich, hermetisch, so begreift Schmitt sie als einen Denkraum, den er begehen kann, weil er sich mit seiner Politischen Theologie berührt. Die Austauschsphäre der Weimarer Republik muss in all ihren Monstrositäten rekonstruiert werden, auch wenn diese Erinnerungsarbeit der jakobinischen Gedächtnispolitik widerspricht.
Da in Kittsteiners Artikel als einzigem "Faschismus-Analysen" abgehandelt werden, verspricht die Stellungnahme Schmitts hier besonders interessant zu werden. Aber: Carl Schmitt unterstreicht. Er unterstreicht alle Passagen, in denen die NS-Diktatur als Kontinuum der Herrschaft begriffen, in ihm kein magischer Einschnitt, sondern Fortsetzung des kapitalistischen Alltags erkannt wird. Er unterstreicht doppelt, wenn Kittsteiner formuliert: Der Faschismus habe den Ausnahmezustand "gefeiert" - mit der expressiven Fassung des Ausnahmezustands mag er am allerwenigsten gerechnet haben. Er scheint es auch - wie Kittsteiner - für möglich zu halten, dass der Satz, den Adorno gelöscht hatte, sich in der NS-Diktatur hatte verwirklichen können. Benjamin hatte in dem inkriminierten Satz davon gesprochen, dass das Proletariat "das nüchterne Kind" sei, "das in der Technik einen Schlüssel zum Glück" finden könne. Aber Schmitt unterstreicht auch die völlige Andersheit des Nationalsozialismus, der, Benjamin zufolge, auch die Toten ausrotten will, um jedes Element der Erlösung auszulöschen.
Nachdem Kittsteiner ein Textbild theologischer Denkfiguren der Kontemplation anheim gestellt hat, springt er am Schluss des Artikels in die Jetztzeit. Wenn es um die Unterbrechung des lähmenden Kontinuums der Geschichtszeit ging, für die der "Historismus" verantwortlich gemacht wurde, durfte die Theologie dienstbar gemacht werden.
Carl Schmitts Interesse entzündet sich augenscheinlich an der "Prävalenz der Theologie" in Benjamins Denken. Schlecht zu unterscheiden, ob Schmitt im Zuge der Unterstreichungen die Differenzen verwischen will, ob er mit der Einverleibung des fremden Konzepts sein eigenes revitalisieren möchte oder ob er, im Bewusstsein der Unterschiede, sein eigenes Konzept auf Spiel setzt.
Die Verwischung der Grenzen wird besonders deutlich, wenn er den Terminus "Ausnahmezustand" jedes Mal wie einen alten Bekannten begrüßt. Für Benjamin bedeutete der "Ausnahmezustand" aber stets die Unterbrechung einer fatalen Kontinuität, er bildet bei ihm den Erwartungsraum einer neuen Ordnung. Bei Schmitt wird im "Ausnahmezustand" das Recht suspendiert, um die Kontinuität des Staats zu bewahren. Das bezeugen seine Kommentare zu den Meutereien und Rebellionen der Jahre 1917 und 1918; das erklärt seine Kommentar zu den Befugnissen des Reichspräsidenten. Während Walter Benjamin erkennt, dass die NS-Diktatur keine Unterbrechung, sondern die Kontinuität einer Wirtschaftsform bewirkt, bewährte sich Carl Schmitt auch hier als "Hüter des Kontinuums".
Dem neunundsiebzigjährigen Unterstreicher scheint das einerlei. Als ob er sich dem Schwindel der Familienähnlichkeit der Vokabeln überließe. Nicht ohne Neid wird er die Rezeption des jüdischen Schriftstellers in den sechziger Jahren verfolgt haben: Welches Glück widerfuhr Benjamin damit, während er, der verfemte Schmitt mit seinen Thesen, für ewig im Katastrophischen eingebettet bleiben soll.
Welches Glück widerfährt Benjamin, dass die theologische Dimension seines Denkens als Indiz einer "metaphysischen Konzeption" (Adorno) behandelt wurde, die den materialistisch Unbeschlagenen der schrecklichen Praxis der Radikalen entrückte, während Schmitt, der ebenfalls in allen wichtigen "spirituellen Dingen" säkularisierte Begriffe der Theologie erkannte, sich vom Schauplatz der Unentschlossenheit entfernte, freilich nicht, um zum einsamen Sprung des Dezisionisten anzusetzen, sondern um sich der Gefolgschaft der finster Entschlossenen anzuschließen und ihre Macht zu legitimieren. Eine kleine Differenz, würde Adorno ironisch sagen: aber "ein Unterschied ums Ganze".
Fixieren die Unterstreichungen einerseits Korrespondenzen und Differenzen beider Denker als "fixe Punkte im Gewesenen", bieten sie gleichzeitig in der Überschreibung zweier Texte die Chance, dass der eine Text, weil Ähnlichkeit behauptet wird, den anderen unterwandert.
Ich hatte vorgeschlagen, diesen von einem nicht implizierten Leser durchlöcherten Zeitschriften-Text nach der Art eines Hypertextes zu lesen, so dass sich von jedem unterstrichenen Wort und jeder unterstrichenen Zeile Traversen und Passagen zu anderen Textwelten erschließen. Allerdings kurven wir mit diesem Verfahren in einer Welt von Texten und bleiben in deren Horizonten, wenn wir sie nicht historistisch als "fixen Punkt im Gewesenen", sondern zum Einfallpunkt eines "erwachten Bewusstseins" machen. Dem mag eine Selbsthistorisierung dienen, die das Ausschlussspiel der Infamien aufatmend verlässt.
HELMUT LETHEN
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