Nicholas Boyles Goethe-Biographie ist einzigartig: ein biographisches Meisterwerk, das bei seinem Erscheinen in Deutschland und in England Aufsehen erregt hat. Mit den ersten beiden des auf drei Bände geplanten Werks liegen bereits über 2000 Seiten vor; mit stupender Detailkenntnis, die auch für ausgewiesene Goethekenner noch überraschungen bietet, vermittelt Boyle ein neues, ungewöhnliches Bild des Menschen und des Dichters. Und es gelingt ihm, seinen Stoff erzählerisch zu vermitteln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.1999Taubes Gestein
Nicholas Boyle sucht Goethe · Von Heinz Schlaffer
Lückenlos, von Gesang zu Gesang, erzählt Nicholas Boyle die Ereignisse in "Herrmann und Dorothea" nach, ehe er das Werk interpretiert. Dies ist für ein deutsches Publikum so hilfreich wie für ein englisches, denn das einstige Lieblingsepos des deutschen Bürgertums ist seinen Nachkommen inzwischen unbekannt. Je näher ihnen Goethes Person gebracht wird, desto ferner rückt ihnen seine Dichtung, deren Rang doch einzig das Interesse an diesem Autor rechtfertigt. Zu den ausgedehnten Feiern in diesem Jahr treibt kein allgemeines Vergnügen an Goethes Versen und Prosa, sondern allein der vorhersehbare Zufall, dass sich die Endziffer seines Geburtsjahrs wiederholt und die Differenz der Jahre 1999 und 1749 eine im Volksmund "rund" genannte Zahl ergibt. Der mechanische Glaube an die Magie der Zahl ersetzt die literarische Präsenz.
Unter den vielen Büchern, die für das Jubiläum produziert wurden, haben ausschließlich biographische Vermutungen über verborgene Seiten der Person Goethes eine größere Aufmerksamkeit gefunden: Wie ging er mit seiner Frau um? War er für ein Todesurteil verantwortlich? Diente er als Spion gegen oppositionelle Freimaurer? So lässt sich über Goethe wie über so manchen Menschen reden. Nicht wenige glauben, das Werk zu kennen, nur weil ihnen etwas über seinen Verfasser kolportiert wurde. Wer liest noch "Clavigo", "Wilhelm Meisters Lehrjahre", den "West-östlichen Divan", die "Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten" oder eben "Herrmann und Dorothea"?
Von den abträglichen Wirkungen biographischer Neugierde ist die bedeutendste Biographie Goethes frei: die Nicholas Boyles. Diesen Vorzug verdankt sie vor allem seiner Fähigkeit, in der Epoche und im Leben Goethes solche Spuren zu verfolgen, die auf das produktive Moment seiner Existenz hinführen: eine poetische Phantasie, die dennoch die verborgenen Verlegenheiten der Zeit zur Sprache bringt. Deshalb ist Boyles weit ausgreifende Darstellung auf eine einzige Aufgabe konzentriert: Goethes Schriften zusammenhängend zu kommentieren. Der Untertitel "Der Dichter in seiner Zeit" bezeichnet das Ziel, vergangene Dichtung historisch so zu interpretieren, dass sie den heute Lebenden zugänglich wird, ohne dass sie dabei ihre Andersartigkeit einbüßte.
Aktualisierung hat stets eine Verarmung des klassischen Textes zur Folge. Es wäre ein Leichtes gewesen, aus "Herrmann und Dorothea" einen derben, moralischen Wink für den Umgang mit heutigen Kriegsflüchtlingen herauszulesen. Doch Boyle stimmt den geschichtlichen Hintergrund, die Flucht rheinländischer Bürger vor der französischen Revolutionsarmee, zum geschickt gewählten Stoff für Goethes Experiment herab, Form und Tonfall des homerischen Epos auf die eigene Zeit anzuwenden. Dazu braucht Goethe eine altertümlichere, kleinstädtische Umgebung, einen mittleren ästhetisch-sozialen Zustand zwischen Antike und Moderne, "in dem uns die antike Welt noch in ihrer Andersartigkeit gegenwärtig bleibt und nicht einfach dem Vergessen oder der absoluten Fremdheit anheimfällt".
