Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.1995Sprachlos
OSTEN. "Für das, was derzeit im Osten Europas geschieht, gibt es noch keine Sprache . . ." - wie ein Leitmotiv durchzieht das Lob des Schweigens die Aufsatzsammlung Karl Schlögels. Die Mehrzahl der Essays ist zuvor schon in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht worden, einige sind eigens für den Sammelband geschrieben. Sie sind Dokumente der erlebten Nachwendezeit der Jahre 1991 bis 1995. Der sprachlose Augenblick der Wende wird von Schlögel beschrieben als ein Glücksmoment, als Augenblick einer glücklichen Katastrophe, der die Chance bietet, etablierten Interpretationszwängen zu entfliehen und sich auf die Suche nach einer neuen Sprache zu machen. In die Sprachlosigkeit hinein reflektiert er die Umwälzungen im Osten als einer, der wieder am Anfang steht, nachdem die vertraute System- und Raumordnung mit dem Ende des Kalten Krieges untergegangen ist, reflektiert, was der Osten war - im Osten brauchte man viel Zeit; im Osten waren die Hotels schlecht und dazu noch teuer -, und nähert sich dem neuen Osten in der Anschauung - der russischen Provinz auf einem Wolga-Dampfer, Kaliningrad aus dem Blickwinkel der Königsberger, dem Baltikum in Fragmenten, der sowjetischen Stahlschmiede Magnitogorsk auf der Suche nach dem, was die Moderne hinterlassen hat. Im Schlußessay versucht Schlögel den theoretischen Skandal des Jahres 1989 zu erklären. Er zeigt auf, wie feste Denkmuster und starre Perspektiven es den Sowjetologen unmöglich machten, die Selbstauflösung der UdSSR vorherzusehen, und wie eine von diesen Fesseln befreite Darstellung des Ostens aussehen könnte: das Epos "Rußland im 20. Jahrhundert" wird ein atheoretisches Erzählen von Geschichten sein. (Karl Schlögel: Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens. Siedler Verlag, Berlin 1995. 224 Seiten, 38,- Mark.) cho.
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OSTEN. "Für das, was derzeit im Osten Europas geschieht, gibt es noch keine Sprache . . ." - wie ein Leitmotiv durchzieht das Lob des Schweigens die Aufsatzsammlung Karl Schlögels. Die Mehrzahl der Essays ist zuvor schon in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht worden, einige sind eigens für den Sammelband geschrieben. Sie sind Dokumente der erlebten Nachwendezeit der Jahre 1991 bis 1995. Der sprachlose Augenblick der Wende wird von Schlögel beschrieben als ein Glücksmoment, als Augenblick einer glücklichen Katastrophe, der die Chance bietet, etablierten Interpretationszwängen zu entfliehen und sich auf die Suche nach einer neuen Sprache zu machen. In die Sprachlosigkeit hinein reflektiert er die Umwälzungen im Osten als einer, der wieder am Anfang steht, nachdem die vertraute System- und Raumordnung mit dem Ende des Kalten Krieges untergegangen ist, reflektiert, was der Osten war - im Osten brauchte man viel Zeit; im Osten waren die Hotels schlecht und dazu noch teuer -, und nähert sich dem neuen Osten in der Anschauung - der russischen Provinz auf einem Wolga-Dampfer, Kaliningrad aus dem Blickwinkel der Königsberger, dem Baltikum in Fragmenten, der sowjetischen Stahlschmiede Magnitogorsk auf der Suche nach dem, was die Moderne hinterlassen hat. Im Schlußessay versucht Schlögel den theoretischen Skandal des Jahres 1989 zu erklären. Er zeigt auf, wie feste Denkmuster und starre Perspektiven es den Sowjetologen unmöglich machten, die Selbstauflösung der UdSSR vorherzusehen, und wie eine von diesen Fesseln befreite Darstellung des Ostens aussehen könnte: das Epos "Rußland im 20. Jahrhundert" wird ein atheoretisches Erzählen von Geschichten sein. (Karl Schlögel: Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens. Siedler Verlag, Berlin 1995. 224 Seiten, 38,- Mark.) cho.
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