Die Liebe zu Charlotte von Stein war wohl die einzig wirklich große Liebesbeziehung im Leben Goethes. In ihrer Intensität ist sie unvergleichlich: Fast 1800 Briefe hat Goethe an Charlotte gesandt, fast zwölf Jahre hatte ihre Liebe Bestand.
Am Anfang stand nur ein Schattenriss, den er von ihr sah - am Ende zerbrach die Beziehung, aus Gründen, über die der Briefwechsel zumindest in Andeutungen Auskunft gibt. »Ich konnte mich nicht satt an Dir sehen«, schreibt Goethe einmal. Was an dieser Liebe ist Fiktion, Traum, Wunsch, Sehnsucht, was ist Wirklichkeit?
Selten sind Liebesbriefe in einer schöneren Sprache geschrieben worden, fast nie hat Goethe sich sonst in seinen Gefühlen so enthüllt wie in den Botschaften an Charlotte von Stein. Helmut Koopmann erzählt in diesem Buch die Geschichte einer Liebe, eines Liebesverrats, einer Liebeskatastrophe.
Eine Liebesgeschichte, gepflegt mit »einer exzessiven Diskretion, die noch nach so langer Zeit die Phantasie mehr beflügelt als alle wilden Gerüchte.« Süddeutsche Zeitung
Am Anfang stand nur ein Schattenriss, den er von ihr sah - am Ende zerbrach die Beziehung, aus Gründen, über die der Briefwechsel zumindest in Andeutungen Auskunft gibt. »Ich konnte mich nicht satt an Dir sehen«, schreibt Goethe einmal. Was an dieser Liebe ist Fiktion, Traum, Wunsch, Sehnsucht, was ist Wirklichkeit?
Selten sind Liebesbriefe in einer schöneren Sprache geschrieben worden, fast nie hat Goethe sich sonst in seinen Gefühlen so enthüllt wie in den Botschaften an Charlotte von Stein. Helmut Koopmann erzählt in diesem Buch die Geschichte einer Liebe, eines Liebesverrats, einer Liebeskatastrophe.
Eine Liebesgeschichte, gepflegt mit »einer exzessiven Diskretion, die noch nach so langer Zeit die Phantasie mehr beflügelt als alle wilden Gerüchte.« Süddeutsche Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2002Wer siegt mit Netzen, wer mit Pfeilen?
Wofür gabst du uns die spitze Feder: Helmut Koopmann schreibt die Geschichte der Liebe von Goethe und Frau von Stein
Wie geht es vor sich, wenn eine große Liebe, die das Leben der zwei Beteiligten völlig beherrschen wird, sich anbahnt? Denn es muss den ersten Augenblick geben, wo das nachmals Unvergleichliche ein noch ganz beiläufiger Zufall war und doch alles Spätere schon im Keim enthält. Goethe begegnet der Frau von Stein zuerst in ihrem Schattenriss. Schattenrisse, das war um 1770 ein Gesellschaftsspiel: man suchte den Charakter einer Person, deren Profil in volles Schwarz getaucht war, bei ihrer Nasenspitze heraus- oder hineinzulesen.
Aus einem Stapel von rund hundert solcher Schattenrisse bleibt Goethe gerade an dem der Charlotte von Stein hängen und fühlt sich bemüßigt, eine Deutung vorzulegen: „Festigkeit / Gefälliges unverändertes Wohnen des Gegenstandes / Behagen in sich selbst / Liebevolle Gefälligkeit / Naivetät und Güte, selbstfliesende Rede (...) / Siegt mit Nezzen” - dies im Unterschied zur gleichfalls interpretierten Silhouette der Marquise Branconi, der er er bescheinigt: „Siegt mit Pfeilen”. Ein neuzeitlicher Betrachter, dem an diesen verdunkelten Bildnissen vor allem die gewitterwolkenartige Frisur ins Auge sticht, wundert sich über die Entschiedenheit solchen Gestaltensehens, ihm will das geübte Verfahren wie eine Art Rorschachtest erscheinen; doch wird er gern zugeben, dass es einen ungleich höheren Grad an sozialer Anmut besaß und dazu den zweideutigen Reiz des Maskenballs.
Ein bemalter Blumentopf
Wer, wie es jetzt Helmut Koopmann tut, die Geschichte dieser Liebe erzählen will, muss sich mit zwei Schwierigkeiten auseinander setzen. Zum einen hat er als Quellenmaterial fast ausschließlich die Briefe Goethes zur Verfügung, rund 1700 an der Zahl - die aber sind seit langem gut bekannt, neue Einsichten stehen hier nicht zu erwarten. Und es hat die wahrhaft große Liebe, anders als Ehen, Affären und Amouren, wo sie in ihrem Zenit steht, eigentlich keinen Verlauf, also erzählbaren Inhalt; sie ist ein Zustand, bedeutungslos für jeden, der nicht selbst drinsteckt und unergiebig sogar für den Klatsch, der sich doch mit Begeisterung noch auf den kleinsten Hinweis stürzt. Der Liebende bemalt für die Geliebte einen Blumentopf, er versteckt sich im Gebüsch am Straßenrand, um sie abreisen zu sehen: Um Ereignisse im engeren Sinn handelt es sich dabei nicht. In seinen Tagebüchern wählt Goethe für Charlotte von Stein das Sonnenzeichen, ; und wenn er schreibt „Glück durch ”, so wird diese Liebe selbst zur Sonne, riesenhaft und glühend, zugleich jedoch in einem kugelrunden Stillstand gefangen, über den sich von außen wenig sagen lässt.
