Deutsch-jüdische Flüchtlinge erzählen, wie sie als Kinder mit ihren Eltern aus Hitler-Deutschland entkamen und in Buenos Aires eine neue Heimat fanden. Sie sind nun über 90 Jahre alt und letzte Zeitzeugen, die aus eigener Erfahrung über dieFlucht vor den Nazis und über die Ankunft in Argentinien, über die Schwierigkeiten, aber auch über die Solidarität und das Sesshaftwerden berichten können. Und über das, was ihnen Kraft gegeben hat. Nämlich die deutsche Kultur - obwohl sie aus Deutschland vertrieben wurden, und obgleich nach dem Krieg auch zahlreiche Nazis in ihrer neuen Heimat aufgenommen wurden.In den authentischen Gesprächsprotokollen macht die Autorin ein dunkles Kapitel unserer Geschichte lebendig, das uns kaum noch gegenwärtig ist. Sie verwebt die Gespräche mit einigen deutschen Elementen, die im fernen Argentinien ein überraschendes Eigenleben entwickelt haben. Den Abschluss bildet eine Lebensgeschichte, die kaum zu glauben ist. Die Tochter eines hohen Nazis lernt in Buenos Aires den Mann ihres Lebens kennen: einen Auschwitzüberlebenden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Flucht und Vertreibung sind Themen, die an Aktualität und Relevanz nicht abnehmen. Das hat Rezensent Sebastian Schoepp in Henriette Kaisers neuem Buch wieder einmal vor Augen geführt bekommen. Die Schriftstellerin und Regisseurin hat deutsche Geflüchtete in Argentinien interviewt und einiges über die Flucht aus Deutschland in den 1930er Jahren in Erfahrung bringen können. Dabei hat der Rezensent auch Überraschendes gelernt, etwa über das (deutsch-)jüdische Leben in Buenos Aires oder über das "Leben in zwei Welten", von denen in die eine zurückzukehren unmöglich wurde. Aus der Rezension spricht Dankbarkeit für dieses Buch. Und für die mittlerweile uralten letzten Zeitzeugen, die ihre Geschichte der Autorin und damit auch den Leser*innen anvertraut haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2022Im letzten Moment
Henriette Kaiser hat hochbetagte jüdische Flüchtlinge in Buenos Aires interviewt – und dabei auch viel über die Gegenwart gelernt
Wie ist das, in zwei Welten zu leben, von der eine für immer verloren ist? Wie fühlt es sich an, den Teil einer Kultur in sich zu tragen, aus der man vertrieben wurde, und in einer anderen Kultur zu leben, die einen zwar aufgenommen hat, die aber stets fremd bleibt? Dieser, in unseren von Flucht und Vertreibung gekennzeichneten Zeiten für Milliarden Menschen zentralen Frage ihrer Existenz, geht Henriette Kaiser in ihrem neuen Buch „Goethe in Buenos Aires“ nach. Die Schriftstellerin und Regisseurin hat deutsche Emigranten in Argentinien interviewt, Flüchtlinge in Wahrheit, denn zur Emigration entschließt man sich, zur Flucht wird man getrieben, wie eine ihrer Gesprächspartnerinnen sagt.
Geflohen waren sie mit ihren Eltern in den Dreißigerjahren vor Hitler, ans Ende der Welt, nach Argentinien, eine der letzten Zufluchten, als andere Länder die Tore längst geschlossen hatten. Zwischen 25000 und 40000 sollen es gewesen sein, wie viele genau, weiß niemand, denn die Dokumentationswut argentinischer Behörden war nicht allzu groß. Fest steht, dass die jüdische Gemeinschaft von Buenos Aires zusammen mit New York heute als die größte außerhalb Israels gilt. Henriette Kaisers Buch schließt eine Lücke zwischen öffentlich kaum zugänglichen Familienerinnerungen und der spärlichen wissenschaftlichen Dokumentation über dieses wenig bekannte Kapitel argentinischer und deutscher Geschichte. Und es ist eine packende Lektüre – wenn man den Menschen folgt auf ihrer chaotischen Flucht, der Überfahrt auf Bananendampfern und Frachtern, in diese fremde Welt zwischen dem Geruch von Jasmin, Lapponia-Eis und Männern, die nachts auf der Straße in Pyjamas der tropischen Hitze trotzen, wie es an einer Stelle heißt.
