In seinem autobiografischen Essay geht Hans-Dieter Schütt den Auswirkungen des am eigenen Leibe erfahrenen Weltenumbruchs nach, die den Staat DDR in den Osten Deutschlands verwandelten. Schütt, Jahrgang 1948, war bis zum Herbst 1989 Chefredakteur der FDJ-Tageszeitung »Junge Welt«, und sein Name stand am Ende für die immer rücksichtsloser und realitätsblinder werdende Schärfe staatlicher Agitation und Propaganda. Wie wird aus einem Kind, das zu Hause im thüringischen Ohrdruf nur Westsender hören und sehen darf, ein überzeugter FDJ-Funktionär? Wie vereist eine glühende Überzeugung zum Dogmatismus? Was fängt ein Mensch mit der plötzlich geschenkten Freiheit an, und wieviel Verrat an den früheren Idealen steckt im Genuss dieser Freiheit? »Man muss ab einem bestimmten Alter den Mut haben, auch in die Asche seiner Jahre zu blicken.« Diesem Satz des DDR-Lyrikers und Tagebucherzählers Hanns Cibulka fühlt sich Schütt in seinem Bericht verpflichtet. Sein Buch ist eine ehrliche, kritische Erzählung aus dem Inneren des SED-Propaganda-Apparates.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2009Passfälscher und Zeitungsenten
Fluchthilfe aus dem SED-Staat, Rückkehr in die DDR und geistig-politische Republikflucht: Erinnerungen an das geteilte Deutschland.
Von Detlef Kühn
In den Jahren des Kalten Krieges gab es viele Wanderungsbewegungen - meistens in Ost-West-Richtung. Allein das Gebiet der DDR verließen nach dem Krieg mindestens 3œ Millionen Menschen, zumeist illegal, also ohne die Genehmigung der dortigen Behörden. Vor allem mit der Errichtung der Mauer am 13. August 1961 wurde eine Flucht aus der DDR lebensgefährlich, da an den Grenzen des Ostblocks rücksichtslos auf Flüchtlinge geschossen wurde. Fluchthelfer aus dem Westen riskierten oft Freiheit und Leben, um Verwandte und Freunde aus der DDR herauszuholen.
Einen besonders abenteuerlichen Fall von Fluchthilfe aus dem Jahre 1974 schildert Rüdiger von Fritsch. Der Autor, der damals gerade das Abitur bestanden hatte, studierte später Geschichte und Germanistik, trat in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik ein und brachte es unter anderem zum Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Zusammen mit seinem älteren Bruder verhalf er ihrem gemeinsamen Vetter Tom aus Thüringen und zwei Schulfreunden mit Hilfe verfälschter Pässe über Bulgarien glücklich in die Freiheit. Der offenbar einschlägig begabte junge Mann bildete sich im Selbststudium zum perfekten Passfälscher aus und versah geliehene westdeutsche Pässe nicht nur mit Fotos der Fluchtwilligen, sondern auch mit imitierten bulgarischen Einreisestempeln, die Voraussetzung für die Weiterreise der nach Bulgarien gereisten DDR-Bürger in die Türkei waren. Dabei blieben Komplikationen nicht aus. Der erste Versuch musste wegen einer technischen Panne abgebrochen werden. Bulgarien hatte plötzlich die Farbe seiner Einreisestempel geändert, so dass die verfälschten Pässe wertlos waren. Erst der zweite Versuch war erfolgreich. Fritsch schildert ausführlich technische Probleme und ihre Lösung. Immerhin hatte er nach eigenen Angaben mindestens sechs Bekannte dazu bewegt, ihm ihre echten Pässe für Verfälschungen zur Verfügung zu stellen, was ja auch in der Bundesrepublik strafbar war. Die bewiesene Kaltblütigkeit wird ihm auch später in seiner Karriere genutzt haben. Sein Buch ist spannend und schildert zutreffend die Verhältnisse im geteilten Deutschland.