Koopmann fällt die wenig dankbare Rolle eines Conférenciers fremden Liebesglücks zu: Er muss für sein Publikum fortwährend tun, als geschähe etwas, wo tatsächlich nichts geschieht und alles bloß ist. In den zentralen Passagen dieser Liebesgeschichte heißt es immer wieder: „So geht es Tag für Tag, Woche für Woche”, „So geht es weiter, Tag für Tag, und Goethe wird nicht müde, sie seiner Liebe zu versichern”.
Dass indes der Leser dabei müde wird, kann Koopmann, so sehr er es wünscht, nicht verhindern; und es geschieht ihm eigentlich recht. Goethe scheint es spöttisch vorausgewusst zu haben, dass es einst so kommen würde; er schickt der Geliebten immer wieder Blumen und schreibt dazu: „Es ist wie mit der Liebe die ist auch monoton” – er selbst unterhält sich in der Zweisamkeit vorzüglich, peinigen kann und soll die Monotonie allein denjenigen, der unbefugt hinzutritt.
Was lässt sich tun? Kaum etwas anderes, als Goethes Briefe zu paraphrasieren. Koopmann erschrickt nicht genügend über die schlechte Figur, die er dabei ganz unweigerlich machen muss. So bekommt man Dinge zu lesen wie: „Manchmal stockt seine Feder vor Sehnsucht nach ihr. (...) Jede Faser seines Wesens reißt ihn zu ihr, und er gesteht ihr:” – worauf wieder ein Stück Originalton eingeschaltet wird. Das sind Dinge, die man schlechterdings nur in der ersten Person erträgt, die sich an die zweite wendet, aber nicht in der dritten des Chronisten, der dem Schreiber über die Schulter schaut..
Die Konstellation seines Gegenstandes bewirkt, dass Koopmanns wissenschaftliche Klugheit und Sensibilität nur in jenen Randbereichen zum Zuge kommt, die nicht von Goethes Text dominiert werden - etwa bei seiner schönen Deutung des Kreideporträts, das Goethe von der nunmehr entschleierten Geliebten anfertigt (und aus dem Wieland die noch geheime Liebe errät). Hier schweigt der Dichterfürst, weil er zeichnet; und also hat Koopmann eine echte Chance, zu sprechen. Solche Stellen, wie gesagt, bleiben vereinzelt.
Als Enttäuschung muss man leider den letzten Teil dieser Liebesbiografie buchen. Koopmann ergreift hier, im Kapitel „Liebesverrat”, eindeutig Partei, und zwar gegen Goethe. „Dass er der Schuldige und Charlotte die Verliererin ist”, hält er für ausgemacht. Gar nicht in den Sinn kommt ihm, dass er mit seinem stellvertretenden Scheidungskrieg, zu einem Zeitpunkt, wo es wahrlich nicht mehr nötig wäre, die Einzigartigkeit dieser Liebe, solange sie bestand, herabsetzt. Zehn Jahre dauerte sie ganz für und aus sich, ohne dass ihre affektive Energie je Gelegenheit hatte, sich in soziale Substanz zu verwandeln: Das ist lang; und vollends für einen unruhigen Geist wie Goethe.
Zum Schluss hat er sich unstreitig schofel benommen: sonst hätte er vermutlich den Absprung nicht geschafft. Doch wenn es über den Mondschein hinaus zu keinen Weiterungen in Richtung einer gesellschaftlichen Realität kam, wird man die Ursache füglich in der konventionellen Vorsicht der Frau von Stein zu suchen haben. Möglich war auch damals manches: Die Baronin von Werthern, ebenfalls eine Dame des Weimarer Hofs, war zum Schein gestorben und hatte an ihrer Stelle eine Puppe beerdigen lassen - um unbehelligt mit dem Baron Einsiedel nach Afrika fliehen zu können.
Goethe nimmt die Sache von ihrer heiteren Seite und schreibt: „Der kleinen Werthern wollt ich auch lieber eine Wohnung bei ihrem Geliebten in Afrika als im Grabe gönnen.” Charlotte von Stein aber rümpft die lange Nase. Auch muss man es, anders als bei Goethes Schwester Cornelia, nicht bedauern, dass die weibliche Stimme dieses Duetts rettungslos verstummt ist: Charlotte selbst hat die Rückgabe ihrer Briefe verlangt und sie dann verbrannt, zweifellos weil sie es so für schicklich hielt.
Und ganz entbehrlich wäre das Schlusskapitel gewesen, betitelt „Eine abschließende Würdigung”, als hätte Koopmann einen Besinnungsaufsatz zu schreiben gehabt. Es ist ein unangemessenes Allgemeines, auf dessen Begriff er hier die Liebe bringen will. Der „grenzenlose Zauber” der Frau von Stein muss ein unfruchtbares Rätsel bleiben: Mehr, als dass er auf Goethe gewirkt hat, gibt es daran ein für allemal nicht zu begreifen. Völlig heillos aber ist es, Liebe und Literatur gegeneinander ausspielen zu wollen: „Ein wenig sind also auch die Briefe an die Frau von Stein letztlich monologische Kunst, die Beziehung zu ihr im besten und im trivialsten Sinne des Wortes Schreibanlässe (...) Die Briefe sind, genau besehen, bei aller Liebe zu Charlotte häufig nur Innerlichkeitsbekundungen, sie handeln, wenn er an die Geliebte schreibt, nicht selten doch nur von sich.”