Man erfährt eine Menge über den erstaunlichen Emigrantenkosmos von Buenos Aires, die Pestalozzischule und das deutschsprachige Argentinische Tageblatt, das von Schweizer Auswanderern gegründet worden war und das den Flüchtlingen eine unerwartete Plattform bot. All das bildete eine Gegenwelt zu der von den Nazis infiltrierten Kolonie der Auslandsdeutschen, der offiziellen Firmenvertreter, NS-Diplomaten und dem rechtsradikalem Gesindel. Zwei Welten, die sich abschotteten gegeneinander wie verfeindete Dörfer, wie Balder Olden einst schrieb.
Eine langjährige Mitarbeiterin des Argentinischen Tageblatts, Marion Kaufmann war es, die Henriette Kaiser dazu brachte, die letzten überlebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu interviewen. Sie sind inzwischen hochbetagt, verbreiten aber vitalste Zuversicht. Und das ist das eigentliche Frappierende an dem Buch: Die Gespräche mit den Davongekommenen hätten ihr gezeigt, wie „trotz solcher Ereignisse ein bejahendes, zukunftsorientiertes Dasein möglich ist“, schreibt Kaiser.
„Ich habe das alles als nicht so schrecklich empfunden“, bekennt da etwa die Emigrantin Liesel Bein. Die meisten Neuankömmlinge stiegen mittellos vom Schiff, aber mit Überlebensinstinkt und Alltagsgeschick. Man hört im ganzen Buch „keine Silbe der Klage“. Ihr Gastland sehen die meisten trotz der chaotischen Politik positiv, „bei keiner Person habe ich jemals Antisemitismus gespürt“, sagt Rodolfo Leeser. Einzig Präsident Perón standen viele jüdische Flüchtlinge ablehnend gegenüber wegen seiner Aufnahme alter Nazis. Doch Kaiser erzählt sogar Fälle, in denen sich die Welten auf kaum glaubliche Weise mischten, etwa wenn der Auschwitz-Überlebende die Tochter eines früheren Karriere-Nazis heiratete.
In Argentinien folgte man ohne Ansehen der Fluchtgründe der Prämisse „regieren heißt bevölkern“ – sowie der Ersten Verfassung des Landes, die Neuankömmlingen ein Bewahren der eigenen Kultur ausdrücklich ermöglichte, worauf viele Argentinier heute noch stolz seien, wie Henriette Kaiser sagt. Die Kraft der Megametropole Buenos Aires liege im „Miteinander der unterschiedlichen Kulturen“. Im Gespräch zieht sie das Fazit: „Die Weigerung Deutschlands, sich als Einwanderungsland zu sehen, ist ein Fehler.“
In Argentinien hingegen galten und gelten Einwanderer seit jeher als nützlich, weshalb jüdische Investoren wie Baron Hirsch schon lange vor der Nazi-Zeit landwirtschaftliche Kolonien in entlegenen Provinzen gründeten, wo dann auch Geflüchtete Aufnahme fanden.
Die meisten aber passten vom Berufsbild nicht auf eine Farm, sie blieben in Buenos Aires, verdingten sich als Haushaltshilfen, Gärtner, Tapezierer. Manche stiegen später gesellschaftlich auf, wurden Unternehmer oder sogar Minister. Was die meisten nicht abschütteln konnten: die Sehnsucht nach deutschen Wäldern und nach dem Sprachraum Goethes. Es war ein Leben in zwei Welten, kein Sowohl-als auch, sondern ein „Weder noch“, wie Liesel Bein sagt. Und dann auch immer wieder dieses „Nie wieder Deutschland“.
