Johann Sebastian Bachs geistliches Vokalwerk umfasst mehr als die Hälfte seines uvres. Seine Kantaten, Passionen und Oratorien sind heute Gegenstand der Musikhistorie und -interpretation und gelten zugleich als ein Höhepunkt der Schriftauslegung. - Die in diesem Band versammelten Arbeiten gehen methodisch davon aus, dass ein historisch-theologisch gesichertes Verständnis der Texte die Musik umfassender zu erschließen hilft, während umgekehrt die Analyse der Komposition Inhalte und Aussagen der Texte aufdeckt. Die Autorin zeigt in zahlreichen Einzelanalysen den engen Zusammenhang der geistlichen Dichtung mit der lutherischen Predigt- und Erbauungsliteratur des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Sie stellt die musikalische 'Sprache' vor, mit deren Hilfe Johann Sebastian Bach theologische Inhalte präsentiert und geistliche Erfahrung sowie seelsorglichen Zuspruch in ästhetische Erfahrung übersetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2002Nur nicht mitreißen lassen
Renate Steiger trifft Maßnahmen, um Bach nicht falsch zu hören
Sie habe schon erlebt, schreibt Renate Steiger in ihrem fünfundvierzig Jahre theologische Bach-Forschung summierenden Werk, daß bei Aufführungen der "Matthäuspassion" die zuweilen als lang empfundene Arie "Komm, süßes Kreuz" gestrichen wurde. "Hierzu ist zu sagen, daß auch die Prediger des siebzehnten Jahrhunderts schon wußten: Fleisch und Blut will nicht dran; es geht dem Menschen schwer ein, wenn er leiden soll; er muß zum Kreuz - das doch selten ausbleibt - gezwungen sein."
Die etwas kuriose Rechtfertigung von Bachs Musik als Strafe verrät eine Haltung lutherischer Orthodoxie. Und mit der Haltung befindet Steiger sich auf Augenhöhe von Bachs Bewußtsein. So kann sie seinen berühmten Bibeleintrag "Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden-Gegenwart" theologiegeschichtlich verorten. Luther zufolge ist Christi Ankunft dreifältig: vergangenes Kommen ins Fleisch, zukünftiges Kommen in Herrlichkeit und gegenwärtiges Kommen in Gnade. Die Gnadengegenwart wiederum hat für die lutherische Tradition ihren dreifachen Ort in Sakrament, Wort und Musik: Altar, Kanzel, Orgel. Die Musik redet also nicht von Vergangenem, Zukünftigem oder Jenseitigem, sondern Gott ist in ihr oder durch sie in uns gegenwärtig. Und daraus könnte man dann über Steiger hinaus das eigentümliche Verhältnis der Bachschen Musik zur Zeit verstehen. Wer von Musik Entwicklungen, Höhepunkte erwartet, dem müssen die Stücke mit ihren Wiederholungen, Zergliederungen, Umstellungen, Farbveränderungen oft endlos vorkommen. Aber die Endlosigkeit hat ihren präzisen theologischen Grund in dem absoluten, zeitaufhebenden Charakter von Sündenbewußtsein und Heilsgewißheit.
Jedem ist selbstverständlich, daß zur Oper auch die Szene gehört. Den musikalischen Ausdruck von Affekten und Charakteren verstehen wir angemessen erst aus der Kenntnis des Handlungszusammenhanges. Ebenso selbstverständlich müßte sein, daß zum Verständnis sakraler Musik das Wissen um ihren liturgischen Ort und ihren theologischen Sinn gehört. Musik ist keine angewandte Theologie, sie interpretiert ihre Vorgaben. Aber diese Interpretation bekommen wir als Interpretation gar nicht zu fassen, wenn wir, späte Nachkommen der Schleiermacherschen Gefühlsreligion, davon ausgehen, in der Musik spreche das Herz unmittelbar zum Herzen. Gerade wenn wir die Musik nicht als religiöse Musik hören wollen, müssen wir uns das Feld der theologischen Unterscheidungen klarmachen, in dem sie Position bezieht. Steiger weist etwa darauf hin, daß der leitende Affekt der evangelischen Passionsbetrachtung nicht wie in der katholischen Devotion die compassio, das Mitleiden, sei, sondern Schmerz und Reue über den Grund dieses Leidens und freudige Dankbarkeit angesichts seiner Frucht. Damit wird klar, warum Bach das italienisch Opernhafte nicht weniger fremd ist als die pietistische Einfühlung. Wer sich von der Dramatik der Bach'schen Musik mitreißen läßt, hört so falsch wie der, der sich dem süßen Sehnen der Vorhalte ergibt: Er unterschlägt den reflektierenden Selbstabstand, der Bach als orthodoxem Lutheraner zweite Natur war.