Wie kann man den Charakter der Manifestation, des Überströmenden, den diese Briefe haben, worin die Grenze von Ich und Du so angsterfüllt und jubilierend überhaupt geleugnet wird, dermaßen verkennen! Die Liebe wird hier zu einer alle Unterscheidungen einschmelzenden Kraft, wie sie vielleicht nur große Egoisten aufbringen; sie zwingt selbst Zeichensetzung und Rechtschreibung, in ihrem Dienst schöpferisch zu werden. „Wenn Du willst sind alle Weege eben”, schreibt Goethe, und er schreibt die Wege mit zwei „e”, und wie eben sind sie auf einmal!
Keine Antwort findet auch in diesem Buch die alte Frage: Haben sie nun, oder haben sie nicht? Hingegeben haben sich die Beiden jedenfalls einer exzessiven Diskretion, die noch nach so langer Zeit die Phantasie mehr beflügelt als alle wilden Gerüchte; auch Koopmann entrinnt dem Sog nicht, stets von neuem muss er diese Erzcrux der Germanistik seit zwei Jahrhunderten berühren. Doch steht ihm die Geste des Diplomaten zu Gebote: „Wenn in ihnen (den Briefen) auch Wunsch und Wirklichkeit verschmelzen, so ist doch über die Wirklichkeit vermutlich Zutreffendes gesagt.” Also: ja, meint Koopmann; aber klären kann auch er, bei wohl endgültig dunkler Quellenlage, den Punkt nicht. Es bleibt bei der Weisheit des alten Sinngedichts:
Frau von Stein
went to bed at nine.
If Goethe went, too,
nobody knew.
BURKHARD MÜLLER
HELMUT KOOPMANN: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. C. H. Beck Verlag, München 2002. 282 Seiten, 19,90 Euro.
Johann Wolfgang von Goethe und die Frau von Stein Abbildung: Ullstein
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wofür gabst du uns die spitze Feder: Helmut Koopmann schreibt die Geschichte der Liebe von Goethe und Frau von Stein
Wie geht es vor sich, wenn eine große Liebe, die das Leben der zwei Beteiligten völlig beherrschen wird, sich anbahnt? Denn es muss den ersten Augenblick geben, wo das nachmals Unvergleichliche ein noch ganz beiläufiger Zufall war und doch alles Spätere schon im Keim enthält. Goethe begegnet der Frau von Stein zuerst in ihrem Schattenriss. Schattenrisse, das war um 1770 ein Gesellschaftsspiel: man suchte den Charakter einer Person, deren Profil in volles Schwarz getaucht war, bei ihrer Nasenspitze heraus- oder hineinzulesen.
Aus einem Stapel von rund hundert solcher Schattenrisse bleibt Goethe gerade an dem der Charlotte von Stein hängen und fühlt sich bemüßigt, eine Deutung vorzulegen: „Festigkeit / Gefälliges unverändertes Wohnen des Gegenstandes / Behagen in sich selbst / Liebevolle Gefälligkeit / Naivetät und Güte, selbstfliesende Rede (...) / Siegt mit Nezzen” - dies im Unterschied zur gleichfalls interpretierten Silhouette der Marquise Branconi, der er er bescheinigt: „Siegt mit Pfeilen”. Ein neuzeitlicher Betrachter, dem an diesen verdunkelten Bildnissen vor allem die gewitterwolkenartige Frisur ins Auge sticht, wundert sich über die Entschiedenheit solchen Gestaltensehens, ihm will das geübte Verfahren wie eine Art Rorschachtest erscheinen; doch wird er gern zugeben, dass es einen ungleich höheren Grad an sozialer Anmut besaß und dazu den zweideutigen Reiz des Maskenballs.
Ein bemalter Blumentopf
Wer, wie es jetzt Helmut Koopmann tut, die Geschichte dieser Liebe erzählen will, muss sich mit zwei Schwierigkeiten auseinander setzen. Zum einen hat er als Quellenmaterial fast ausschließlich die Briefe Goethes zur Verfügung, rund 1700 an der Zahl - die aber sind seit langem gut bekannt, neue Einsichten stehen hier nicht zu erwarten. Und es hat die wahrhaft große Liebe, anders als Ehen, Affären und Amouren, wo sie in ihrem Zenit steht, eigentlich keinen Verlauf, also erzählbaren Inhalt; sie ist ein Zustand, bedeutungslos für jeden, der nicht selbst drinsteckt und unergiebig sogar für den Klatsch, der sich doch mit Begeisterung noch auf den kleinsten Hinweis stürzt. Der Liebende bemalt für die Geliebte einen Blumentopf, er versteckt sich im Gebüsch am Straßenrand, um sie abreisen zu sehen: Um Ereignisse im engeren Sinn handelt es sich dabei nicht. In seinen Tagebüchern wählt Goethe für Charlotte von Stein das Sonnenzeichen, ; und wenn er schreibt „Glück durch ”, so wird diese Liebe selbst zur Sonne, riesenhaft und glühend, zugleich jedoch in einem kugelrunden Stillstand gefangen, über den sich von außen wenig sagen lässt.