Sie habe in Argentinien „ein Stück Deutschland gefunden, das es in Deutschland so nicht mehr gibt“, schreibt Henriette Kaiser. Durch die Recherche sei ihr wieder bewusst geworden, was Deutschland verloren habe: „Es wurden ja nicht nur Menschen, sondern auch Haltungen vertrieben.“ Dass sie diese Haltungen im letzten möglichen Moment dokumentiert hat, ist kein geringes Verdienst, denn mit den verbliebenden Zeitzeugen verschwindet ja auch die unmittelbare Kraft der Augenzeugenschaft. Wertvoll, wenn uns, wie es Henriette Kaisers Buch tut, ins vom Alltagstrott vereinnahmte Bewusstsein geflüstert wird: Krieg, Flucht und Vertreibung, das kann jeden treffen, zu jedem Moment, zu jeder Zeit.
SEBASTIAN SCHOEPP
Was blieb, war die Sehnsucht
nach deutschen Wäldern
und dem Sprachraum Goethes
Henriette Kaiser:
Goethe in Buenos Aires – Gespräche über Flucht
und Vertreibung.
Faber&Faber,
Leipzig 2022.
200 Seiten, 22 Euro.
Passanten in Buenos Aires lesen 1939 vor der Redaktion der Zeitung El Mundo die neuesten Nachrichten vom Krieg.
Foto: AP
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Henriette Kaiser hat hochbetagte jüdische Flüchtlinge in Buenos Aires interviewt – und dabei auch viel über die Gegenwart gelernt
Wie ist das, in zwei Welten zu leben, von der eine für immer verloren ist? Wie fühlt es sich an, den Teil einer Kultur in sich zu tragen, aus der man vertrieben wurde, und in einer anderen Kultur zu leben, die einen zwar aufgenommen hat, die aber stets fremd bleibt? Dieser, in unseren von Flucht und Vertreibung gekennzeichneten Zeiten für Milliarden Menschen zentralen Frage ihrer Existenz, geht Henriette Kaiser in ihrem neuen Buch „Goethe in Buenos Aires“ nach. Die Schriftstellerin und Regisseurin hat deutsche Emigranten in Argentinien interviewt, Flüchtlinge in Wahrheit, denn zur Emigration entschließt man sich, zur Flucht wird man getrieben, wie eine ihrer Gesprächspartnerinnen sagt.
Geflohen waren sie mit ihren Eltern in den Dreißigerjahren vor Hitler, ans Ende der Welt, nach Argentinien, eine der letzten Zufluchten, als andere Länder die Tore längst geschlossen hatten. Zwischen 25000 und 40000 sollen es gewesen sein, wie viele genau, weiß niemand, denn die Dokumentationswut argentinischer Behörden war nicht allzu groß. Fest steht, dass die jüdische Gemeinschaft von Buenos Aires zusammen mit New York heute als die größte außerhalb Israels gilt. Henriette Kaisers Buch schließt eine Lücke zwischen öffentlich kaum zugänglichen Familienerinnerungen und der spärlichen wissenschaftlichen Dokumentation über dieses wenig bekannte Kapitel argentinischer und deutscher Geschichte. Und es ist eine packende Lektüre – wenn man den Menschen folgt auf ihrer chaotischen Flucht, der Überfahrt auf Bananendampfern und Frachtern, in diese fremde Welt zwischen dem Geruch von Jasmin, Lapponia-Eis und Männern, die nachts auf der Straße in Pyjamas der tropischen Hitze trotzen, wie es an einer Stelle heißt.
Man erfährt eine Menge über den erstaunlichen Emigrantenkosmos von Buenos Aires, die Pestalozzischule und das deutschsprachige Argentinische Tageblatt, das von Schweizer Auswanderern gegründet worden war und das den Flüchtlingen eine unerwartete Plattform bot. All das bildete eine Gegenwelt zu der von den Nazis infiltrierten Kolonie der Auslandsdeutschen, der offiziellen Firmenvertreter, NS-Diplomaten und dem rechtsradikalem Gesindel. Zwei Welten, die sich abschotteten gegeneinander wie verfeindete Dörfer, wie Balder Olden einst schrieb.