Dennoch muß man zu dem Buch gezwungen sein. Zwar verfährt es methodisch überaus besonnen. Es geht nicht wie in der Musikwissenschaft üblich darauf aus, einzelne musikalische Wendungen zu dechiffrieren oder Bachs Symbolsprache zu rekonstruieren. Vielmehr wird vor dem Horizont der zeitgenössischen Predigt- und Erbauungsliteratur der Textsinn entfaltet und mit einer Gesamtdarstellung des musikalischen Verlaufs in Beziehung gesetzt. Ziegler ist sehr bewußt, daß musikalisch-rhetorische Figuren oder Ausdruckscharaktere ihre bestimmte Bedeutung erst im Werkzusammenhang bekommen. Ja, sie vergleicht, gestützt durch zwei beigefügte CDs, Bachinterpretationen, weil ihr - musikwissenschaftlich fast eine Sensation - klar ist, daß Musik erst als Vorgetragenes Wirklichkeit hat und daß der Vortragende notwendig das eine oder das andere hervorhebt. Aber sie bewegt sich in der Theologie der Bachzeit wie ein Fisch im Wasser.
Wir können nur mit ihr mitschwimmen und Kupferstiche, Emblemate, Predigten, geistliche Lyrik an unserem Auge vorbeiziehen lassen, ohne wirklich zu einer Karte des Teiches oder einem Verzeichnis seiner Bewohner zu kommen. Vielleicht lernt man rückübertragend daraus, daß noch die längste Bach-Arie nicht einfach nur lang ist, sondern eine gerundete Architektur hat, über die hinreichend Auskunft zu geben, Theologie nicht ausreicht.
GUSTAV FALKE
Renate Steiger: "Gnadengegenwart". Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeit. Doctrina et Pietas, Abteilung II, Varia, Band 2. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart 2002. XXIII, 297 S., Abb., Notenbeispiele, 2 CDs, geb., 89,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Renate Steiger trifft Maßnahmen, um Bach nicht falsch zu hören
Sie habe schon erlebt, schreibt Renate Steiger in ihrem fünfundvierzig Jahre theologische Bach-Forschung summierenden Werk, daß bei Aufführungen der "Matthäuspassion" die zuweilen als lang empfundene Arie "Komm, süßes Kreuz" gestrichen wurde. "Hierzu ist zu sagen, daß auch die Prediger des siebzehnten Jahrhunderts schon wußten: Fleisch und Blut will nicht dran; es geht dem Menschen schwer ein, wenn er leiden soll; er muß zum Kreuz - das doch selten ausbleibt - gezwungen sein."