Boyle begnügt sich nicht mit einer zeit- und lebensgeschichtlichen Explikation des Werks, sondern gelangt, die poetischen Strukturen und Wirkungen beobachtend, über bisherige Einsichten der Goethe-Philologie hinaus. So entgeht ihm nicht der eigentümliche Humor von "Herrmann und Dorothea", der aus dem Widerstreit der großen epischen Tradition mit der beschränkten Welt, in der sie wieder aufleben soll, entstehen musste. Es ist ein humaner Humor, der nicht die Charaktere und Handlungen der Protagonisten relativiert, sondern allein der archaisierenden Sprache des epischen Erzählers gilt: "Was wir belächeln, ist das dichterische Medium, die homerisierende Manier, und darum behält die Sache für uns ihr ernsthaftes Interesse.
Nicht Herrmann vergleiche sich mit Achilles, sondern der erzählende Dichter, und nicht die Vorstellung von Herrmann, der die Kutsche nach Hause fährt (,Man hörte der stampfenden Pferde / Fernes Getöse sich nahn, man hörte den rollenden Wagen, / Der mit gewaltiger Eile nun donnert unter den Torweg'), ist Quelle unserer Belustigung, sondern der Versuch des erzählenden Dichters, diesen Augenblick einem Augenblick in der Ilias anzuähneln."
Die Bände von Boyles Biographie orientieren sich, insofern sie selbst Werke sind, am Modell des poetischen Werks. Sie sind deshalb um Einheit, durchgängige Motivation, Korrespondenz von Anfang und Ende bemüht. "Revolution und Entsagung" überschreibt Boyle den zweiten Band, wenngleich "Revolution und Stillstand" angemessener für diese Epoche Goethes zwischen seinem vierzigsten und fünfzigsten Jahr gewesen wäre. Die Geschichte der Französischen Revolution steht am Anfang des Buches, das Drama der Entsagung, "Die Natürliche Tochter", an seinem Ende.
Eugenie, die natürliche Tochter des Königs, entschließt sich, um ihr Leben zu retten, auf den Thronanspruch in dem von Revolutionen bedrohten Staat zu verzichten und die Ehe mit einem bürgerlichen Gerichtsrat einzugehen. Boyle bemerkt die Parallele zwischen Dichtung und Leben des Autors, der sich von der Ehe eine "symbolische Antwort auf die auflösende Kraft der Revolution" verspricht. Solche tragikomischen Übertreibungen privaten Glücks und Unglücks in weltgeschichtliche (oder kosmische) waren Goethe nicht fremd: Seine endgültige Eheschließung mit Christiane Vulpius wird er später auf den Tag der Niederlage von Jena datieren lassen.
Über die biographischen Umstände hinaus bezieht Boyle das symbolisch-politische Drama der Entsagung auf Goethes ästhetische Grundsätze. Wie Eugenie dem Ideal einer aristokratischen Existenz abschwören und sich mit der Realität des bürgerlichen Milieus abfinden muss, so kehrt 1803 Goethe selbst, nachdem er so lange der höfischen Welt und dem klassischen Stil gehuldigt hatte, zum Bürgertum zurück. Für die bürgerliche Klasse, die ihm durch seine Herkunft vertraut war, die sich aber gerade durch die Französische Revolution als neue geschichtliche Macht erwiesen hatte, sollte er in seinem Spätwerk neue Formen der Dichtung erfinden, um die Zukunft der herauf dämmernden Moderne in phantasmagorischer Gestalt vorwegzunehmen.
