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Goethe inszenierte seine Reisen meisterhaft. Er verstand es, seine Abwesenheit in wachsende Bedeutung umzumünzen. Häufig war er, nach Fürstenvorrecht, inkognito unterwegs - und wollte doch möglichst erkannt werden. Am liebsten ging er als Maler und arbeitete rücksichtslos an der kunstvollen Vielfalt seiner Existenz. Die zeitgenössische Klage über Entfremdung und mangelnde Identität war Goethes Sache nicht.Er wurde kein Maler, entwickelte aber sein malerisches Auge zum perfekten Werkzeug. Dem beharrlichen Blick des Liebhabers antwortete die Welt mit Gegenbildern. Sie bildete einen…mehr

Produktbeschreibung
Goethe inszenierte seine Reisen meisterhaft. Er verstand es, seine Abwesenheit in wachsende Bedeutung umzumünzen. Häufig war er, nach Fürstenvorrecht, inkognito unterwegs - und wollte doch möglichst erkannt werden. Am liebsten ging er als Maler und arbeitete rücksichtslos an der kunstvollen Vielfalt seiner Existenz. Die zeitgenössische Klage über Entfremdung und mangelnde Identität war Goethes Sache nicht.Er wurde kein Maler, entwickelte aber sein malerisches Auge zum perfekten Werkzeug. Dem beharrlichen Blick des Liebhabers antwortete die Welt mit Gegenbildern. Sie bildete einen geschlossenen, lesbaren Kosmos, wie ihn Goethe am Weimarer Fürstenhof vorfand und in der Form des autonomen Kunstwerkes reproduzierte. Die Gewissheit dieser glücklichen Ordnung bot den Spielraum für die heraufziehende Modernität. Hier waren kleine und große Welt geschickt ineinandergefaltet. Dass sie sich später barbarisch polarisierten, hätte Goethe wenig überrascht."Goethe-Reisen" zeigt den Dichter als Schlittschuhläufer, der Talent zum Reisen besaß, aber das Reisen nicht nötig hatte.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.1999

Maskenspiel im Fahrtwind
Unterwegs und immer bei sich: Das reisende Inkognito

An dem Reisenden Goethe haben die Kulturdiplomaten jemanden, auf den sie nicht bauen können. So gibt es zumindest das Bändchen des Literaturwissenschaftlers Jochen K. Schütze zu verstehen, das schon im ersten Satz Enttäuschung verspricht: "Goethe war nie weg." Und der Autor hält dieses Versprechen, um desto verblüffender für das Entgangene zu entschädigen. Er legt knapp gehaltene Skizzen vor, die der stofflichen Fülle nicht bedürfen, sondern ganz auf den Reiz des Situativen setzen. Was zählt, sind nicht die begangenen Wege, die gesehenen Sehenswürdigkeiten und durchlebten Abenteuer, sondern alleine die Reaktionen des Reisenden. Und genauer noch: wie Goethe sein Selbst ausfaltet und entwirft, indem er auf Reisen geht. Das Ziel seiner fluchtartigen Abreise nach Italien war nicht allein die kommode Existenz in einem Land, wo die Zitronen blühen. Der Reisezweck lag schon in den Möglichkeiten der räumlichen und kulturellen Verschiebung selbst, in dem verheißungsvollen Status, nicht festgelegt zu sein. Schon der Aufbruch aus Karlsbad, wo ihm die Gesellschaft seines Herzogs noch Fesseln auferlegte, beweist Sinn für dramaturgische Effekte. Wie ein Dieb in der Nacht stiehlt sich Goethe davon, so zumindest will es die Darstellung aus der "Italienischen Reise". Anders, rechtfertigt er sich, hätte man ihn nicht ziehen lassen. Aber es war wohl genau dieser Reiz des Verstohlenen, den er mit seinem unangekündigten Abgang auskostete: Wie sonst wäre ihm das diebische, klammheimliche Betragen so leicht und folgenlos durchgegangen.

Das Reisen gewährt selbst braven Bürgern den Hauch des Verruchten, zumindest die Chance zeitweilig abweichender Existenz. Endlich ein anderer sein, das geht am besten, wenn die anderen andere sind als sonst. Goethe wäre vielleicht gerne ein Knochenchirurg oder Botanikus geworden, am liebsten jedoch wollte er ein Maler sein. Maler, nicht Malender wohlgemerkt, nicht jemand, der nur ein gewisses Talent hat für das Verfertigen von Skizzen, Aquarellen, Gemälden - das konnte er sich und seiner Mitwelt hinlänglich beweisen durch seine unablässigen Versuche in bildender Kunst. Doch an dem Status des geschätzten Dilettanten lag ihm wenig. Goethe als Maler: Das ging nur dort, wohin der Ruf des Dichters nicht gedrungen war. "Auf der Harzreise 1777 gab er sich als ,Zeichenkünstler Weber aus, ins römische Einwohnerverzeichnis wurde er als ,Filippo Miller, tedesco, pittore eingetragen." An solchen Spuren kann Schütze sichtbar machen, was den Reisenden Goethe zu seinen geographischen Eskapaden anspornte. Der Ortswechsel eröffnete ihm die Möglichkeit, anderswo schon als jener anzukommen, der er zu Hause nie hätte werden können.

