Im September 1808 begegnen sich in Erfurt zwei Männer, die Weltgeschichte geschrieben haben - der eine ist der größte Dichter seiner Zeit, der andere der mächtigste Mann Europas. Goethe trifft auf Napoleon. Es entspinnt sich ein Dialog unter Genies, der durch ein Wort Napoleons - "Vous êtes un homme" - unsterblich geworden ist. Gustav Seibt schildert in seinem historischen Essay die Geschichte dieser Begegnung zweier Jahrhundertmenschen und entfaltet zugleich ein Panorama der napoleonischen Epoche.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eingenommen zeigt sich Rezensent Robert Schröpfer für diese Studie über die Begegnung von Goethe und Napoleon in Erfurt 1808, die der Historiker Gustav Seibt vorgelegt hat. Er attestiert dem Autor profunde Kenntnisse und lobt seinen glänzenden Stil. Im Mittelpunkt sieht er das Verhältnis des Dichters zu Bonaparte. Besonders interessant scheint ihm Seibts Blick auf die Motivation des vermeintlich apolitischen Goethe, seine Haltung zu ändern. Sichtbar wird für ihn der Realist Goethe, "dessen Bonapartismus auch aus Erwägungen politischer und persönlicher Zweckmäßigkeit resultiert". Wie Seibt hier Werk und Lektüren Goethes mit der Ideen- und Ereignisgeschichte verbindet, ist nach Ansicht des Rezensenten höchst spannend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2008Was will man jetzt mit dem Schicksal?
Begegnung zweier Jahrhundertmenschen: Das Erlebnis Napoleon setzte in Goethe eine enorme Produktivität frei. In seinem historischen Essay schildert Gustav Seibt, warum die Begegnung mit dem Feldherrn für den Dichter von so großer Bedeutung war.
Von Gerrit Walther
Gespräche mit Napoleon waren keine. Entweder glichen sie Verhören oder Monologen. Die vielleicht berühmteste Ausnahme ereignete sich am 2. Oktober 1808 in Erfurt. Am Rande jener Gipfelkonferenz, durch die der Imperator seinen Sieg über die deutschen Fürsten und den russischen Zaren krönte, empfing er den Weimarer Minister Johann Wolfgang von Goethe. Legendär schon die Begrüßung: "Vous êtes un homme!", habe der Kaiser gesagt und den sechzigjährigen Dichter für sein blendendes Aussehen gelobt. Er habe mit ihm über den "Werther" gesprochen, den er erstaunlich genau kannte, und eine Unwahrscheinlichkeit darin kritisiert, die der Autor "mit einem vergnügten Lächeln" bestätigte. Dann habe er ihn über die französische Tragödie befragt ("Qu'en dit Mr. Göt?"). Ob sie nicht zu sehr von "Natur und Wahrheit" abweiche, dem Schicksal zu viel Einfluss beimesse? "Was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal."
Kunstvoll plaziert Gustav Seibt Goethes Erinnerungen an das Gespräch (den einzigen Zeugenbericht, den wir haben) genau in die Mitte seines Buches. Denn die Begegnung mit Napoleon, so lautet seine These, teilte Goethes Leben und Schaffen in ein Davor und ein Danach. So sehr wurde die Politik zum Schicksal des scheinbar apolitischen Olympiers.
Das Davor begann im September 1792 während der Schlacht von Valmy. Seibt beobachtet Goethe bei einem riskanten Selbstversuch: wie er kühn in den Kugelhagel hineinreitet, um das "Kanonenfieber" kennenzulernen, den Krieg als inneres Erlebnis zu erfahren. 1806 hingegen, bei der Besetzung Weimars nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt, geriet der Dichter unfreiwillig in Todesgefahr: Plündernde Soldaten drangen in sein Haus ein und bedrohten ihn mit blanker Waffe. Christiane Vulpius, seine Haushälterin, ging dazwischen. Das rettete ihn und gab ihm den Mut, die Mutter seines Sohnes endlich zu heiraten. So revolutionierte der Kaiser Goethes Leben, noch bevor sie einander kennenlernten.