Koopmann fällt die wenig dankbare Rolle eines Conférenciers fremden Liebesglücks zu: Er muss für sein Publikum fortwährend tun, als geschähe etwas, wo tatsächlich nichts geschieht und alles bloß ist. In den zentralen Passagen dieser Liebesgeschichte heißt es immer wieder: „So geht es Tag für Tag, Woche für Woche”, „So geht es weiter, Tag für Tag, und Goethe wird nicht müde, sie seiner Liebe zu versichern”.
Dass indes der Leser dabei müde wird, kann Koopmann, so sehr er es wünscht, nicht verhindern; und es geschieht ihm eigentlich recht. Goethe scheint es spöttisch vorausgewusst zu haben, dass es einst so kommen würde; er schickt der Geliebten immer wieder Blumen und schreibt dazu: „Es ist wie mit der Liebe die ist auch monoton” – er selbst unterhält sich in der Zweisamkeit vorzüglich, peinigen kann und soll die Monotonie allein denjenigen, der unbefugt hinzutritt.
Was lässt sich tun? Kaum etwas anderes, als Goethes Briefe zu paraphrasieren. Koopmann erschrickt nicht genügend über die schlechte Figur, die er dabei ganz unweigerlich machen muss. So bekommt man Dinge zu lesen wie: „Manchmal stockt seine Feder vor Sehnsucht nach ihr. (...) Jede Faser seines Wesens reißt ihn zu ihr, und er gesteht ihr:” – worauf wieder ein Stück Originalton eingeschaltet wird. Das sind Dinge, die man schlechterdings nur in der ersten Person erträgt, die sich an die zweite wendet, aber nicht in der dritten des Chronisten, der dem Schreiber über die Schulter schaut..
Die Konstellation seines Gegenstandes bewirkt, dass Koopmanns wissenschaftliche Klugheit und Sensibilität nur in jenen Randbereichen zum Zuge kommt, die nicht von Goethes Text dominiert werden - etwa bei seiner schönen Deutung des Kreideporträts, das Goethe von der nunmehr entschleierten Geliebten anfertigt (und aus dem Wieland die noch geheime Liebe errät). Hier schweigt der Dichterfürst, weil er zeichnet; und also hat Koopmann eine echte Chance, zu sprechen. Solche Stellen, wie gesagt, bleiben vereinzelt.
Als Enttäuschung muss man leider den letzten Teil dieser Liebesbiografie buchen. Koopmann ergreift hier, im Kapitel „Liebesverrat”, eindeutig Partei, und zwar gegen Goethe. „Dass er der Schuldige und Charlotte die Verliererin ist”, hält er für ausgemacht. Gar nicht in den Sinn kommt ihm, dass er mit seinem stellvertretenden Scheidungskrieg, zu einem Zeitpunkt, wo es wahrlich nicht mehr nötig wäre, die Einzigartigkeit dieser Liebe, solange sie bestand, herabsetzt. Zehn Jahre dauerte sie ganz für und aus sich, ohne dass ihre affektive Energie je Gelegenheit hatte, sich in soziale Substanz zu verwandeln: Das ist lang; und vollends für einen unruhigen Geist wie Goethe.
Zum Schluss hat er sich unstreitig schofel benommen: sonst hätte er vermutlich den Absprung nicht geschafft. Doch wenn es über den Mondschein hinaus zu keinen Weiterungen in Richtung einer gesellschaftlichen Realität kam, wird man die Ursache füglich in der konventionellen Vorsicht der Frau von Stein zu suchen haben. Möglich war auch damals manches: Die Baronin von Werthern, ebenfalls eine Dame des Weimarer Hofs, war zum Schein gestorben und hatte an ihrer Stelle eine Puppe beerdigen lassen - um unbehelligt mit dem Baron Einsiedel nach Afrika fliehen zu können.
Goethe nimmt die Sache von ihrer heiteren Seite und schreibt: „Der kleinen Werthern wollt ich auch lieber eine Wohnung bei ihrem Geliebten in Afrika als im Grabe gönnen.” Charlotte von Stein aber rümpft die lange Nase. Auch muss man es, anders als bei Goethes Schwester Cornelia, nicht bedauern, dass die weibliche Stimme dieses Duetts rettungslos verstummt ist: Charlotte selbst hat die Rückgabe ihrer Briefe verlangt und sie dann verbrannt, zweifellos weil sie es so für schicklich hielt.
Und ganz entbehrlich wäre das Schlusskapitel gewesen, betitelt „Eine abschließende Würdigung”, als hätte Koopmann einen Besinnungsaufsatz zu schreiben gehabt. Es ist ein unangemessenes Allgemeines, auf dessen Begriff er hier die Liebe bringen will. Der „grenzenlose Zauber” der Frau von Stein muss ein unfruchtbares Rätsel bleiben: Mehr, als dass er auf Goethe gewirkt hat, gibt es daran ein für allemal nicht zu begreifen. Völlig heillos aber ist es, Liebe und Literatur gegeneinander ausspielen zu wollen: „Ein wenig sind also auch die Briefe an die Frau von Stein letztlich monologische Kunst, die Beziehung zu ihr im besten und im trivialsten Sinne des Wortes Schreibanlässe (...) Die Briefe sind, genau besehen, bei aller Liebe zu Charlotte häufig nur Innerlichkeitsbekundungen, sie handeln, wenn er an die Geliebte schreibt, nicht selten doch nur von sich.”