Da es Boyles Interpretationen auszeichnet, die Form von Goethes Werken als Gehalt bloßzulegen, muss man es bedauern, dass in diesem zweiten Band die Chronik der politischen und privaten Ereignisse so viel Raum einnimmt. Erst nach dreihundert Seiten kommt das erste bedeutende Werk zur Sprache, "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Zuvor wird ein Abriss der Französischen Revolution gegeben, wie er sich auch in Geschichtsbüchern finden ließe; ungesagt hingegen bleibt, was Goethe damals von diesen Vorgängen wissen konnte und wie er sie beurteilte. Dann begleiten wir den Dichter, der jetzt als Staatsmann dienen muss, in die "Kampagne in Frankreich", wobei Boyle das Grauen der preußisch-österreichischen Niederlage, wie Goethe es erlebte, in eindrucksvollen Szenen wiedergibt. Aber von diesen Ereignissen, so folgenreich sie auch für die Weltgeschichte gewesen sein mögen, führt kein Weg zur Literatur.
Deprimiert vom Ausgang des Feldzugs entschließt sich Goethe zum Rückzug: zum Studium der Naturwissenschaften, zur Häuslichkeit mit Weib und Kind, zur Erfüllung seiner Amtspflichten. Die Revolution, die er wie alle eruptiven Veränderungen ablehnte, versperrte ihm gleichwohl die Rückkehr zur klassischen Tradition und den Rückgriff auf persönliche Erinnerungen, die ihm Kontinuität verbürgt hätten. Erst Jahrzehnte später, mit der "Natürlichen Tochter", den "Wanderjahren" und vor allem mit dem zweiten Teil des "Faust" fand Goethe auch für die Erfahrung der Revolution, für die Erfahrung sich wiederholender Revolutionen, einen poetischen Ausdruck. Doch liegt diese Periode neuer Produktivität jenseits der zwölf Jahre zwischen 1791 und 1803, auf die sich Boyles zweiter Band beschränkt.
An der Proportion der gesamten Biographie, die ursprünglich auf zwei Bände angelegt war, ist nun leider durch die ungehemmte Ausweitung des Materials eine Disproportion entstanden. Das außergewöhnliche Lob, das der erste Band zu Recht erhalten hat, muss für den zweiten abgeschwächt werden. Der erste Band, zweihundert Seiten schmäler als der vorliegende, umfasste vierzig Jahre von Goethes Leben, dazu noch eine inspirierte Vorgeschichte deutscher Dicht- und Denkweisen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Wenn nun die folgenden zwölf Jahre, die unproduktivste Zeit des Dichters Goethe, einen größeren Umfang beanspruchen, so hat sich - um die Goethe vertraute Bergmannsprache zu gebrauchen - das taube Gestein vermehrt, nicht das Erz. Bei der möglichst vollständigen Präsentation der öffentlichen und privaten Geschichte, nicht selten von Tag zu Tag, ist Boyle seine frühere Kunst des Weglassens abhanden gekommen. Es stehen noch 29 Jahre aus, angefüllt mit den bedeutendsten Werken. Man muss befürchten, dass dafür auch ein dritter Band nicht ausreichen wird.
Allen bisherigen Biographien Goethes, von Deutschen geschrieben, war Boyles erster Band durch den Blick des Engländers überlegen, dem die deutschen Verhältnisse des achtzehnten Jahrhunderts, verglichen mit den westeuropäischen, befremdlich und daher erklärungsbedürftig erschienen. So vermochte er es, die - vor allem durch religiöse Haltungen geprägte - Eigenart deutscher Literatur, deutschen Geistes (und Goethes eigenartige Abweichung von dieser Eigenart) deutschen Lesern bewusst zu machen, denen sie zu einer unbedachten Selbstverständlichkeit geworden war. Man möchte vermuten, dass Boyle, lange und intensiv in deutsche Quellen vertieft, sich selbst zu sehr an die Welt und die Person Goethes gewöhnt hat, um noch das Maß an Verwunderung zu besitzen, die das Wunder des ersten Bandes hervorgebracht hatte.