Eine langjährige Mitarbeiterin des Argentinischen Tageblatts, Marion Kaufmann war es, die Henriette Kaiser dazu brachte, die letzten überlebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu interviewen. Sie sind inzwischen hochbetagt, verbreiten aber vitalste Zuversicht. Und das ist das eigentliche Frappierende an dem Buch: Die Gespräche mit den Davongekommenen hätten ihr gezeigt, wie „trotz solcher Ereignisse ein bejahendes, zukunftsorientiertes Dasein möglich ist“, schreibt Kaiser.
„Ich habe das alles als nicht so schrecklich empfunden“, bekennt da etwa die Emigrantin Liesel Bein. Die meisten Neuankömmlinge stiegen mittellos vom Schiff, aber mit Überlebensinstinkt und Alltagsgeschick. Man hört im ganzen Buch „keine Silbe der Klage“. Ihr Gastland sehen die meisten trotz der chaotischen Politik positiv, „bei keiner Person habe ich jemals Antisemitismus gespürt“, sagt Rodolfo Leeser. Einzig Präsident Perón standen viele jüdische Flüchtlinge ablehnend gegenüber wegen seiner Aufnahme alter Nazis. Doch Kaiser erzählt sogar Fälle, in denen sich die Welten auf kaum glaubliche Weise mischten, etwa wenn der Auschwitz-Überlebende die Tochter eines früheren Karriere-Nazis heiratete.
In Argentinien folgte man ohne Ansehen der Fluchtgründe der Prämisse „regieren heißt bevölkern“ – sowie der Ersten Verfassung des Landes, die Neuankömmlingen ein Bewahren der eigenen Kultur ausdrücklich ermöglichte, worauf viele Argentinier heute noch stolz seien, wie Henriette Kaiser sagt. Die Kraft der Megametropole Buenos Aires liege im „Miteinander der unterschiedlichen Kulturen“. Im Gespräch zieht sie das Fazit: „Die Weigerung Deutschlands, sich als Einwanderungsland zu sehen, ist ein Fehler.“
In Argentinien hingegen galten und gelten Einwanderer seit jeher als nützlich, weshalb jüdische Investoren wie Baron Hirsch schon lange vor der Nazi-Zeit landwirtschaftliche Kolonien in entlegenen Provinzen gründeten, wo dann auch Geflüchtete Aufnahme fanden.
Die meisten aber passten vom Berufsbild nicht auf eine Farm, sie blieben in Buenos Aires, verdingten sich als Haushaltshilfen, Gärtner, Tapezierer. Manche stiegen später gesellschaftlich auf, wurden Unternehmer oder sogar Minister. Was die meisten nicht abschütteln konnten: die Sehnsucht nach deutschen Wäldern und nach dem Sprachraum Goethes. Es war ein Leben in zwei Welten, kein Sowohl-als auch, sondern ein „Weder noch“, wie Liesel Bein sagt. Und dann auch immer wieder dieses „Nie wieder Deutschland“.
Sie habe in Argentinien „ein Stück Deutschland gefunden, das es in Deutschland so nicht mehr gibt“, schreibt Henriette Kaiser. Durch die Recherche sei ihr wieder bewusst geworden, was Deutschland verloren habe: „Es wurden ja nicht nur Menschen, sondern auch Haltungen vertrieben.“ Dass sie diese Haltungen im letzten möglichen Moment dokumentiert hat, ist kein geringes Verdienst, denn mit den verbliebenden Zeitzeugen verschwindet ja auch die unmittelbare Kraft der Augenzeugenschaft. Wertvoll, wenn uns, wie es Henriette Kaisers Buch tut, ins vom Alltagstrott vereinnahmte Bewusstsein geflüstert wird: Krieg, Flucht und Vertreibung, das kann jeden treffen, zu jedem Moment, zu jeder Zeit.
SEBASTIAN SCHOEPP
Was blieb, war die Sehnsucht
nach deutschen Wäldern
und dem Sprachraum Goethes
Henriette Kaiser:
Goethe in Buenos Aires – Gespräche über Flucht
und Vertreibung.
Faber&Faber,
Leipzig 2022.
200 Seiten, 22 Euro.
Passanten in Buenos Aires lesen 1939 vor der Redaktion der Zeitung El Mundo die neuesten Nachrichten vom Krieg.
Foto: AP
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