Wie kann man den Charakter der Manifestation, des Überströmenden, den diese Briefe haben, worin die Grenze von Ich und Du so angsterfüllt und jubilierend überhaupt geleugnet wird, dermaßen verkennen! Die Liebe wird hier zu einer alle Unterscheidungen einschmelzenden Kraft, wie sie vielleicht nur große Egoisten aufbringen; sie zwingt selbst Zeichensetzung und Rechtschreibung, in ihrem Dienst schöpferisch zu werden. „Wenn Du willst sind alle Weege eben”, schreibt Goethe, und er schreibt die Wege mit zwei „e”, und wie eben sind sie auf einmal!
Keine Antwort findet auch in diesem Buch die alte Frage: Haben sie nun, oder haben sie nicht? Hingegeben haben sich die Beiden jedenfalls einer exzessiven Diskretion, die noch nach so langer Zeit die Phantasie mehr beflügelt als alle wilden Gerüchte; auch Koopmann entrinnt dem Sog nicht, stets von neuem muss er diese Erzcrux der Germanistik seit zwei Jahrhunderten berühren. Doch steht ihm die Geste des Diplomaten zu Gebote: „Wenn in ihnen (den Briefen) auch Wunsch und Wirklichkeit verschmelzen, so ist doch über die Wirklichkeit vermutlich Zutreffendes gesagt.” Also: ja, meint Koopmann; aber klären kann auch er, bei wohl endgültig dunkler Quellenlage, den Punkt nicht. Es bleibt bei der Weisheit des alten Sinngedichts:
Frau von Stein
went to bed at nine.
If Goethe went, too,
nobody knew.
BURKHARD MÜLLER
HELMUT KOOPMANN: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. C. H. Beck Verlag, München 2002. 282 Seiten, 19,90 Euro.
Johann Wolfgang von Goethe und die Frau von Stein Abbildung: Ullstein
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2002Lebenstrümmer, Liebesmagie
Helmut Koopmann deutet Goethes Briefe an Frau von Stein
Ein Handschuh als Zeichen, Pfirsiche und Birnen, die man sich schenkt, eine vergebens gesuchte Blume - davon sprechen die beiden Zettelchen Goethes an Charlotte von Stein, die gerade im Nachlaß der Familie Stein entdeckt worden sind (F.A.S. vom 26. Mai), die letzten aus einer wahren Flut. Fern allen Sensationen fügen sie sich in das uns bekannte Bild. Einfacher, unprätentiöser und inniger kann es nicht zugehen. Auf Anhieb wird der Charme einer großen Liebe wach.
Es trifft sich gut, daß kurz vor diesem Fund die Geschichte dieser Liebe neuerlich dargestellt worden ist, als jüngstes Glied einer Kette, die über hundertfünfzig Jahre zurückreicht. Als Gustav Adolf Schöll 1848/51 die damals auffindbaren Briefe Goethes an Frau von Stein an die Öffentlichkeit brachte, kam ein Geheimnis zutage, das gleichwohl seine Rätsel auch weiterhin hütete. Die Liebesgeschichte des Genies mit einer sieben Jahre älteren verheirateten Frau und ihr katastrophales Ende setzte die Gemüter fortab in Wallung. Die Schuldfrage fochten "edle Stein-Ritter" (Edmund Hoefer) und Stein-Ankläger aus; die möglicherweise heiklen Umstände der Liaison fielen in die Hände von "platten Gesellen" mit "Auskunftei-methoden und Lakaien-psychologie". Friedrich Gundolf, der solchermaßen drastisch befand, scherte sich deshalb nicht weiter um die Empirie, machte Frau von Stein zum Weimarer "Urerlebnis" Goethes, das Italien präfigurierte und in Iphigenie wie in Tassos Prinzessin Gestalt annahm. "Nur das symbolisch Fruchtbare, nicht das zufällig Passierte hat Wirklichkeit."
Daß solche hochgemuten Machtsprüche auf Dauer nicht geholfen haben, zeigt der Fragenkatalog - er füllt beinahe zwei Seiten -, mit dem Helmut Koopmann die neueste Darstellung dieser Liebesgeschichte eröffnet. "Wie war die Wirklichkeit dahinter?" - darauf läuft jetzt wieder alles hinaus. Allerdings erhält die Neugierde rasch einen Dämpfer: "Was wirklich geschah, wird sich nie genau ermitteln lassen." Fragen über Fragen und doch keine definitiven Antworten, damit fällt dem redlichen Biographen die nicht ganz leichte Aufgabe zu, "ahnungsweise" nachzuzeichnen, was geschehen sein könnte.