Natürlich gab es nicht nur Menschen, die um fast jeden Preis aus der DDR heraus in den Westen wollten, sondern auch Westdeutsche, die sich aus ideologischen, wirtschaftlichen oder familiären Gründen entschlossen, ihr Heil in der DDR zu suchen. In den fünfziger Jahren waren das noch ein paar hunderttausend. Nach dem Bau der Mauer wurden es deutlich weniger. Viele von ihnen wurden, nach intensiver Prüfung in einem Aufnahmelager, von den DDR-Behörden abgewiesen, entweder weil man ihnen misstraute oder sie nicht für integrierbar hielt. Interessanter waren schon die Rückkehrer, also ehemalige DDR-Bürger, die das Land legal oder illegal verlassen hatten und dann im Westen beruflich nicht Fuß fassen konnten, Heimweh hatten oder gar mit der Androhung von Repressalien gegenüber Angehörigen zur Rückkehr genötigt wurden. 1985 behauptete das "Neue Deutschland", rund 20 000 ehemalige DDR-Bürger wollten - enttäuscht von den Verhältnissen im Kapitalismus - zurückkehren. Das war maßlos übertrieben und erwies sich bald als Zeitungsente; aber ein paar hundert Rückkehrer im Jahr gab es schon. Sie wurden wochenlang intensiv überprüft, bevor sie entweder in ihren Heimatort entlassen oder einem Strafverfahren wegen Republikflucht unterworfen wurden. Ulrich Stolls Buch ist keine Gesamtgeschichte der DDR-Rückkehrer, sondern eine Sammlung von einem Dutzend Fällen aus den achtziger Jahren. Das Werk entstand als Begleitmaterial zu einem Fernsehfilm des Autors.
Anfangs unterhielt die DDR mehrere Auffanglager für Rückkehrer und Übersiedler, bei ihrem Ende gab es nur noch das Zentrale Aufnahmeheim (ZAH) Röntgental bei Zepernick nördlich von Berlin, wo 1989 noch eine Handvoll Personen "betreut" wurden. Die Staatssicherheit hatte alles fest im Griff. Sie misstraute den Rückkehrern mehr denn je, unterstellte den meisten, sie seien Agenten westlicher Geheimdienste. Wer einmal im Westen war, blieb stigmatisiert, selbst wenn er in der DDR wieder beruflich eingegliedert wurde.
Bekanntlich verlassen auch noch nach der Wiedervereinigung jährlich viele tausend Deutsche die neuen Länder, um im Westen ihre berufliche Zukunft zu finden. Hans-Dieter Schütt, geboren 1948 in Ohrdruf/Thüringen, gehört nicht zu ihnen. Der frühere Chefredakteur der Zeitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) "Junge Welt", Auflage eineinhalb Millionen Exemplare täglich, ist geblieben und arbeitet seit 1993 als Feuilletonredakteur des ehemaligen Zentralorgans der SED "Neues Deutschland", jetzt nur noch eine sozialistische Tageszeitung. Er begeht geistig-politische Republikflucht nach dem Ende der DDR. Schütt schont weder die DDR noch sich selbst. Er pflegt einen nachdenklich-philosophierenden Stil, der manchmal überladen wirkt. Sein Erschrecken über das, was er sich damals im Dienste der Partei und der Weltrevolution bis zum Schluss geleistet hat, erscheint ehrlich, ebenso seine Freude darüber, dass so etwas heute - bei aller Kritik an den Verhältnissen im wiedervereinigten Deutschland - weder nötig noch möglich ist. Insofern ist er der DDR entkommen, zwar beschädigt, vor allem wohl in seinem Selbstwertgefühl, aber dennoch glücklich über neue Möglichkeiten. Das ist seine Botschaft.
Schütts lesenswertes Buch bringt manche interessante Information eines Insiders der DDR. Der Apparat, zu dem er gehörte, lief weiter bis zum (bitteren?) Ende am 20. November 1989, als andere Überlebenskünstler dem Chefredakteur seine Machtmittel aus der Hand nahmen. Schütt quält sich noch immer mit der DDR herum. Am Ende seines Buches schreibt er: "Nun erwarte ich den stirnkühlenden Moment, da mich die DDR nicht mehr interessiert. Er kommt, dieser Augenblick, ich bin sicher ..." Viele seiner Zeitgenossen in der untergegangenen DDR und anderswo sind bereits so weit. Ist das besser? Jedenfalls ist Schütts Buch nichts für Nostalgiker der DDR.
Rüdiger von Fritsch: Die Sache mit Tom. Eine Flucht in Deutschland. Wjs Verlag, Berlin 2009. 238 S., 19,95 [Euro].
