Freudvoll zerstört Ling Ma sämtliche unserer sorgfältig aufgebauten Illusionen.In »Glückscollage« erzählt die Autorin des weltweiten Erfolgs »New York Ghost« acht Geschichten von Menschen, die sich ihren Weg durch den Wahnsinn und die Wirklichkeit unserer kollektiven Illusionen bahnen: Eine Frau, die mit all ihren Ex-Freunden zusammen in einem Haus lebt. Eine zerstörerische Freundschaft, die sich um eine Droge dreht, die unsichtbar macht. Ein uraltes Ritual, das einen von allem heilen kann - wenn man sich nur lebendig vergraben lässt. »'Glückscollage' spielt die größten Hits der menschlichen Existenz: Freundschaft, Liebe, Einsamkeit; die Bedeutung von Heimat und die vielen Gründe, warum wir einander brauchen.« (Good Housekeeping). »Wie gewohnt bilden Mas große, verrückte Ideen die Bühne für scharfsinnige emotionale Einsichten.« (Philadelphia Inquirer). Ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award, dem The Story Prize und dem Windham-Campbell Literature Prize
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Schon seit dem Debütroman "New York Ghost" ist Rezensentin Katharina Borchardt Ling-Ma-Fan. Und der neue Erzählband der amerikanischen Autorin enttäuscht die Kritikerin keineswegs, denn auch hier verschränke Ma auf geradezu brillante Weise Realismus und Surrealismus zu acht herrlich "bizarren" Geschichten, versichert Borchardt. Sie begegnet Schwangeren, denen Babyarme aus dem Bauch wachsen, bleibt mit Mas meist einsamen Heldinnen im Transit von Flughäfen hängen oder tritt durch dunkle Löcher direkt in ganz neue Welten. Wie die Autorin ihre migrantischen Figuren das Spannungsfeld zwischen Herkunft und Zukunft ausloten lässt und dabei mit einer Prise Horror auch immer Psyche freilegt, findet die Rezensentin schlicht "spektakulär".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2024Zeitgeisterstunde
Der Westflügel gehört den hundert Ex-Freunden: "Aaron. Adam. Akihiko. Alejandro. Anders. Andrew. Und das sind nur die As." Von einem ganzen Alphabet an Verflossenen hat die namenlose Erzählerin sich nicht trennen können, als sie auf der Suche nach Beständigkeit einen Spitzenverdiener ehelicht, der ihr alles bieten kann, jedoch nichts zu sagen hat. Fragt sie ihn spätabends nach seinem Tag, lautet die Antwort buchstäblich: "$$$$, $$$$$$$$$, sagt er. $$$$$$$$$$$$$$." Im Umkehrschluss berichtet sie von Spritztouren mit den Ex-Freunden durchs poshe Los Angeles. Dabei haben ihr aus der Schar bloß zwei etwas bedeutet: "Aaron, weil ich verliebt war, Adam, weil er mich geschlagen hat. Erst lernte ich Adam kennen, dann Aaron. Die Wunde, dann die Heilsalbe." Eine beiläufig in den sanften Golden-State-Dämmer gesprochene Offenbarung, die das bisher Berichtete infrage stellt.
Die Erzählerin ist also nicht einfach entscheidungsschwach, sondern traumatisiert. Sie kann die Vergangenheit nicht hinter sich lassen, der zugefügte Schmerz lässt sich mit einer Salbe nicht lindern. Die Bruchlinien der Fragmente bleiben sichtbar, auch nachdem sie neu ins Bild gesetzt wurden. Das ist der fatalistische Gang der Dinge, in jeder der acht Storys aus Ling Mas "Glückscollage". Ein Titel, der auf den Sammlungscharakter verweist, vor allem aber das Leitmotiv des Bands vorgibt: Das Glück der Frauen, um die es geht, ist immerfort bedroht und nie mehr als eine Momentaufnahme.
Dabei ähneln sich die Protagonistinnen. Sie sind allesamt Amerikanerinnen mindestens der zweiten Einwanderergeneration, deren Eltern aus Asien, konkret: oft aus China stammen. Ihre Postadoleszenz zieht sich endlos in die Länge, weil sie ihren Platz in der Welt nicht finden. Sicherheit verheißen eine Festanstellung oder frühe Heirat lediglich so lange, bis Selbstzweifel oder ein indoktrinierter Erwartungsdruck diese trügerischen Gewissheiten aushöhlen. Es sind ausnahmslos belastete und fragile Beziehungen, die Ling Ma in ihrer "Glückscollage" seziert.