Er beschränkt sich dabei, notgedrungen, denn Charlotte von Stein hat ihre eigenen Briefe von Goethe zurückgefordert und vernichtet, auf die weit über 1600 Zettelchen, Botschaften, Billetts, Briefe, die Goethe, manchmal mehrfach an einem Tag, der Geliebten geschrieben hat, zehn oder, rechnet man das italienische Reisetagebuch mit, zwölf Jahre lang. Noch kein Leser hat sich der Faszination dieser unerhörten Zeugnisse entziehen können, für die Goethe-Beschämungs-Fraktion sind sie das reinste Gift. Auch Koopmann hält mit seiner Bewunderung nicht zurück: ein Brief "eindringlicher und großartiger als der andere", kaum zu überbietende "Liebesprosa", geweckt vom "ungeheuerlichen" Zauber dieser Frau, und dies alles in inständiger, unpathetischer Alltäglichkeit.
Die Suche nach den Geheimnissen "dahinter" hält Koopmann am kurzen Zügel. Andeutungen erlaubt er sich - "Nur Tanz? Einiges mehr schon . . .", um sie doch gleich mit einem "Wir wissen es nicht" in den Schwebezustand zu versetzen. Sensationen und Enthüllungen haben also einen schweren Stand, ihretwegen ist das Buch glücklicherweise nicht geschrieben worden.
Das Nachzeichnen geht lange so fort, sensibel, geduldig und nobel, bis Koopmann mit seiner Generalthese herausrückt und sich nun doch als Ankläger zu erkennen gibt. Denn mit der Flucht nach Italien begeht und offenbart Goethe einen "Liebesverrat", der nachträglich die ganze Liebesgeschichte ins Zwielicht rückt. Literarisch ist dieser Verrat, weil Goethe, vom Verschweigen der Reisepläne ganz abgesehen, sein Tagebuch für die Geliebte jetzt unverhohlen als literarisches Werk konzipiert, "kommunikabel", also eigentlich "für Verlag und Öffentlichkeit" bestimmt. Formeln, Floskeln, Lügen, "schlimm", "schamlos", "unglaubwürdig" - mit der Zurückhaltung des Biographen ist es vorbei. Goethe "interessiert sich für sich selbst", nur für sich selbst, und dies als Autor - endlich hat Koopmann zu einer Pointe gefunden, die ihn der Rolle des affirmativen Liebeskommentators enthebt, endlich wird Goethe belangbar. Rasch tut Koopmann die Liebeskatastrophe und die Nachbilder der Frau von Stein, die immerhin bis zur Makarie der "Wanderjahre" reichen, ab, um statt dessen in einer "abschließenden Würdigung" seine Pointe zu befestigen. Von der zehnjährigen Liebesmagie bleiben nur noch "Lebenstrümmer" übrig, allerdings literarisch wertvolle.
Als hätte ihn Frustration zu dieser Konsequenz getrieben, verhandelt Koopmann zunächst aber noch einmal das beliebte "Wie intim war es?", in einem Hin und Her, das mit der Kleistschen Auskunft "Kann sein -, auch nicht" und mit einer nur vom Leser auszufüllenden Leerstelle schließt: "Das mag sich der Leser selbst zusammenreimen." Festeren Halt soll hingegen die Formel "monologische Kunst" geben, mit der Koopmann nun zu seiner Deutung der Liebesgeschichte ausholt. Alles, also die anderthalbtausend Briefe, war Literatur, so ist jetzt zu hören, war womöglich nur "Sprachkunst", "Kunstwerk", waren "Schreibübungen amoris causa", "Schreibübungen also in eroticis, eine Liebe in litteris", mit deren Hilfe der schreibende Goethe die "ungeheuerliche Herausforderung" des schlichten Satzes "Ich liebe dich" zu bewältigen suchte.
Kaum mehr als ein "Stimulans" oder gar ein "Liebesphantom" war dann die Empfängerin, letzteres freilich mit dem Zusatz: "Natürlich nicht, und dennoch, Goethe hat oft von ihr geträumt, und alle seine Liebesbriefe sind ein einziger Traum." Daß dieser Traum mit einer "unio mystica" zu tun habe, rettet den desaströsen Befund so wenig wie die stilistischen Vorsichtsmaßnahmen, die ihn abschwächen möchten. Wohl soll die "wirkliche Liebe" angesichts der Liebe in Briefen nicht ganz ausgeschlossen werden. "Aber es macht sie, gemessen an der Intensität dieser Sprache, zwar nicht gerade bedeutungslos, aber vielleicht doch fast schon ein wenig zweitrangig." Da drängen sich die Kautelen und helfen doch nicht, so wenig wie in der Frage: "Sind diese Briefe an Charlotte von Stein nicht doch hin und wieder und dann fast ausschließlich monologische Schreibkunst?" Unglücklicher kann man eine große Liebesgeschichte, vielleicht die größte der deutschen Literatur, schwerlich entkernen. "Monologisch" ausgerechnet soll sie gewesen sein - hat der Verfasser vergessen, daß er es nur mit einem halbierten Briefwechsel zu tun hat? Gerät er da nicht in eine Falle, die ihm die Quellenlage stellt?