Spätestens jetzt aber, da Weimars Schicksal ganz von dessen Gunst abhing, bekam Goethe Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen. Er unterhielt sich mit den napoleonischen Generälen, die im Haus am Frauenplan logierten, mit Rheinbund-Politikern wie Karl Friedrich Reinhard, gewiss auch mit Wieland, dem scharfsichtigen Revolutionsbeobachter. Er rezensierte und übersetzte Werke des Historikers und Napoleon-Enthusiasten Johannes von Müller. Kundig entwickelt Gustav Seibt all diese Beziehungen und Reflexionen. Dann führt er seine Leser auf den Erfurter Fürstentag von 1808, macht sie mit dessen Teilnehmern bekannt und erzählt all die großen und kleinen Episoden, die diese "exzeßhafte Feier" zu einem spektakulären europäischen Ereignis werden ließen - vom Verrat des französischen Außenministers Talleyrand bis zu den Brillantknöpfen, durch die Talma, der Prinzipal der aus Paris angereisten, allabendlich auftretenden Staatsschauspieltruppe, im Hause Goethe auffiel.
Erst vor diesem Hintergrund gewinnt das Gespräch mit Napoleon historische Tiefe. Goethe nämlich war nur der prominenteste unter den deutschen Intellektuellen, die der Kaiser durch die Verheißung einer besseren, zivilisierteren Zukunft für sich gewann. Dazu wirkten das französische Urheberrecht ebenso wie die Hoffnung auf wohldotierte Beraterposten, auf einen deutschen Schriftstellerkongress, auf eine zentrale deutsche Exzellenzuniversität in Jena. Der Imperator erschien als ein neuer Augustus, der mit dem Frieden auch eine moderne, europäische Kultur schaffen werde.
Im zweiten Teil verfolgt Seibt, wie das Erlebnis Napoleon in Goethe eine "enorme Produktivität" freisetzte. In allen seither erschienenen Werken des Dichters entdeckt er dessen Spuren - im Lebensroman "Dichtung und Wahrheit", der "in historiographischer Umschreibung lauter Fragen der späten napoleonischen Zeit" behandle (von der Kollaboration bis zum Problem historischer Größe), ebenso wie im "West-Östlichen Divan", dessen "Buch des Timur" mit einer makaber-heroischen Reminiszenz an 1812 beginnt und den Tod von tausend Rosen für Suleikas Parfüm mit der snobistischen Frage abtut: "Sollte jene Qual uns quälen, / Da sie unsere Lust vermehrt? / Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt?"
Die Zeitgenossen von 1819 mussten solche Elogen tief befremden. Doch je mehr der gestürzte, auf Sankt Helena sterbende Kaiser zum Hassobjekt gesinnungsstarker Patrioten und Politiker wurde, desto trotziger trug Goethe das Kreuz der Ehrenlegion, und desto hymnischer verklärte er den "gigantischen Helden unseres Säculums" zum strahlenden Gegenbild der Durchschnitts- und Massenmenschen seiner eigenen Gegenwart, zu einem "Erleuchteten", dessen Leben "das Schreiten eines Halbgottes von Sieg zu Sieg" gewesen sei. So machte Napoleon ihn zum kompromisslosen Ästhetizisten, zum geistigen Verbündeten radikaler Romantiker wie Stendhal, Byron, Manzoni oder Heine.
Das ist Seibts geheime Pointe: Politische Korrektheiten zu ignorieren ist produktiv. Er porträtiert Goethe als einen alten Mann, dessen Ideal von Moderne politisch inopportun wird, der sich aber weigert, es zu widerrufen, "umzudenken", sich dem Konsens der herrschenden Guten zu unterwerfen, der stattdessen alles daransetzt, die einmal gefasste Überzeugung immer neu zu durchdenken, zu gestalten, zu bestärken - bis aus einem scheinbar verlorenen Posten ein neuer, moderner geworden ist. So macht Seibt seine Leser zu Zeugen literarischer Erinnerungspolitik. Er führt ihnen vor, wie Goethe seine Begegnung mit Napoleon wieder und wieder neu gestaltete, wie er sie je nach Gesprächspartner (denn publizistisch schwieg er zeitlebens darüber) gezielt komponierte und akzentuierte, wie er den Eindruck lancierte, dass sich hier zwei Genies als wahlverwandt erkannt hätten. "Ja, ja, mein Guter", erfuhr 1828 der treue Eckermann, "man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um productiv zu sein, es gibt auch Produktivität der Taten. Da war Napoleon ein Kerl!"
