Menschenmöglich ist nicht das vollkommene Glück, sondern - inmitten von Übeln - das unvollkommene: das 'Glück im Unglück'. Die Menschen sind endlich. Sie sind seinsmäßig nicht so gut gestellt, dass sie es sich leisten könnten, das Unvollkommene zu verschmähen. Denn das absolut Vollkommene haben sie nicht und würden es auch nicht aushalten. Sie brauchen Entlastung vom Absoluten und dafür das Unvollkommene: vielleicht sogar auch jene unvollkommene Apologie des Unvollkommenen, die dieses Buch ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1995Die bedingte Kapitulation
Odo Marquard versucht, die Ansprüche der Vernunft zu mäßigen
Neun Aufsätze und Vorträge aus siebzehn Jahren, so angeordnet, daß sie sich gegenseitig zu dem ergänzen, was der Autor in seiner Vorbemerkung skizziert: eine (unvollkommene) "Verteidigung des Unvollkommenen" gegen Absolutheitsansprüche.
Der erste Beitrag greift philosophiehistorisch bis auf Leibniz zurück, um am Beispiel des philosophischen Fragens nach Glück und Unglück aufzuzeigen, wie der Anspruch, das Unglück in der Welt zu rechtfertigen, zweimal gescheitert ist. Der einzelne, der nichts hat als dieses eine endliche Leben, kann nicht darüber hinweggetröstet werden, wenn er in seinem Glücksverlangen enttäuscht wird: Sein persönliches Unglück ist nicht rechtfertigbar, weder als notwendiges Übel in der von einem guten Gott geschaffenen besten aller möglichen Welten noch (das war der zweite Versuch) als Eintrittspreis, der in der von Menschen gemachten geschichtlichen Welt vom einzelnen jetzt und hier zu erlegen ist, um die Erreichung des glücklichen Endzustands der Gattung Mensch in der Zukunft zu ermöglichen.
Eine der Strategien moderner endlicher Wesen, um ihre Glückserwartung mit den Mitteln ihrer endlichen Vernunft auf endliche Dimensionen einzuschränken, ist Kompensation. Wenn Unglück als negative Größe nirgendwo und nirgendwann positiv aufgehen wird, tun wir gut daran, nicht schlecht von einer so pragmatischen Kategorie zu denken. ,Alles oder nichts' ist keine praktische Devise." Wenn wir vermeiden wollen, einer Vernunft, die im begründeten Verdacht steht, nicht absolut zu sein, absolut das Vertrauen zu entziehen (auch das ist vorgekommen und kommt vor), ist es ratsam, ein neues Verhältnis zu ihr zu finden.
Wie sollen nun endliche Wesen, die dem Scheitern des Absolutheitsanspruchs der Vernunft Rechnung tragen wollen, mit ihrem Vernünftigsein umgehen? Zur Vermenschlichung der Vernunft schlägt Marquard in seinem zweiten, ebenfalls philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden Beitrag eine Orientierung an zwei menschlich-endlichen Verhaltensweisen vor: Lachen und Weinen sind "das paradigmatisch Vernünftige". Damit macht er sich einen der philosophischen Anthropologie entstammenden, von Plessner vorgeschlagenen Begriff zu eigen, den der "Grenzreaktionen": "Die Menschen - sie allein - lachen oder weinen, und sie tun das, wo eine Gewohnheitsformation, ein Erwartungshorizont, eine Sichträson an Grenzen gerät", im Lachen und Weinen "kapitulieren" sie vor der Notwendigkeit der "Anerkennung dessen, was nicht in den Kram paßt". Dies zumindest in ihrer "inklusiven" Form, denn wie die Vernunft können Lachen und Weinen statt der Kapitulation vor der Notwendigkeit, grenzüberschreitend das einholen, was da Anerkennung fordert, auch - "exklusiv" - zur Abwehr und Verdrängung eingesetzt werden.
Die Gewinnung der spezifisch neuzeitlichen Gestalt der Vernunft läßt sich nun beschreiben als Entwicklung von einer exklusiven zu einer inklusiven Vernunft. Marquard beschreibt das wieder am Beispiel des Wandels in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Schlechten, d. h. sowohl des Schlimmen, das uns widerfährt, als auch des Bösen, das Menschen tun. In dem Maße, wie vernünftige Wesen lernen, ihre Endlichkeit anzuerkennen, wird ihr Umgang mit dem Unglück, dem Bösen, dem Minderen, dem Irrtum differenzierter und produktiver. Die Vernunft wird in der Neuzeit "das Verhältnis zu dem, was nicht in den Kram paßt".