Ulrich Stoll: Einmal Freiheit und zurück. Die Geschichte der DDR-Rückkehrer. Ch. Links Verlag, Berlin 2009. 204 S., 16,90 [Euro].
Hans-Dieter Schütt: Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR. Wjs Verlag, Berlin 2009. 221 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fluchthilfe aus dem SED-Staat, Rückkehr in die DDR und geistig-politische Republikflucht: Erinnerungen an das geteilte Deutschland.
Von Detlef Kühn
In den Jahren des Kalten Krieges gab es viele Wanderungsbewegungen - meistens in Ost-West-Richtung. Allein das Gebiet der DDR verließen nach dem Krieg mindestens 3œ Millionen Menschen, zumeist illegal, also ohne die Genehmigung der dortigen Behörden. Vor allem mit der Errichtung der Mauer am 13. August 1961 wurde eine Flucht aus der DDR lebensgefährlich, da an den Grenzen des Ostblocks rücksichtslos auf Flüchtlinge geschossen wurde. Fluchthelfer aus dem Westen riskierten oft Freiheit und Leben, um Verwandte und Freunde aus der DDR herauszuholen.
Einen besonders abenteuerlichen Fall von Fluchthilfe aus dem Jahre 1974 schildert Rüdiger von Fritsch. Der Autor, der damals gerade das Abitur bestanden hatte, studierte später Geschichte und Germanistik, trat in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik ein und brachte es unter anderem zum Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Zusammen mit seinem älteren Bruder verhalf er ihrem gemeinsamen Vetter Tom aus Thüringen und zwei Schulfreunden mit Hilfe verfälschter Pässe über Bulgarien glücklich in die Freiheit. Der offenbar einschlägig begabte junge Mann bildete sich im Selbststudium zum perfekten Passfälscher aus und versah geliehene westdeutsche Pässe nicht nur mit Fotos der Fluchtwilligen, sondern auch mit imitierten bulgarischen Einreisestempeln, die Voraussetzung für die Weiterreise der nach Bulgarien gereisten DDR-Bürger in die Türkei waren. Dabei blieben Komplikationen nicht aus. Der erste Versuch musste wegen einer technischen Panne abgebrochen werden. Bulgarien hatte plötzlich die Farbe seiner Einreisestempel geändert, so dass die verfälschten Pässe wertlos waren. Erst der zweite Versuch war erfolgreich. Fritsch schildert ausführlich technische Probleme und ihre Lösung. Immerhin hatte er nach eigenen Angaben mindestens sechs Bekannte dazu bewegt, ihm ihre echten Pässe für Verfälschungen zur Verfügung zu stellen, was ja auch in der Bundesrepublik strafbar war. Die bewiesene Kaltblütigkeit wird ihm auch später in seiner Karriere genutzt haben. Sein Buch ist spannend und schildert zutreffend die Verhältnisse im geteilten Deutschland.
Natürlich gab es nicht nur Menschen, die um fast jeden Preis aus der DDR heraus in den Westen wollten, sondern auch Westdeutsche, die sich aus ideologischen, wirtschaftlichen oder familiären Gründen entschlossen, ihr Heil in der DDR zu suchen. In den fünfziger Jahren waren das noch ein paar hunderttausend. Nach dem Bau der Mauer wurden es deutlich weniger. Viele von ihnen wurden, nach intensiver Prüfung in einem Aufnahmelager, von den DDR-Behörden abgewiesen, entweder weil man ihnen misstraute oder sie nicht für integrierbar hielt. Interessanter waren schon die Rückkehrer, also ehemalige DDR-Bürger, die das Land legal oder illegal verlassen hatten und dann im Westen beruflich nicht Fuß fassen konnten, Heimweh hatten oder gar mit der Androhung von Repressalien gegenüber Angehörigen zur Rückkehr genötigt wurden. 1985 behauptete das "Neue Deutschland", rund 20 000 ehemalige DDR-Bürger wollten - enttäuscht von den Verhältnissen im Kapitalismus - zurückkehren. Das war maßlos übertrieben und erwies sich bald als Zeitungsente; aber ein paar hundert Rückkehrer im Jahr gab es schon. Sie wurden wochenlang intensiv überprüft, bevor sie entweder in ihren Heimatort entlassen oder einem Strafverfahren wegen Republikflucht unterworfen wurden. Ulrich Stolls Buch ist keine Gesamtgeschichte der DDR-Rückkehrer, sondern eine Sammlung von einem Dutzend Fällen aus den achtziger Jahren. Das Werk entstand als Begleitmaterial zu einem Fernsehfilm des Autors.