Eben weil Goethe all seine Kunst aufwandte, eine Episode zur Sternstunde zu stilisieren, machte er sie wirklich dazu. Die Audienz bei Napoleon habe ihm, so hatte er schon 1808 gut Frankfurterisch formuliert, "gleichsam das Tippelchen auf das I gesetzt". Gustav Seibts eleganter Essay hat diesem i-Tüpfelchen klassische Form verliehen.
- Gustav Seibt: "Goethe und Napoleon". Eine historische Begegnung. Verlag C. H. Beck, München 2008. 288 S., 34 Abb., geb., 19,90 [Euro].
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Begegnung zweier Jahrhundertmenschen: Das Erlebnis Napoleon setzte in Goethe eine enorme Produktivität frei. In seinem historischen Essay schildert Gustav Seibt, warum die Begegnung mit dem Feldherrn für den Dichter von so großer Bedeutung war.
Von Gerrit Walther
Gespräche mit Napoleon waren keine. Entweder glichen sie Verhören oder Monologen. Die vielleicht berühmteste Ausnahme ereignete sich am 2. Oktober 1808 in Erfurt. Am Rande jener Gipfelkonferenz, durch die der Imperator seinen Sieg über die deutschen Fürsten und den russischen Zaren krönte, empfing er den Weimarer Minister Johann Wolfgang von Goethe. Legendär schon die Begrüßung: "Vous êtes un homme!", habe der Kaiser gesagt und den sechzigjährigen Dichter für sein blendendes Aussehen gelobt. Er habe mit ihm über den "Werther" gesprochen, den er erstaunlich genau kannte, und eine Unwahrscheinlichkeit darin kritisiert, die der Autor "mit einem vergnügten Lächeln" bestätigte. Dann habe er ihn über die französische Tragödie befragt ("Qu'en dit Mr. Göt?"). Ob sie nicht zu sehr von "Natur und Wahrheit" abweiche, dem Schicksal zu viel Einfluss beimesse? "Was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal."
Kunstvoll plaziert Gustav Seibt Goethes Erinnerungen an das Gespräch (den einzigen Zeugenbericht, den wir haben) genau in die Mitte seines Buches. Denn die Begegnung mit Napoleon, so lautet seine These, teilte Goethes Leben und Schaffen in ein Davor und ein Danach. So sehr wurde die Politik zum Schicksal des scheinbar apolitischen Olympiers.
Das Davor begann im September 1792 während der Schlacht von Valmy. Seibt beobachtet Goethe bei einem riskanten Selbstversuch: wie er kühn in den Kugelhagel hineinreitet, um das "Kanonenfieber" kennenzulernen, den Krieg als inneres Erlebnis zu erfahren. 1806 hingegen, bei der Besetzung Weimars nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt, geriet der Dichter unfreiwillig in Todesgefahr: Plündernde Soldaten drangen in sein Haus ein und bedrohten ihn mit blanker Waffe. Christiane Vulpius, seine Haushälterin, ging dazwischen. Das rettete ihn und gab ihm den Mut, die Mutter seines Sohnes endlich zu heiraten. So revolutionierte der Kaiser Goethes Leben, noch bevor sie einander kennenlernten.
Spätestens jetzt aber, da Weimars Schicksal ganz von dessen Gunst abhing, bekam Goethe Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen. Er unterhielt sich mit den napoleonischen Generälen, die im Haus am Frauenplan logierten, mit Rheinbund-Politikern wie Karl Friedrich Reinhard, gewiss auch mit Wieland, dem scharfsichtigen Revolutionsbeobachter. Er rezensierte und übersetzte Werke des Historikers und Napoleon-Enthusiasten Johannes von Müller. Kundig entwickelt Gustav Seibt all diese Beziehungen und Reflexionen. Dann führt er seine Leser auf den Erfurter Fürstentag von 1808, macht sie mit dessen Teilnehmern bekannt und erzählt all die großen und kleinen Episoden, die diese "exzeßhafte Feier" zu einem spektakulären europäischen Ereignis werden ließen - vom Verrat des französischen Außenministers Talleyrand bis zu den Brillantknöpfen, durch die Talma, der Prinzipal der aus Paris angereisten, allabendlich auftretenden Staatsschauspieltruppe, im Hause Goethe auffiel.