Nicholas Boyle: "Goethe. Der Dichter in seiner Zeit". Band II: 1791 - 1803. Verlag C. H. Beck, München 1999. 1115 S., geb., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicholas Boyle sucht Goethe · Von Heinz Schlaffer
Lückenlos, von Gesang zu Gesang, erzählt Nicholas Boyle die Ereignisse in "Herrmann und Dorothea" nach, ehe er das Werk interpretiert. Dies ist für ein deutsches Publikum so hilfreich wie für ein englisches, denn das einstige Lieblingsepos des deutschen Bürgertums ist seinen Nachkommen inzwischen unbekannt. Je näher ihnen Goethes Person gebracht wird, desto ferner rückt ihnen seine Dichtung, deren Rang doch einzig das Interesse an diesem Autor rechtfertigt. Zu den ausgedehnten Feiern in diesem Jahr treibt kein allgemeines Vergnügen an Goethes Versen und Prosa, sondern allein der vorhersehbare Zufall, dass sich die Endziffer seines Geburtsjahrs wiederholt und die Differenz der Jahre 1999 und 1749 eine im Volksmund "rund" genannte Zahl ergibt. Der mechanische Glaube an die Magie der Zahl ersetzt die literarische Präsenz.
Unter den vielen Büchern, die für das Jubiläum produziert wurden, haben ausschließlich biographische Vermutungen über verborgene Seiten der Person Goethes eine größere Aufmerksamkeit gefunden: Wie ging er mit seiner Frau um? War er für ein Todesurteil verantwortlich? Diente er als Spion gegen oppositionelle Freimaurer? So lässt sich über Goethe wie über so manchen Menschen reden. Nicht wenige glauben, das Werk zu kennen, nur weil ihnen etwas über seinen Verfasser kolportiert wurde. Wer liest noch "Clavigo", "Wilhelm Meisters Lehrjahre", den "West-östlichen Divan", die "Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten" oder eben "Herrmann und Dorothea"?
Von den abträglichen Wirkungen biographischer Neugierde ist die bedeutendste Biographie Goethes frei: die Nicholas Boyles. Diesen Vorzug verdankt sie vor allem seiner Fähigkeit, in der Epoche und im Leben Goethes solche Spuren zu verfolgen, die auf das produktive Moment seiner Existenz hinführen: eine poetische Phantasie, die dennoch die verborgenen Verlegenheiten der Zeit zur Sprache bringt. Deshalb ist Boyles weit ausgreifende Darstellung auf eine einzige Aufgabe konzentriert: Goethes Schriften zusammenhängend zu kommentieren. Der Untertitel "Der Dichter in seiner Zeit" bezeichnet das Ziel, vergangene Dichtung historisch so zu interpretieren, dass sie den heute Lebenden zugänglich wird, ohne dass sie dabei ihre Andersartigkeit einbüßte.
Aktualisierung hat stets eine Verarmung des klassischen Textes zur Folge. Es wäre ein Leichtes gewesen, aus "Herrmann und Dorothea" einen derben, moralischen Wink für den Umgang mit heutigen Kriegsflüchtlingen herauszulesen. Doch Boyle stimmt den geschichtlichen Hintergrund, die Flucht rheinländischer Bürger vor der französischen Revolutionsarmee, zum geschickt gewählten Stoff für Goethes Experiment herab, Form und Tonfall des homerischen Epos auf die eigene Zeit anzuwenden. Dazu braucht Goethe eine altertümlichere, kleinstädtische Umgebung, einen mittleren ästhetisch-sozialen Zustand zwischen Antike und Moderne, "in dem uns die antike Welt noch in ihrer Andersartigkeit gegenwärtig bleibt und nicht einfach dem Vergessen oder der absoluten Fremdheit anheimfällt".