Die standen bereits in ihrem gefeierten Debüt "New York Ghost" im Fokus (F.A.Z. vom 2. September 2021), einem Pandemieroman par excellence, aber vor Covid verfasst und deswegen über die damalige Tagesaktualität weit hinausreichend. Die "Glückscollage" ist der zweite Streich der 1983 in Südchina geborenen Autorin, die im Schulkindalter in die Vereinigten Staaten kam und heute an der University of Chicago Kreatives Schreiben lehrt. Den Titel, im Original "Bliss Montage", hat die Übersetzerin Zoë Beck gekonnt eingedeutscht. Weil hier keine Kompilation je für sich stehender Kurzgeschichten zu erwarten ist; vielmehr sind diese Storys wie Kapitel eines großen Ganzen thematisch eng verzahnt und bedacht arrangiert.
Nehmen wir den eingangs erwähnten Frauenschläger Adam. Der flüchtet am Ende der Auftakterzählung aus dem gemeinsam bewohnten Anwesen. Im Folgestück begegnet ihm ein weiteres Opfer zufällig im Supermarkt. Diese Frau nun verfolgt und stellt ihn schließlich im Beisein seiner neuen Partnerin bei einem Teller Pasta zur Rede - ohne sich Illusionen hinzugeben. Die Neue wird bei ihm bleiben, er irgendwann in alte Muster zurückfallen und sie misshandeln. Eat, beat, repeat.
Die Wiederholung wird zum Schicksal, das die Gedemütigten nur scheinbar akzeptieren. Im Geheimen aber träumen sie von der erlösenden Metamorphose. Denn wenn die Mutter der Tochter ihr repressives Schönheitsideal aufzwingt, hilft scheinbar nur eines: "Zehn Kilogramm zulegen und ein enges Kleid tragen. Dann ist man frei." Doch nie für lange, die Wirklichkeit holt alle ein, selbst wenn sie glauben, ein Schlupfloch aus ihr herauszufinden. Wie die von Institutsintrigen und Terminstress geplagte Filmwissenschaftlerin, die ihren professoralen safe space in einem Loch in der Bürowand findet, hinter dem sich eine neue Welt auftut, mit lauer Nachtluft und absoluter Ruhe, wo freilich auch die Einsamkeit ewig währt.
Solch alternative Realitäten spiegeln den Irrsinn der unsrigen, und Ling Ma liebt das Vexierspiel mit ihnen. Etwa in der Geschichte, in der eine Droge unsichtbar macht und deren Erzählerin früher an Anorexie litt - zählt man eins und eins zusammen, ist die tiefere Bedeutung prompt entschlüsselt. Die Interpretationsangebote drängen sich auf, ein jeder Text fordert seine allegorische Lesart ein. Im Falle der eben erwähnten Filmwissenschaftlerin ist das nicht anders als beim kurzweiligen "Liebesspiel mit einem Yeti" - allen offenen Enden zum Trotz. Dabei hat Ling Ma ein untrügliches Gespür für die Aporien des Zeitgeists und die Ängste der Millennials. Das reicht hinein bis ins Selbstbild postmigrantischer Frauen, die sich wehren wollen, denen aber die widerspruchslose Agenda fehlt. Ein wenig mehr metaphorische Uneindeutigkeit würde diesen treffsicheren Gegenwartsdiagnosen guttun. Witz und schillernde Einfälle für viele weitere gute Bücher hat diese Autorin aber allemal. MAXIMILIAN MENGERINGHAUS
Ling Ma: "Glückscollage". Storys.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2024.
213 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Der Westflügel gehört den hundert Ex-Freunden: "Aaron. Adam. Akihiko. Alejandro. Anders. Andrew. Und das sind nur die As." Von einem ganzen Alphabet an Verflossenen hat die namenlose Erzählerin sich nicht trennen können, als sie auf der Suche nach Beständigkeit einen Spitzenverdiener ehelicht, der ihr alles bieten kann, jedoch nichts zu sagen hat. Fragt sie ihn spätabends nach seinem Tag, lautet die Antwort buchstäblich: "$$$$, $$$$$$$$$, sagt er. $$$$$$$$$$$$$$." Im Umkehrschluss berichtet sie von Spritztouren mit den Ex-Freunden durchs poshe Los Angeles. Dabei haben ihr aus der Schar bloß zwei etwas bedeutet: "Aaron, weil ich verliebt war, Adam, weil er mich geschlagen hat. Erst lernte ich Adam kennen, dann Aaron. Die Wunde, dann die Heilsalbe." Eine beiläufig in den sanften Golden-State-Dämmer gesprochene Offenbarung, die das bisher Berichtete infrage stellt.