Walter Hof, dem wir die wohl beste Darstellung über Goethe und Frau von Stein verdanken, hat Gundolf gerügt, weil der aus dem Erlebnis "Charlotte von Stein" das dichterische Erlebnis "Lida" gemacht habe, auf Kosten von Goethes Humanität. Doch schon der ganz unprätentiöse Stein-Biograph Wilhelm Bode hält vor beinahe hundert Jahren ähnlichen Versuchen die seltsame Fehleinschätzung Goethes vor: "Ich glaube nicht, daß der Erzrealist Goethe . . . mehr als ein Dutzend Jahre ein Erzphantast gewesen sei, sobald nämlich Frau v. Stein in's Spiel kam, und daß dieser wahrhaftigste Diener der Wahrheit so viele Jahre vor einem selbstgemachten Götzenbilde gekniet habe."
Ebensowenig kann man, darin sind sich alle Zeitgenossen einig, am Rang der Charlotte von Stein zweifeln. Der Weimarer Knebel, der sie gut kannte, hat über sie gesagt: "Reines, richtiges Gefühl bei natürlicher, leidenschaftsloser, leichter Disposition haben sie bei eigenem Fleiß und durch den Umgang mit vorzüglichen Menschen . . . zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwerlich oft wieder zustande kommen dürfte." Koopmann hat die Protagonisten seiner Liebesgeschichte entschieden unterschätzt.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Helmut Koopmann: "Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe". Verlag C.H. Beck, München 2002. 282 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helmut Koopmann deutet Goethes Briefe an Frau von Stein
Ein Handschuh als Zeichen, Pfirsiche und Birnen, die man sich schenkt, eine vergebens gesuchte Blume - davon sprechen die beiden Zettelchen Goethes an Charlotte von Stein, die gerade im Nachlaß der Familie Stein entdeckt worden sind (F.A.S. vom 26. Mai), die letzten aus einer wahren Flut. Fern allen Sensationen fügen sie sich in das uns bekannte Bild. Einfacher, unprätentiöser und inniger kann es nicht zugehen. Auf Anhieb wird der Charme einer großen Liebe wach.
Es trifft sich gut, daß kurz vor diesem Fund die Geschichte dieser Liebe neuerlich dargestellt worden ist, als jüngstes Glied einer Kette, die über hundertfünfzig Jahre zurückreicht. Als Gustav Adolf Schöll 1848/51 die damals auffindbaren Briefe Goethes an Frau von Stein an die Öffentlichkeit brachte, kam ein Geheimnis zutage, das gleichwohl seine Rätsel auch weiterhin hütete. Die Liebesgeschichte des Genies mit einer sieben Jahre älteren verheirateten Frau und ihr katastrophales Ende setzte die Gemüter fortab in Wallung. Die Schuldfrage fochten "edle Stein-Ritter" (Edmund Hoefer) und Stein-Ankläger aus; die möglicherweise heiklen Umstände der Liaison fielen in die Hände von "platten Gesellen" mit "Auskunftei-methoden und Lakaien-psychologie". Friedrich Gundolf, der solchermaßen drastisch befand, scherte sich deshalb nicht weiter um die Empirie, machte Frau von Stein zum Weimarer "Urerlebnis" Goethes, das Italien präfigurierte und in Iphigenie wie in Tassos Prinzessin Gestalt annahm. "Nur das symbolisch Fruchtbare, nicht das zufällig Passierte hat Wirklichkeit."
Daß solche hochgemuten Machtsprüche auf Dauer nicht geholfen haben, zeigt der Fragenkatalog - er füllt beinahe zwei Seiten -, mit dem Helmut Koopmann die neueste Darstellung dieser Liebesgeschichte eröffnet. "Wie war die Wirklichkeit dahinter?" - darauf läuft jetzt wieder alles hinaus. Allerdings erhält die Neugierde rasch einen Dämpfer: "Was wirklich geschah, wird sich nie genau ermitteln lassen." Fragen über Fragen und doch keine definitiven Antworten, damit fällt dem redlichen Biographen die nicht ganz leichte Aufgabe zu, "ahnungsweise" nachzuzeichnen, was geschehen sein könnte.
Er beschränkt sich dabei, notgedrungen, denn Charlotte von Stein hat ihre eigenen Briefe von Goethe zurückgefordert und vernichtet, auf die weit über 1600 Zettelchen, Botschaften, Billetts, Briefe, die Goethe, manchmal mehrfach an einem Tag, der Geliebten geschrieben hat, zehn oder, rechnet man das italienische Reisetagebuch mit, zwölf Jahre lang. Noch kein Leser hat sich der Faszination dieser unerhörten Zeugnisse entziehen können, für die Goethe-Beschämungs-Fraktion sind sie das reinste Gift. Auch Koopmann hält mit seiner Bewunderung nicht zurück: ein Brief "eindringlicher und großartiger als der andere", kaum zu überbietende "Liebesprosa", geweckt vom "ungeheuerlichen" Zauber dieser Frau, und dies alles in inständiger, unpathetischer Alltäglichkeit.
Die Suche nach den Geheimnissen "dahinter" hält Koopmann am kurzen Zügel. Andeutungen erlaubt er sich - "Nur Tanz? Einiges mehr schon . . .", um sie doch gleich mit einem "Wir wissen es nicht" in den Schwebezustand zu versetzen. Sensationen und Enthüllungen haben also einen schweren Stand, ihretwegen ist das Buch glücklicherweise nicht geschrieben worden.