Boyle begnügt sich nicht mit einer zeit- und lebensgeschichtlichen Explikation des Werks, sondern gelangt, die poetischen Strukturen und Wirkungen beobachtend, über bisherige Einsichten der Goethe-Philologie hinaus. So entgeht ihm nicht der eigentümliche Humor von "Herrmann und Dorothea", der aus dem Widerstreit der großen epischen Tradition mit der beschränkten Welt, in der sie wieder aufleben soll, entstehen musste. Es ist ein humaner Humor, der nicht die Charaktere und Handlungen der Protagonisten relativiert, sondern allein der archaisierenden Sprache des epischen Erzählers gilt: "Was wir belächeln, ist das dichterische Medium, die homerisierende Manier, und darum behält die Sache für uns ihr ernsthaftes Interesse.
Nicht Herrmann vergleiche sich mit Achilles, sondern der erzählende Dichter, und nicht die Vorstellung von Herrmann, der die Kutsche nach Hause fährt (,Man hörte der stampfenden Pferde / Fernes Getöse sich nahn, man hörte den rollenden Wagen, / Der mit gewaltiger Eile nun donnert unter den Torweg'), ist Quelle unserer Belustigung, sondern der Versuch des erzählenden Dichters, diesen Augenblick einem Augenblick in der Ilias anzuähneln."
Die Bände von Boyles Biographie orientieren sich, insofern sie selbst Werke sind, am Modell des poetischen Werks. Sie sind deshalb um Einheit, durchgängige Motivation, Korrespondenz von Anfang und Ende bemüht. "Revolution und Entsagung" überschreibt Boyle den zweiten Band, wenngleich "Revolution und Stillstand" angemessener für diese Epoche Goethes zwischen seinem vierzigsten und fünfzigsten Jahr gewesen wäre. Die Geschichte der Französischen Revolution steht am Anfang des Buches, das Drama der Entsagung, "Die Natürliche Tochter", an seinem Ende.
Eugenie, die natürliche Tochter des Königs, entschließt sich, um ihr Leben zu retten, auf den Thronanspruch in dem von Revolutionen bedrohten Staat zu verzichten und die Ehe mit einem bürgerlichen Gerichtsrat einzugehen. Boyle bemerkt die Parallele zwischen Dichtung und Leben des Autors, der sich von der Ehe eine "symbolische Antwort auf die auflösende Kraft der Revolution" verspricht. Solche tragikomischen Übertreibungen privaten Glücks und Unglücks in weltgeschichtliche (oder kosmische) waren Goethe nicht fremd: Seine endgültige Eheschließung mit Christiane Vulpius wird er später auf den Tag der Niederlage von Jena datieren lassen.
Über die biographischen Umstände hinaus bezieht Boyle das symbolisch-politische Drama der Entsagung auf Goethes ästhetische Grundsätze. Wie Eugenie dem Ideal einer aristokratischen Existenz abschwören und sich mit der Realität des bürgerlichen Milieus abfinden muss, so kehrt 1803 Goethe selbst, nachdem er so lange der höfischen Welt und dem klassischen Stil gehuldigt hatte, zum Bürgertum zurück. Für die bürgerliche Klasse, die ihm durch seine Herkunft vertraut war, die sich aber gerade durch die Französische Revolution als neue geschichtliche Macht erwiesen hatte, sollte er in seinem Spätwerk neue Formen der Dichtung erfinden, um die Zukunft der herauf dämmernden Moderne in phantasmagorischer Gestalt vorwegzunehmen.