Die Erzählerin ist also nicht einfach entscheidungsschwach, sondern traumatisiert. Sie kann die Vergangenheit nicht hinter sich lassen, der zugefügte Schmerz lässt sich mit einer Salbe nicht lindern. Die Bruchlinien der Fragmente bleiben sichtbar, auch nachdem sie neu ins Bild gesetzt wurden. Das ist der fatalistische Gang der Dinge, in jeder der acht Storys aus Ling Mas "Glückscollage". Ein Titel, der auf den Sammlungscharakter verweist, vor allem aber das Leitmotiv des Bands vorgibt: Das Glück der Frauen, um die es geht, ist immerfort bedroht und nie mehr als eine Momentaufnahme.
Dabei ähneln sich die Protagonistinnen. Sie sind allesamt Amerikanerinnen mindestens der zweiten Einwanderergeneration, deren Eltern aus Asien, konkret: oft aus China stammen. Ihre Postadoleszenz zieht sich endlos in die Länge, weil sie ihren Platz in der Welt nicht finden. Sicherheit verheißen eine Festanstellung oder frühe Heirat lediglich so lange, bis Selbstzweifel oder ein indoktrinierter Erwartungsdruck diese trügerischen Gewissheiten aushöhlen. Es sind ausnahmslos belastete und fragile Beziehungen, die Ling Ma in ihrer "Glückscollage" seziert.
Die standen bereits in ihrem gefeierten Debüt "New York Ghost" im Fokus (F.A.Z. vom 2. September 2021), einem Pandemieroman par excellence, aber vor Covid verfasst und deswegen über die damalige Tagesaktualität weit hinausreichend. Die "Glückscollage" ist der zweite Streich der 1983 in Südchina geborenen Autorin, die im Schulkindalter in die Vereinigten Staaten kam und heute an der University of Chicago Kreatives Schreiben lehrt. Den Titel, im Original "Bliss Montage", hat die Übersetzerin Zoë Beck gekonnt eingedeutscht. Weil hier keine Kompilation je für sich stehender Kurzgeschichten zu erwarten ist; vielmehr sind diese Storys wie Kapitel eines großen Ganzen thematisch eng verzahnt und bedacht arrangiert.
Nehmen wir den eingangs erwähnten Frauenschläger Adam. Der flüchtet am Ende der Auftakterzählung aus dem gemeinsam bewohnten Anwesen. Im Folgestück begegnet ihm ein weiteres Opfer zufällig im Supermarkt. Diese Frau nun verfolgt und stellt ihn schließlich im Beisein seiner neuen Partnerin bei einem Teller Pasta zur Rede - ohne sich Illusionen hinzugeben. Die Neue wird bei ihm bleiben, er irgendwann in alte Muster zurückfallen und sie misshandeln. Eat, beat, repeat.
Die Wiederholung wird zum Schicksal, das die Gedemütigten nur scheinbar akzeptieren. Im Geheimen aber träumen sie von der erlösenden Metamorphose. Denn wenn die Mutter der Tochter ihr repressives Schönheitsideal aufzwingt, hilft scheinbar nur eines: "Zehn Kilogramm zulegen und ein enges Kleid tragen. Dann ist man frei." Doch nie für lange, die Wirklichkeit holt alle ein, selbst wenn sie glauben, ein Schlupfloch aus ihr herauszufinden. Wie die von Institutsintrigen und Terminstress geplagte Filmwissenschaftlerin, die ihren professoralen safe space in einem Loch in der Bürowand findet, hinter dem sich eine neue Welt auftut, mit lauer Nachtluft und absoluter Ruhe, wo freilich auch die Einsamkeit ewig währt.
Solch alternative Realitäten spiegeln den Irrsinn der unsrigen, und Ling Ma liebt das Vexierspiel mit ihnen. Etwa in der Geschichte, in der eine Droge unsichtbar macht und deren Erzählerin früher an Anorexie litt - zählt man eins und eins zusammen, ist die tiefere Bedeutung prompt entschlüsselt. Die Interpretationsangebote drängen sich auf, ein jeder Text fordert seine allegorische Lesart ein. Im Falle der eben erwähnten Filmwissenschaftlerin ist das nicht anders als beim kurzweiligen "Liebesspiel mit einem Yeti" - allen offenen Enden zum Trotz. Dabei hat Ling Ma ein untrügliches Gespür für die Aporien des Zeitgeists und die Ängste der Millennials. Das reicht hinein bis ins Selbstbild postmigrantischer Frauen, die sich wehren wollen, denen aber die widerspruchslose Agenda fehlt. Ein wenig mehr metaphorische Uneindeutigkeit würde diesen treffsicheren Gegenwartsdiagnosen guttun. Witz und schillernde Einfälle für viele weitere gute Bücher hat diese Autorin aber allemal. MAXIMILIAN MENGERINGHAUS
Ling Ma: "Glückscollage". Storys.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2024.
213 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.