Das Nachzeichnen geht lange so fort, sensibel, geduldig und nobel, bis Koopmann mit seiner Generalthese herausrückt und sich nun doch als Ankläger zu erkennen gibt. Denn mit der Flucht nach Italien begeht und offenbart Goethe einen "Liebesverrat", der nachträglich die ganze Liebesgeschichte ins Zwielicht rückt. Literarisch ist dieser Verrat, weil Goethe, vom Verschweigen der Reisepläne ganz abgesehen, sein Tagebuch für die Geliebte jetzt unverhohlen als literarisches Werk konzipiert, "kommunikabel", also eigentlich "für Verlag und Öffentlichkeit" bestimmt. Formeln, Floskeln, Lügen, "schlimm", "schamlos", "unglaubwürdig" - mit der Zurückhaltung des Biographen ist es vorbei. Goethe "interessiert sich für sich selbst", nur für sich selbst, und dies als Autor - endlich hat Koopmann zu einer Pointe gefunden, die ihn der Rolle des affirmativen Liebeskommentators enthebt, endlich wird Goethe belangbar. Rasch tut Koopmann die Liebeskatastrophe und die Nachbilder der Frau von Stein, die immerhin bis zur Makarie der "Wanderjahre" reichen, ab, um statt dessen in einer "abschließenden Würdigung" seine Pointe zu befestigen. Von der zehnjährigen Liebesmagie bleiben nur noch "Lebenstrümmer" übrig, allerdings literarisch wertvolle.
Als hätte ihn Frustration zu dieser Konsequenz getrieben, verhandelt Koopmann zunächst aber noch einmal das beliebte "Wie intim war es?", in einem Hin und Her, das mit der Kleistschen Auskunft "Kann sein -, auch nicht" und mit einer nur vom Leser auszufüllenden Leerstelle schließt: "Das mag sich der Leser selbst zusammenreimen." Festeren Halt soll hingegen die Formel "monologische Kunst" geben, mit der Koopmann nun zu seiner Deutung der Liebesgeschichte ausholt. Alles, also die anderthalbtausend Briefe, war Literatur, so ist jetzt zu hören, war womöglich nur "Sprachkunst", "Kunstwerk", waren "Schreibübungen amoris causa", "Schreibübungen also in eroticis, eine Liebe in litteris", mit deren Hilfe der schreibende Goethe die "ungeheuerliche Herausforderung" des schlichten Satzes "Ich liebe dich" zu bewältigen suchte.
Kaum mehr als ein "Stimulans" oder gar ein "Liebesphantom" war dann die Empfängerin, letzteres freilich mit dem Zusatz: "Natürlich nicht, und dennoch, Goethe hat oft von ihr geträumt, und alle seine Liebesbriefe sind ein einziger Traum." Daß dieser Traum mit einer "unio mystica" zu tun habe, rettet den desaströsen Befund so wenig wie die stilistischen Vorsichtsmaßnahmen, die ihn abschwächen möchten. Wohl soll die "wirkliche Liebe" angesichts der Liebe in Briefen nicht ganz ausgeschlossen werden. "Aber es macht sie, gemessen an der Intensität dieser Sprache, zwar nicht gerade bedeutungslos, aber vielleicht doch fast schon ein wenig zweitrangig." Da drängen sich die Kautelen und helfen doch nicht, so wenig wie in der Frage: "Sind diese Briefe an Charlotte von Stein nicht doch hin und wieder und dann fast ausschließlich monologische Schreibkunst?" Unglücklicher kann man eine große Liebesgeschichte, vielleicht die größte der deutschen Literatur, schwerlich entkernen. "Monologisch" ausgerechnet soll sie gewesen sein - hat der Verfasser vergessen, daß er es nur mit einem halbierten Briefwechsel zu tun hat? Gerät er da nicht in eine Falle, die ihm die Quellenlage stellt?
Walter Hof, dem wir die wohl beste Darstellung über Goethe und Frau von Stein verdanken, hat Gundolf gerügt, weil der aus dem Erlebnis "Charlotte von Stein" das dichterische Erlebnis "Lida" gemacht habe, auf Kosten von Goethes Humanität. Doch schon der ganz unprätentiöse Stein-Biograph Wilhelm Bode hält vor beinahe hundert Jahren ähnlichen Versuchen die seltsame Fehleinschätzung Goethes vor: "Ich glaube nicht, daß der Erzrealist Goethe . . . mehr als ein Dutzend Jahre ein Erzphantast gewesen sei, sobald nämlich Frau v. Stein in's Spiel kam, und daß dieser wahrhaftigste Diener der Wahrheit so viele Jahre vor einem selbstgemachten Götzenbilde gekniet habe."
Ebensowenig kann man, darin sind sich alle Zeitgenossen einig, am Rang der Charlotte von Stein zweifeln. Der Weimarer Knebel, der sie gut kannte, hat über sie gesagt: "Reines, richtiges Gefühl bei natürlicher, leidenschaftsloser, leichter Disposition haben sie bei eigenem Fleiß und durch den Umgang mit vorzüglichen Menschen . . . zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwerlich oft wieder zustande kommen dürfte." Koopmann hat die Protagonisten seiner Liebesgeschichte entschieden unterschätzt.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Helmut Koopmann: "Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe". Verlag C.H. Beck, München 2002. 282 S., geb., 19,90 [Euro].
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