Da es Boyles Interpretationen auszeichnet, die Form von Goethes Werken als Gehalt bloßzulegen, muss man es bedauern, dass in diesem zweiten Band die Chronik der politischen und privaten Ereignisse so viel Raum einnimmt. Erst nach dreihundert Seiten kommt das erste bedeutende Werk zur Sprache, "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Zuvor wird ein Abriss der Französischen Revolution gegeben, wie er sich auch in Geschichtsbüchern finden ließe; ungesagt hingegen bleibt, was Goethe damals von diesen Vorgängen wissen konnte und wie er sie beurteilte. Dann begleiten wir den Dichter, der jetzt als Staatsmann dienen muss, in die "Kampagne in Frankreich", wobei Boyle das Grauen der preußisch-österreichischen Niederlage, wie Goethe es erlebte, in eindrucksvollen Szenen wiedergibt. Aber von diesen Ereignissen, so folgenreich sie auch für die Weltgeschichte gewesen sein mögen, führt kein Weg zur Literatur.
Deprimiert vom Ausgang des Feldzugs entschließt sich Goethe zum Rückzug: zum Studium der Naturwissenschaften, zur Häuslichkeit mit Weib und Kind, zur Erfüllung seiner Amtspflichten. Die Revolution, die er wie alle eruptiven Veränderungen ablehnte, versperrte ihm gleichwohl die Rückkehr zur klassischen Tradition und den Rückgriff auf persönliche Erinnerungen, die ihm Kontinuität verbürgt hätten. Erst Jahrzehnte später, mit der "Natürlichen Tochter", den "Wanderjahren" und vor allem mit dem zweiten Teil des "Faust" fand Goethe auch für die Erfahrung der Revolution, für die Erfahrung sich wiederholender Revolutionen, einen poetischen Ausdruck. Doch liegt diese Periode neuer Produktivität jenseits der zwölf Jahre zwischen 1791 und 1803, auf die sich Boyles zweiter Band beschränkt.
An der Proportion der gesamten Biographie, die ursprünglich auf zwei Bände angelegt war, ist nun leider durch die ungehemmte Ausweitung des Materials eine Disproportion entstanden. Das außergewöhnliche Lob, das der erste Band zu Recht erhalten hat, muss für den zweiten abgeschwächt werden. Der erste Band, zweihundert Seiten schmäler als der vorliegende, umfasste vierzig Jahre von Goethes Leben, dazu noch eine inspirierte Vorgeschichte deutscher Dicht- und Denkweisen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Wenn nun die folgenden zwölf Jahre, die unproduktivste Zeit des Dichters Goethe, einen größeren Umfang beanspruchen, so hat sich - um die Goethe vertraute Bergmannsprache zu gebrauchen - das taube Gestein vermehrt, nicht das Erz. Bei der möglichst vollständigen Präsentation der öffentlichen und privaten Geschichte, nicht selten von Tag zu Tag, ist Boyle seine frühere Kunst des Weglassens abhanden gekommen. Es stehen noch 29 Jahre aus, angefüllt mit den bedeutendsten Werken. Man muss befürchten, dass dafür auch ein dritter Band nicht ausreichen wird.
Allen bisherigen Biographien Goethes, von Deutschen geschrieben, war Boyles erster Band durch den Blick des Engländers überlegen, dem die deutschen Verhältnisse des achtzehnten Jahrhunderts, verglichen mit den westeuropäischen, befremdlich und daher erklärungsbedürftig erschienen. So vermochte er es, die - vor allem durch religiöse Haltungen geprägte - Eigenart deutscher Literatur, deutschen Geistes (und Goethes eigenartige Abweichung von dieser Eigenart) deutschen Lesern bewusst zu machen, denen sie zu einer unbedachten Selbstverständlichkeit geworden war. Man möchte vermuten, dass Boyle, lange und intensiv in deutsche Quellen vertieft, sich selbst zu sehr an die Welt und die Person Goethes gewöhnt hat, um noch das Maß an Verwunderung zu besitzen, die das Wunder des ersten Bandes hervorgebracht hatte.
Nicholas Boyle: "Goethe. Der Dichter in seiner Zeit". Band II: 1791 - 1803. Verlag C. H. Beck, München 1999. 1115 S., geb., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main