Diese Geschichte, die der Autor hier in zwei Fassungen erzählt, ist, wie er betont, eine von vielen möglichen Geschichten, wie sie zu erzählen im Zeitalter nicht-absoluter Vernunft Aufgabe der Geisteswissenschaftler ist. Wer sie erzählt, tut dies nicht, um Anspruch auf Wahrheit zu erheben, sondern als Antwort auf das Bedürfnis nach Orientierungshilfen im endlichen Vernunftgebrauch. So ist ihm auch - wie der Wissenschaft insgesamt - der Irrtum zugestanden. Als zeitgenössische Gewährsleute dieser spezifischen Form des Plädoyers für die produktive Selbstbegrenzung der Vernunft tauchen - neben Joachim Ritter - immer wieder Blumenberg, Luhmann, Lübbe und Koselleck auf, als Stammvater - neben Plessner - im letzten Beitrag Dilthey. Damit ist auch umrissen, in welchem Umfeld das beachtliche Arbeitspensum geleistet wurde, das dafür eingesetzt wird.
Marquard geht freilich weiter. Die Einsicht, daß gegenwärtige Leiden des einzelnen nicht durch Zusicherung eines absoluten zukünftigen Glücks gerechtfertigt werden können, kehrt er gegen alle, die im und am Status quo etwas ändern wollen: als Verdacht, sie wollten dies im Namen einer absoluten Geschichtsphilosophie tun. Selbst vergleichsweise harmlose Experimente mit der endlichen Vernunft, die unter den Namen Friedensbewegung, Ökologie u. ä. vonstatten gehen, erscheinen als Feinde des endlichen Vernunftgebrauchs. Der "Abschied vom Prinzipiellen" wird selbst prinzipiell. Wenn aber die großen Fragen vergangener Epochen, die wir bereits überschauen, nur in - pluralen - Geschichten erzählt werden sollen, wie vorsichtig und vorläufig sollten wir dann erst mit den Geschichten aus den letzten achtzig Jahren umgehen, statt sie unter Begriffe zu subsumieren, die uns die Analyse vergangenen Denkens geliefert hat.
Daß es gerade Marquard passiert, prinzipiell zu werden, macht sein Buch nur noch interessanter. Es wird dadurch zu einer der möglichen Geschichten darüber, wie es überhaupt passieren kann, daß endliche Wesen ihre Vernunft als absolute verstehen oder mißverstehen. Die Tauglichkeit der Vernunft zur Ausstattung dieses endlichen Wesens Mensch ist untrennbar von ihren Unarten, die nicht ausrottbar sind: Man kann ihnen nur von Fall zu Fall auf die Spur kommen. Die Vernunft eines beliebigen endlichen menschlichen Wesens kann allerhand, unter anderem fast unbegrenzt sich selbst betrügen; sie genießt es, den haarfeinen Riß im Denken des anderen laut herauszurufen und über die Sprünge und Risse im eigenen Denken vornehm hinwegzusehen. Ein geradezu unentbehrliches Buch - und dabei war vom Stil noch gar nicht die Rede. CHRISTIANE SCHULTZ
Odo Marquard: "Glück im Unglück". Philosophische Betrachtungen. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 158 S., kt., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Odo Marquard versucht, die Ansprüche der Vernunft zu mäßigen
Neun Aufsätze und Vorträge aus siebzehn Jahren, so angeordnet, daß sie sich gegenseitig zu dem ergänzen, was der Autor in seiner Vorbemerkung skizziert: eine (unvollkommene) "Verteidigung des Unvollkommenen" gegen Absolutheitsansprüche.
Der erste Beitrag greift philosophiehistorisch bis auf Leibniz zurück, um am Beispiel des philosophischen Fragens nach Glück und Unglück aufzuzeigen, wie der Anspruch, das Unglück in der Welt zu rechtfertigen, zweimal gescheitert ist. Der einzelne, der nichts hat als dieses eine endliche Leben, kann nicht darüber hinweggetröstet werden, wenn er in seinem Glücksverlangen enttäuscht wird: Sein persönliches Unglück ist nicht rechtfertigbar, weder als notwendiges Übel in der von einem guten Gott geschaffenen besten aller möglichen Welten noch (das war der zweite Versuch) als Eintrittspreis, der in der von Menschen gemachten geschichtlichen Welt vom einzelnen jetzt und hier zu erlegen ist, um die Erreichung des glücklichen Endzustands der Gattung Mensch in der Zukunft zu ermöglichen.
Eine der Strategien moderner endlicher Wesen, um ihre Glückserwartung mit den Mitteln ihrer endlichen Vernunft auf endliche Dimensionen einzuschränken, ist Kompensation. Wenn Unglück als negative Größe nirgendwo und nirgendwann positiv aufgehen wird, tun wir gut daran, nicht schlecht von einer so pragmatischen Kategorie zu denken. ,Alles oder nichts' ist keine praktische Devise." Wenn wir vermeiden wollen, einer Vernunft, die im begründeten Verdacht steht, nicht absolut zu sein, absolut das Vertrauen zu entziehen (auch das ist vorgekommen und kommt vor), ist es ratsam, ein neues Verhältnis zu ihr zu finden.