Anfangs unterhielt die DDR mehrere Auffanglager für Rückkehrer und Übersiedler, bei ihrem Ende gab es nur noch das Zentrale Aufnahmeheim (ZAH) Röntgental bei Zepernick nördlich von Berlin, wo 1989 noch eine Handvoll Personen "betreut" wurden. Die Staatssicherheit hatte alles fest im Griff. Sie misstraute den Rückkehrern mehr denn je, unterstellte den meisten, sie seien Agenten westlicher Geheimdienste. Wer einmal im Westen war, blieb stigmatisiert, selbst wenn er in der DDR wieder beruflich eingegliedert wurde.
Bekanntlich verlassen auch noch nach der Wiedervereinigung jährlich viele tausend Deutsche die neuen Länder, um im Westen ihre berufliche Zukunft zu finden. Hans-Dieter Schütt, geboren 1948 in Ohrdruf/Thüringen, gehört nicht zu ihnen. Der frühere Chefredakteur der Zeitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) "Junge Welt", Auflage eineinhalb Millionen Exemplare täglich, ist geblieben und arbeitet seit 1993 als Feuilletonredakteur des ehemaligen Zentralorgans der SED "Neues Deutschland", jetzt nur noch eine sozialistische Tageszeitung. Er begeht geistig-politische Republikflucht nach dem Ende der DDR. Schütt schont weder die DDR noch sich selbst. Er pflegt einen nachdenklich-philosophierenden Stil, der manchmal überladen wirkt. Sein Erschrecken über das, was er sich damals im Dienste der Partei und der Weltrevolution bis zum Schluss geleistet hat, erscheint ehrlich, ebenso seine Freude darüber, dass so etwas heute - bei aller Kritik an den Verhältnissen im wiedervereinigten Deutschland - weder nötig noch möglich ist. Insofern ist er der DDR entkommen, zwar beschädigt, vor allem wohl in seinem Selbstwertgefühl, aber dennoch glücklich über neue Möglichkeiten. Das ist seine Botschaft.
Schütts lesenswertes Buch bringt manche interessante Information eines Insiders der DDR. Der Apparat, zu dem er gehörte, lief weiter bis zum (bitteren?) Ende am 20. November 1989, als andere Überlebenskünstler dem Chefredakteur seine Machtmittel aus der Hand nahmen. Schütt quält sich noch immer mit der DDR herum. Am Ende seines Buches schreibt er: "Nun erwarte ich den stirnkühlenden Moment, da mich die DDR nicht mehr interessiert. Er kommt, dieser Augenblick, ich bin sicher ..." Viele seiner Zeitgenossen in der untergegangenen DDR und anderswo sind bereits so weit. Ist das besser? Jedenfalls ist Schütts Buch nichts für Nostalgiker der DDR.
Rüdiger von Fritsch: Die Sache mit Tom. Eine Flucht in Deutschland. Wjs Verlag, Berlin 2009. 238 S., 19,95 [Euro].
Ulrich Stoll: Einmal Freiheit und zurück. Die Geschichte der DDR-Rückkehrer. Ch. Links Verlag, Berlin 2009. 204 S., 16,90 [Euro].
Hans-Dieter Schütt: Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR. Wjs Verlag, Berlin 2009. 221 S., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einigen Respekt bringt Rezensent Detlef Kühn diesem autobiografischen Buch des heutigen Neues-Deutschland-Kulturredakteurs Hans-Dieter Schütt entgegen. Schütt war zu DDR-Zeiten Chefredakteur der FDJ-Zeitung "Junge Welt" und rechnet in diesem Buch nun ab mit der DDR und nicht zuletzt mit dem, der er selbst war. Zum einen biete der Band "interessante Informationen", so Kühn, aus dem Inneren des DDR-Kulturbetriebs. Zum anderen sei die Botschaft, dass das Leben im vereinigten Deutschland Freiheit und "neue Möglichkeiten" bietet, erfreulich. Angesichts dieser Meriten stört den Rezensenten das gelegentlich Überfrachtete des "nachdenklich-philosophierenden Stils" dann auch nicht mehr so sehr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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