Die etwas kuriose Rechtfertigung von Bachs Musik als Strafe verrät eine Haltung lutherischer Orthodoxie. Und mit der Haltung befindet Steiger sich auf Augenhöhe von Bachs Bewußtsein. So kann sie seinen berühmten Bibeleintrag "Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden-Gegenwart" theologiegeschichtlich verorten. Luther zufolge ist Christi Ankunft dreifältig: vergangenes Kommen ins Fleisch, zukünftiges Kommen in Herrlichkeit und gegenwärtiges Kommen in Gnade. Die Gnadengegenwart wiederum hat für die lutherische Tradition ihren dreifachen Ort in Sakrament, Wort und Musik: Altar, Kanzel, Orgel. Die Musik redet also nicht von Vergangenem, Zukünftigem oder Jenseitigem, sondern Gott ist in ihr oder durch sie in uns gegenwärtig. Und daraus könnte man dann über Steiger hinaus das eigentümliche Verhältnis der Bachschen Musik zur Zeit verstehen. Wer von Musik Entwicklungen, Höhepunkte erwartet, dem müssen die Stücke mit ihren Wiederholungen, Zergliederungen, Umstellungen, Farbveränderungen oft endlos vorkommen. Aber die Endlosigkeit hat ihren präzisen theologischen Grund in dem absoluten, zeitaufhebenden Charakter von Sündenbewußtsein und Heilsgewißheit.
Jedem ist selbstverständlich, daß zur Oper auch die Szene gehört. Den musikalischen Ausdruck von Affekten und Charakteren verstehen wir angemessen erst aus der Kenntnis des Handlungszusammenhanges. Ebenso selbstverständlich müßte sein, daß zum Verständnis sakraler Musik das Wissen um ihren liturgischen Ort und ihren theologischen Sinn gehört. Musik ist keine angewandte Theologie, sie interpretiert ihre Vorgaben. Aber diese Interpretation bekommen wir als Interpretation gar nicht zu fassen, wenn wir, späte Nachkommen der Schleiermacherschen Gefühlsreligion, davon ausgehen, in der Musik spreche das Herz unmittelbar zum Herzen. Gerade wenn wir die Musik nicht als religiöse Musik hören wollen, müssen wir uns das Feld der theologischen Unterscheidungen klarmachen, in dem sie Position bezieht. Steiger weist etwa darauf hin, daß der leitende Affekt der evangelischen Passionsbetrachtung nicht wie in der katholischen Devotion die compassio, das Mitleiden, sei, sondern Schmerz und Reue über den Grund dieses Leidens und freudige Dankbarkeit angesichts seiner Frucht. Damit wird klar, warum Bach das italienisch Opernhafte nicht weniger fremd ist als die pietistische Einfühlung. Wer sich von der Dramatik der Bach'schen Musik mitreißen läßt, hört so falsch wie der, der sich dem süßen Sehnen der Vorhalte ergibt: Er unterschlägt den reflektierenden Selbstabstand, der Bach als orthodoxem Lutheraner zweite Natur war.
Dennoch muß man zu dem Buch gezwungen sein. Zwar verfährt es methodisch überaus besonnen. Es geht nicht wie in der Musikwissenschaft üblich darauf aus, einzelne musikalische Wendungen zu dechiffrieren oder Bachs Symbolsprache zu rekonstruieren. Vielmehr wird vor dem Horizont der zeitgenössischen Predigt- und Erbauungsliteratur der Textsinn entfaltet und mit einer Gesamtdarstellung des musikalischen Verlaufs in Beziehung gesetzt. Ziegler ist sehr bewußt, daß musikalisch-rhetorische Figuren oder Ausdruckscharaktere ihre bestimmte Bedeutung erst im Werkzusammenhang bekommen. Ja, sie vergleicht, gestützt durch zwei beigefügte CDs, Bachinterpretationen, weil ihr - musikwissenschaftlich fast eine Sensation - klar ist, daß Musik erst als Vorgetragenes Wirklichkeit hat und daß der Vortragende notwendig das eine oder das andere hervorhebt. Aber sie bewegt sich in der Theologie der Bachzeit wie ein Fisch im Wasser.
Wir können nur mit ihr mitschwimmen und Kupferstiche, Emblemate, Predigten, geistliche Lyrik an unserem Auge vorbeiziehen lassen, ohne wirklich zu einer Karte des Teiches oder einem Verzeichnis seiner Bewohner zu kommen. Vielleicht lernt man rückübertragend daraus, daß noch die längste Bach-Arie nicht einfach nur lang ist, sondern eine gerundete Architektur hat, über die hinreichend Auskunft zu geben, Theologie nicht ausreicht.