Wie sollen nun endliche Wesen, die dem Scheitern des Absolutheitsanspruchs der Vernunft Rechnung tragen wollen, mit ihrem Vernünftigsein umgehen? Zur Vermenschlichung der Vernunft schlägt Marquard in seinem zweiten, ebenfalls philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden Beitrag eine Orientierung an zwei menschlich-endlichen Verhaltensweisen vor: Lachen und Weinen sind "das paradigmatisch Vernünftige". Damit macht er sich einen der philosophischen Anthropologie entstammenden, von Plessner vorgeschlagenen Begriff zu eigen, den der "Grenzreaktionen": "Die Menschen - sie allein - lachen oder weinen, und sie tun das, wo eine Gewohnheitsformation, ein Erwartungshorizont, eine Sichträson an Grenzen gerät", im Lachen und Weinen "kapitulieren" sie vor der Notwendigkeit der "Anerkennung dessen, was nicht in den Kram paßt". Dies zumindest in ihrer "inklusiven" Form, denn wie die Vernunft können Lachen und Weinen statt der Kapitulation vor der Notwendigkeit, grenzüberschreitend das einholen, was da Anerkennung fordert, auch - "exklusiv" - zur Abwehr und Verdrängung eingesetzt werden.
Die Gewinnung der spezifisch neuzeitlichen Gestalt der Vernunft läßt sich nun beschreiben als Entwicklung von einer exklusiven zu einer inklusiven Vernunft. Marquard beschreibt das wieder am Beispiel des Wandels in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Schlechten, d. h. sowohl des Schlimmen, das uns widerfährt, als auch des Bösen, das Menschen tun. In dem Maße, wie vernünftige Wesen lernen, ihre Endlichkeit anzuerkennen, wird ihr Umgang mit dem Unglück, dem Bösen, dem Minderen, dem Irrtum differenzierter und produktiver. Die Vernunft wird in der Neuzeit "das Verhältnis zu dem, was nicht in den Kram paßt".
Diese Geschichte, die der Autor hier in zwei Fassungen erzählt, ist, wie er betont, eine von vielen möglichen Geschichten, wie sie zu erzählen im Zeitalter nicht-absoluter Vernunft Aufgabe der Geisteswissenschaftler ist. Wer sie erzählt, tut dies nicht, um Anspruch auf Wahrheit zu erheben, sondern als Antwort auf das Bedürfnis nach Orientierungshilfen im endlichen Vernunftgebrauch. So ist ihm auch - wie der Wissenschaft insgesamt - der Irrtum zugestanden. Als zeitgenössische Gewährsleute dieser spezifischen Form des Plädoyers für die produktive Selbstbegrenzung der Vernunft tauchen - neben Joachim Ritter - immer wieder Blumenberg, Luhmann, Lübbe und Koselleck auf, als Stammvater - neben Plessner - im letzten Beitrag Dilthey. Damit ist auch umrissen, in welchem Umfeld das beachtliche Arbeitspensum geleistet wurde, das dafür eingesetzt wird.
Marquard geht freilich weiter. Die Einsicht, daß gegenwärtige Leiden des einzelnen nicht durch Zusicherung eines absoluten zukünftigen Glücks gerechtfertigt werden können, kehrt er gegen alle, die im und am Status quo etwas ändern wollen: als Verdacht, sie wollten dies im Namen einer absoluten Geschichtsphilosophie tun. Selbst vergleichsweise harmlose Experimente mit der endlichen Vernunft, die unter den Namen Friedensbewegung, Ökologie u. ä. vonstatten gehen, erscheinen als Feinde des endlichen Vernunftgebrauchs. Der "Abschied vom Prinzipiellen" wird selbst prinzipiell. Wenn aber die großen Fragen vergangener Epochen, die wir bereits überschauen, nur in - pluralen - Geschichten erzählt werden sollen, wie vorsichtig und vorläufig sollten wir dann erst mit den Geschichten aus den letzten achtzig Jahren umgehen, statt sie unter Begriffe zu subsumieren, die uns die Analyse vergangenen Denkens geliefert hat.
Daß es gerade Marquard passiert, prinzipiell zu werden, macht sein Buch nur noch interessanter. Es wird dadurch zu einer der möglichen Geschichten darüber, wie es überhaupt passieren kann, daß endliche Wesen ihre Vernunft als absolute verstehen oder mißverstehen. Die Tauglichkeit der Vernunft zur Ausstattung dieses endlichen Wesens Mensch ist untrennbar von ihren Unarten, die nicht ausrottbar sind: Man kann ihnen nur von Fall zu Fall auf die Spur kommen. Die Vernunft eines beliebigen endlichen menschlichen Wesens kann allerhand, unter anderem fast unbegrenzt sich selbst betrügen; sie genießt es, den haarfeinen Riß im Denken des anderen laut herauszurufen und über die Sprünge und Risse im eigenen Denken vornehm hinwegzusehen. Ein geradezu unentbehrliches Buch - und dabei war vom Stil noch gar nicht die Rede. CHRISTIANE SCHULTZ
Odo Marquard: "Glück im Unglück". Philosophische Betrachtungen. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 158 S., kt., 28,- DM.
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