Goethes kalkulierter Einsatz von Pseudonymen auf der Reise macht aus dem ehedem adligen Privileg des Kavaliers-Inkognitos ein Spiel mit wechselnden Kostümen. Aber hatte er nicht seine geheimsten Wünsche rettungslos entblößt und verraten, indem er ihnen bei erster Gelegenheit so offenkundig nachgab? Fürchtete er nicht, sich mit dem angemaßten Künstlerstatus angreifbar zu machen? Schütze spielt zwei mögliche Erklärungsvarianten durch. Entweder gab sich Goethe als Maler aus, weil er ein nach außen gekehrtes Geheimnis für das sicherste hielt, oder - und nun kommt die raffiniertere Variante - er "spielte den Maler nicht, sondern setzte ihn ein" und "probierte aus, ob er als Maler durchging". Mit gewissem Erfolg immerhin. Die Suggestion des nach außen gekehrten, gelebten Wunschbildes soll ja nicht allein die Umgebung beeindrucken, sondern auch den Urheber der Maskerade selbst. Der Träger der neuen Identität rückt gleichsam nach in den Handlungsspielraum, den sie ihm eröffnet.

So einer war Goethe. Zog er hinaus, dann, trotz Nacht und Nebel, gerade nicht als einsamer Geselle oder geprügelter Hund, den die Romantiker besingen. Sich hinausbegeben aus den Koordinaten des Vertrauten bot ihm stets willkommene Möglichkeiten zur Anreicherung des Selbst. "Was ihm begegnet, verleibt sich der Dichter ein, nach Art eines Schneeballs rollt er darüber hinweg und wird rund und gewaltig." Mit der knappen Eleganz solcher Bilder kommt Schütze diesem Meister der Selbst-Dichtung näher als manche seiner Monumentalbiographen. Goethes Aneignung des geographischen Neuen deutet Schütze als die situative Verwandlung des beängstigenden "Dort" in ein gedeihliches "Hier"! "Kaum hatte er die Alpen überquert, fiel ihm ein: ,da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause, und nicht wie geborgt, oder im Exil." Wo "geborgt" werden mußte, bleiben Schulden zurück, die genau das verhindern, was im Sprachmaterial am nächsten liegt: Geborgenheit.

Heimat ist da, wo die Rechnungen ankommen, schrieb Heiner Müller. Goethe versteht es, sich häuslich einzurichten, wo der Ausnahmezustand ihn vor Folgekosten bewahrt, wo er sich den offenen Rechnungen entziehen kann. Inzwischen haben die ungelöst zurückgelassenen Weimarer Verlegenheiten Zeit, sich zu sortieren: in ohnehin unlösbare und in solche, die sich von alleine auflösen. Das Reisen bedeutet ihm eine von vielen Strategien des Umwegs und Aufschubs. Wahrscheinlich die angenehmste, weil sie die Pluralisierung von Selbstentwürfen dergestalt erlaubt, daß diese einander kaum ins Gehege kommen. Sie haben ja Abstand genug voneinander, der venezianische, der römische, der Thüringer und der Frankfurter Goethe.

Er war nie weg, will sagen: immer irgendwo und nirgends ganz. Sein Dasein war zuerst ein Da-Sein, in dem noch der Weggang zur Steigerung der Anwesenheit durch ihren Entzug führte. Wie Goethe es praktiziert, lenkt das Reisen sowohl seine positiven wie seine negativen Energien auf die Mühlen des Selbst. Erlaubt das kunstvoll aufgebaute Inkognito dem Dichter unterwegs auszuloten, wie weit das Streufeld seines Dichterruhms sich schon erstreckt, so wächst ohne weiteres Zutun seine Bedeutung daheim mit jedem Tag der Absenz. In der Galerie des Weimarer Geistes leuchtet nun ein weißer Fleck, der wirkungsvoller als die leibhaftige Person den Nimbus verwaltet. "Von nun an war Goethe in der Lage, seine eigene Vakanz auszufüllen", resümiert Schütze lapidar den Ertrag zweier Italienjahre. ALEXANDER HONOLD

Jochen K. Schütze: "Goethe-Reisen". Passagen Verlag, Wien 1998. 108 S., br., 28,- DM.

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