GUSTAV FALKE
Renate Steiger: "Gnadengegenwart". Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeit. Doctrina et Pietas, Abteilung II, Varia, Band 2. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart 2002. XXIII, 297 S., Abb., Notenbeispiele, 2 CDs, geb., 89,-
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies ist ein Buch, meint Gustav Falke, ganz aus dem Geist der Musik von Johann Sebastian Bach. Und dieser Geist ist der der lutherischen Orthodoxie, nicht wegzudenken sind aus ihm - wie eben aus der Musik des Komponisten - der "reflektierende Selbstabstand", die Abwesenheit von Entwicklungsbögen in der Musik, die sich dem "zeitaufhebenden Charakter von Sündenbewusstsein und Heilsgewissheit" verdankt. Falke hält alles für richtig, was Steiger hier über Bach schreibt, lobt die Beifügung zweier CDs und die These, dass der Vortrag von der Musik selbst nicht wegzudenken ist, als eine kleine musikwissenschaftliche Sensation - und doch sieht er auch Grenzen des ganzen Ansatzes. Der ganze Bach ist theologisch eben nicht einzufangen, die "Architektur" der Musik ist etwas, das über ihre theologischen Hintergründe hinausweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Buch ist glänzend ausgestattet - vom sorgfältig gestalteten Schriftbild über die reichlichen Beigaben [...], schließlich durch reichliche Register und eine spezifizierte Bibliographie der Verfasserin. Das Werk lädt damit zum Lesen und genaueren Studieren ein. [...] Die in diesem Band vorliegenden Studien leisten [...] einen erheblichen Beitrag zum Hörenlernen.« Volker Stolle, Lutherische Theologie und Kirche »Der Band ist ein bibliophiles Schmuckstück [...] und hat es nicht verdient, 'nur' in Bibliotheken sein Dasein zu fristen.« Jochen Arnold, Württembergische Blätter für Kirchenmusik »Renate Steiger hat unter dem Titel 'Gnadengegenwart' einen Band von beeindruckender Opulenz zur sog. theologischen Bachforschung publiziert, opulent in seiner großzügigen Aufmachung, in seinen aufwendigen Quellenzitaten, seinem Sachregister und den beiden beigelegten CDs.« Christoph Krummacher, Theologische Rundschau»[T]his volume must stand as an outstanding achievement in the academic study of Bach's religious music from which generations of scholars and pastors will profit.« Ivor H. Jones, The Journal of Ecclesiastical History»Summa summarum: Il est à souhaiter que ce volume se trouve dans les bibliothèques personnelles des musiciens, musicologues - et théologiens.« U. Asper, Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses
»[T]his volume must stand as an outstanding achievement in the academic study of Bach's religious music from which generations of scholars and pastors will profit.« Ivor H. Jones, The Journal of Ecclesiastical History»Summa summarum: Il est à souhaiter que ce volume se trouve dans les bibliothèques personnelles des musiciens, musicologues - et théologiens.« U. Asper, Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses»Das Buch ist glänzend ausgestattet - vom sorgfältig gestalteten Schriftbild über die reichlichen Beigaben [...], schließlich durch reichliche Register und eine spezifizierte Bibliographie der Verfasserin. Das Werk lädt damit zum Lesen und genaueren Studieren ein. [...] Die in diesem Band vorliegenden Studien leisten [...] einen erheblichen Beitrag zum Hörenlernen.« Volker Stolle, Lutherische Theologie und Kirche »Der Band ist ein bibliophiles Schmuckstück [...] und hat es nicht verdient, 'nur' in Bibliotheken sein Dasein zu fristen.« Jochen Arnold, Württembergische Blätter für Kirchenmusik »Renate Steiger hat unter dem Titel 'Gnadengegenwart' einen Band von beeindruckender Opulenz zur sog. theologischen Bachforschung publiziert, opulent in seiner großzügigen Aufmachung, in seinen aufwendigen Quellenzitaten, seinem Sachregister und den beiden beigelegten CDs.« Christoph Krummacher, Theologische Rundschau