Erst vor diesem Hintergrund gewinnt das Gespräch mit Napoleon historische Tiefe. Goethe nämlich war nur der prominenteste unter den deutschen Intellektuellen, die der Kaiser durch die Verheißung einer besseren, zivilisierteren Zukunft für sich gewann. Dazu wirkten das französische Urheberrecht ebenso wie die Hoffnung auf wohldotierte Beraterposten, auf einen deutschen Schriftstellerkongress, auf eine zentrale deutsche Exzellenzuniversität in Jena. Der Imperator erschien als ein neuer Augustus, der mit dem Frieden auch eine moderne, europäische Kultur schaffen werde.
Im zweiten Teil verfolgt Seibt, wie das Erlebnis Napoleon in Goethe eine "enorme Produktivität" freisetzte. In allen seither erschienenen Werken des Dichters entdeckt er dessen Spuren - im Lebensroman "Dichtung und Wahrheit", der "in historiographischer Umschreibung lauter Fragen der späten napoleonischen Zeit" behandle (von der Kollaboration bis zum Problem historischer Größe), ebenso wie im "West-Östlichen Divan", dessen "Buch des Timur" mit einer makaber-heroischen Reminiszenz an 1812 beginnt und den Tod von tausend Rosen für Suleikas Parfüm mit der snobistischen Frage abtut: "Sollte jene Qual uns quälen, / Da sie unsere Lust vermehrt? / Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt?"
Die Zeitgenossen von 1819 mussten solche Elogen tief befremden. Doch je mehr der gestürzte, auf Sankt Helena sterbende Kaiser zum Hassobjekt gesinnungsstarker Patrioten und Politiker wurde, desto trotziger trug Goethe das Kreuz der Ehrenlegion, und desto hymnischer verklärte er den "gigantischen Helden unseres Säculums" zum strahlenden Gegenbild der Durchschnitts- und Massenmenschen seiner eigenen Gegenwart, zu einem "Erleuchteten", dessen Leben "das Schreiten eines Halbgottes von Sieg zu Sieg" gewesen sei. So machte Napoleon ihn zum kompromisslosen Ästhetizisten, zum geistigen Verbündeten radikaler Romantiker wie Stendhal, Byron, Manzoni oder Heine.
Das ist Seibts geheime Pointe: Politische Korrektheiten zu ignorieren ist produktiv. Er porträtiert Goethe als einen alten Mann, dessen Ideal von Moderne politisch inopportun wird, der sich aber weigert, es zu widerrufen, "umzudenken", sich dem Konsens der herrschenden Guten zu unterwerfen, der stattdessen alles daransetzt, die einmal gefasste Überzeugung immer neu zu durchdenken, zu gestalten, zu bestärken - bis aus einem scheinbar verlorenen Posten ein neuer, moderner geworden ist. So macht Seibt seine Leser zu Zeugen literarischer Erinnerungspolitik. Er führt ihnen vor, wie Goethe seine Begegnung mit Napoleon wieder und wieder neu gestaltete, wie er sie je nach Gesprächspartner (denn publizistisch schwieg er zeitlebens darüber) gezielt komponierte und akzentuierte, wie er den Eindruck lancierte, dass sich hier zwei Genies als wahlverwandt erkannt hätten. "Ja, ja, mein Guter", erfuhr 1828 der treue Eckermann, "man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um productiv zu sein, es gibt auch Produktivität der Taten. Da war Napoleon ein Kerl!"
Eben weil Goethe all seine Kunst aufwandte, eine Episode zur Sternstunde zu stilisieren, machte er sie wirklich dazu. Die Audienz bei Napoleon habe ihm, so hatte er schon 1808 gut Frankfurterisch formuliert, "gleichsam das Tippelchen auf das I gesetzt". Gustav Seibts eleganter Essay hat diesem i-Tüpfelchen klassische Form verliehen.
- Gustav Seibt: "Goethe und Napoleon". Eine historische Begegnung. Verlag C. H. Beck, München 2008. 288 S., 34 Abb., geb., 19,90 [Euro].
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